Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1529–1531

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Dreier, Horst

Titel/Untertitel:

Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates. M. Kommentaren v. Ch. Hillgruber u. U. Volkmann.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XIII, 151 S. = Fundamenta Juris Publici, 2. Kart. EUR 14,00. ISBN 978-3-16-152962-7.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

»Steckt im vermeintlich säkularen, modernen Staat vielleicht un­weigerlich und unausweichlich ein religiöser Kern, eine sakrale Substanz? Wurzelt das Säkulare letztlich unvermeidlich im Sakralen?« (11) Mit dieser systematischen und grundsätzlichen Frage setzt Horst Dreier in seiner Studie in der Schriftenreihe »Fundamenta Juris Publici (FJP)« des sich jüngst gegründet habenden Gesprächskreises zu »Grundlagen des Öffentlichen Rechts« ein, um die Frage der säkularen Ordnung des modernen Verfassungsstaates genauer unter die Lupe zu nehmen. Die von Max Weber heraufbeschworene Entzauberung der Moderne entpuppt sich als einseitig und nicht nur F. W. Grafs Diagnose von der Wiederkehr der Götter und Habermas’ viel zitierte Rede in der Paulskirche werfen die Debatte einer möglichen Transzendenzdimension auch des Säkularen auf. Diese ist angeregt durch die seit geraumer Zeit die öffentliche Diskussion beherrschende Frage nach der Wiederkehr der Religion, die es erforderlich macht, die Säkularisierung in ihrer Ambivalenz und ihrer Zweigleisigkeit wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Überlegungen D.s zu den sakralen Be­ziehungen des modernen säkularen Verfassungsstaats zu sehen. Er wendet sich gegen das Credo Carl Schmitts, dass ohne Bündnis von Herrschaft und Transzendenz die politische Ordnung degenerieren würde. Vielmehr setzt er dagegen, »dass nur der Verzicht auf ein solches Bündnis dem pluralen freiheitlichen Verfassungsstaat eine stabile Basis zu verleihen vermag« (78).
In Anbetracht der Vielfalt und Vieldeutigkeit des Säkularisierungsverständnisses konzentriert sich D. für den Zweck seiner Untersuchung auf die soziologische Bestimmung der Säkularisierung als Ausdruck des modernen Prozesses zunehmender Ausdifferenzierung und Autonomisierung sozialer Systeme und Subsys­teme, namentlich der Loslösung der Religion von der Politik. Auch wenn es im Zuge der Säkularisierung zur Trennung von Staat und Kirche gekommen sei und diese zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats geführt habe, sei damit noch nichts über die Bedeutung des Religiösen für den Staat entschieden. Denn »aus dem Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität folgt keineswegs die inhaltliche Wertungsaskese rechtlicher Normen, wohl aber die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer säkularen Begründung« (33). Allerdings stellt sich die Frage, in welcher Zuordnung die gewährte Religionsfreiheit auf der einen und die Fundamente des Staates und der Verfassung auf der anderen Seite auf eine vorrechtliche, quasi transzendente Dimension auch des modernen Verfassungsstaats verweisen, auf die sein Zusammenhalt gründet. In einem dritten Abschnitt untersucht D. daher in Bezug auf vier Aspekte, ob man von sakralen Elementen im säkularen Staat ausgehen kann. Zunächst untersucht er die These der Prägekraft des christlichen Rechtserbes. Sodann wendet er sich der Widerlegung der Aussage Carl Schmitts zu, dass alle prägnanten staatstheore-tischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe seien (62 f.), wobei er Herkunftsbehauptungen der säkularen Begriffe im Sakralen und Strukturanalogien der Wirksamkeit solcher unterscheidet. Für beide aber sieht er den Boden belastbarer Begründungen verlassen. Dreh- und Angelpunkt von D.s Kritik der These Schmitts ist in Anlehnung an Hans Blumenberg fundamentaler Art. Das Deu tungsproblem der Neuzeit und ihrer Legitimität erfordert eine Heranziehung der mentalitätsgeschichtlichen Bestimmung der Säkularisierung unter Bezug auf die Deutungen Webers und Troeltschs. Mit Blumenberg kritisiert D. die Einschätzung der Säkularisierung als defizitäre »Kategorie historischer Illegitimität« (70). Weder Ablösung noch Umformung, sondern allein Substitution sei die angemessene Kategorie der Wahrnehmung der Säkularisierung (73 f.). Der dritte Aspekt betrifft den möglichen christlichen Hintergrund des Menschenwürdegedankens, der zum vierten As­pekt der besonderen »Zwitterstellung« der Zivilreligion unter dem Gesichtspunkt der Verschränkung von Sakralem und Sozialpolitischem hinüber weist. Auch wenn der Artikel der Menschenwürde als eine Art »zivilreligiöser« Glaubensartikel bezeichnet wird (89), könne eine retardierende Rolle der christlichen Lehren gegenüber dem Gedanken von Menschenrechten und Menschenwürde (86) kaum geleugnet werden. Jedoch wird der zivilreligiöse Charakter der Menschenwürde in Auseinandersetzung mit Rousseaus und Ro­bert Bellahs unterschiedlichem Verständnis von Zivilreligion als nicht weiterführend abgelehnt. Dies gilt auch für den von Joas in Anlehnung an Emile Durkheim lancierten Begriff der »Sakralität der Person« (103), in deren Etablierung in der Rechtssphäre D. nahezu blasphemische Züge entdecken möchte (106). Die Sakralitätsidee passe weder in den grundrechtlichen noch in den politischen Be­reich. – D. scheut die reflektierte, kritische, differenzierte und komplexe Auseinandersetzung nicht. Ein lesenswertes Buch ist diese Studie nicht nur für Juristen, sondern gerade auch für Theologinnen und Theologen.
So sehr D. die aufgeklärte Neutralität des Staates und die Ge­währung der Toleranz für das Recht hervorhebt, so sehr scheint mir die Faktizität der in Art 1. GG zum Tragen kommenden Verschränkung von transzendentem, vorpositivem Recht und immanentem, positivem Recht nicht hinreichend in seiner tragenden Bedeutung für das Zusammenleben erkannt zu werden. Die säkulare Begründung kommt da an ihre Grenze, wo mit der Menschenwürde der unverfügbare und unantastbare Bereich dessen, was die Person auszeichnet, erscheint, der weder rational vom Menschen gesetzt noch konsensual vereinbart, sondern nur entdeckt werden kann. Darauf verweist Art. 1 GG gerade in der transzendenten Of­fenheit der inhaltlichen Bestimmung der »nichtinterpretierten Formel« (Th. Heuss) hin. Platzhalter für verschiedene religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und so pluralismusfähig kann sie gerade darum sein, weil sie je einer Konkretisierung be­darf. Säkularisierung und Sakralität wären zu unterscheiden und auch zu trennen. Für den Menschen in seiner Würde als Person blieben sie gleichwohl aufeinander bezogen. In den zwei Kommentaren zu den Ausführungen D.s wird dies auch in unterschiedlicher Weise jeweils kritisch von Christian Hillgruber und Uwe Volkmann festgehalten.