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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1513–1516

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Werkner, Ines-Jaqueline, u. Antonius Liedhegener [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gerechter Krieg – gerechter Frieden. Religionen und friedensethische Legitimationen in aktuellen militärischen Konflikten.

Verlag:

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009. 397 S. = Politik und Religion. Kart. EUR 47,99. ISBN 978-3-531-16989-7.

Rezensent:

Wolfgang Lienemann

Das Buch ist hervorgegangen aus der Jahrestagung 2008 des Arbeitskreises »Politik und Religion« der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft. (Zum Arbeitskreis und seinen bishe-rigen Publikationen seit 2001 siehe: http://www.dvpw.de/gliederung/ak/politik-und-religion/homepage.html.) Es umfasst fünf Teile: In Teil I werden Positionen und Probleme der ideengeschichtlichen Anfänge der Bellum iustum-Lehre behandelt (Cicero, Augustinus, Thomas v. Aquin). In Teil II geht es um aktuelle theoretische Diskussionen zu Verständnissen und Begriffen eines »gerechten Krieges«. Teil III gilt dem Leitbild des »gerechten Friedens« – mit einem Fragezeichen – im Blick auf die aktuellen friedensethischen Positionen in der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Balkan-Kriege und der dortigen Kirchen in den 1990er Jahren. Der umfangreichste Teil IV weitet anhand einiger Beispiele den Blickwinkel auf die ethische »Legitimierung militärischer Gewalt in anderen Religionen«. In Teil V wird eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Gesamtthema über »Religion(en) als Chance und Problem aktueller Friedensstrategien« dokumentiert.
Buchtitel und Gliederung lassen erkennen, dass zwei unterscheidbare Problemkomplexe verbunden sind: Gestalten religiöser und ethischer Gewaltlegitimation einerseits, die Bedeutung der Berufung auf Traditionen eines »gerechten« oder »rechtmäßigen« Krieges (bellum iustum) andererseits. Die Autorinnen und Autoren sowie die Disputanten sind größtenteils Theologen, Philosophen, Sozial- und Religionswissenschaftler. Die Stimme des Völkerrechts fehlt hingegen. Im Folgenden hebe ich diejenigen Beiträge hervor, die in meinen Augen historisch, zeitgeschichtlich und/oder systematisch entweder innovativ oder diskussionsbedürftig sind.
Angesichts der inzwischen überaus zahlreichen Untersuchungen zur Geschichte eines bellum iustum könnte man meinen, dass längst alles für heutige Diskurse Notwendige gesagt ist. G. Beestermöller, der 1990 eine luzide Dissertation zur thomasischen Kriegslehre vorgelegt hat, interpretiert nun die Schlüsselstellen aus Thomas von Aquins Summa Theologica dahingehend, dass sie »in ihrer Sinnspitze eine Interventionsethik […] in den ordnungspolitischen Kategorien seiner Zeit« darstellen (43). Es sind mithin erstens aktuelle Herausforderungen, die zu dieser sorgfältigen Re-Lektüre des Thomas führen, sodann die Einsicht, dass man in mittelalterliche Texte nicht neuzeitliche Kategorien wie die des Staates hineinlesen darf, und schließlich die Tatsache, dass die dama-ligen Adressaten, christliche Fürsten, unter der Autorität der geistlichen Gewalt mit dem Papst an der Spitze standen. Wie aber kann dann ein Text des 13. Jh.s zur Orientierung im 21. Jh. hilfreich sein? Beestermöller lädt dazu zu dem »Gedankenspiel« ein, »im Denken des Aquinaten den christlichen Glauben durch die Menschenrechtsidee« zu ersetzen (65). Der Beitrag endet mit offenen Fragen.
Offen, ja kontrovers sind auch in mehreren anderen Texten die Verständnisse, Einwände und Apologien hinsichtlich der Bellum iustum-Traditionen. Während M. Haspel die heutigen Kritiker dieser Lehre kritisiert, hingegen die neuere »Just War-Theorie« vor allem im US-amerikanischen Kontext schätzt und daran anknüpfend für eine erneuerte »Lehre vom gerechten Krieg im Rahmen einer Ethik der internationalen Beziehungen« (77) plädiert, argumentiert O. Hidalgo dahingehend, dass es unmöglich sei, mithilfe der Theorie eines »gerechten Krieges« einen »objektiven Maßstab« für menschliches Handeln zu finden: »Wer Krieg führt, weil er sich aus bestimmten Gründen dazu gezwungen sieht, für den kann es niemals die Gewißheit geben, das moralisch Richtige und ethisch Gebotene zu tun.« (85) Daher ist sein Beitrag insgesamt ein »agnos­tizistisches Plädoyer«, weil »jeder Krieg das Leben Unschuldiger fordert (und selbst die Tötung von Schuldigen ethisch kaum zu rechtfertigen ist)« (102). Dies klingt sehr nach unausweichlicher »Schuldverstrickung« (D. Bonhoeffer), insofern jeder, der militärisch interveniert, wissen soll, »in jedem Fall moralische Schuld auf sich zu laden« (101). Ob diese Ansicht wirklich haltbar ist? Ganz anders fällt wiederum die Diskussion einiger neuerer Positionen zum ius in bello bei B. Koch aus, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit Überlegungen von Jeff McMahan (Rutgers University) steht. Dieser hat seit Jahren eine streng individualethische Sicht des Tötens (im Kriege) zwischen Recht und Moral entwickelt, bei der die individuelle Selbstverteidigung genau so behandelt wird wie die kollektive Selbstverteidigung im Krieg – unter weit-gehender Absehung von allen (völker-)rechtlichen Rahmenbedingungen und Standards und ohne Einbeziehung kollektiver staatlicher und/oder supranationaler Akteure. Diese und andere Auffassungen lassen erkennen, dass es derzeit schon bei den Prämissen der verschiedenen Konzepte von »gerechten Kriegen« enorme Verständigungsschwierigkeiten gibt.
Etwas eigenartig ist, dass in Teil III zwar die Denkschrift der EKD von 2007 »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« gleich in zwei Beiträgen gewürdigt wird, die etwas frühere Stellungnahme der deutschen römisch-katholischen Bischöfe »Ge­rechter Friede« aus dem Jahr 2000 jedoch nicht eigens erörtert wird, obwohl mehrfach und ganz zu Recht in diesem Buch darauf hingewiesen wird, dass diese beiden offiziellen Stellungnahmen in we­sentlichen Grundlagen, Argumentationen und Konkretisierungen übereinstimmen – eine gar nicht zu überschätzende theologisch-friedensethische Konvergenz.
E. Senghaas-Knoblochs sorgfältige »Einführung« in die EKD-Denkschrift stellt einerseits zutreffend die Ablehnung der traditionellen Konzepte des »gerechten Krieges«, andererseits die Überlegungen zur Berechtigung und zur Begrenzung eines »rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauchs« heraus (141), d. h. die zentrale Aussage, dass »die Doktrin des gerechten Krieges abgelehnt und die rechtserhaltende Gewalt für den Grenzfall thematisiert wird«, wie es D. Senghaas in der abschließenden Diskussion unterstrichen hat (376). Chr. Polke rückt die Denkschrift in den weiteren Zusammenhang der Frage, ob und wie es möglich ist, starke, oft als letztgültig angesehene und zumindest teilweise antagonistische religiöse Überzeugungen und ihre ungehinderte öffentliche Artikulation mit den Bedingungen und Gestalten eines rechtlich geordneten Gemeinwesens und einer Völkerrechtsgemeinschaft zu vereinbaren. Antwort: »Zur religiösen Friedensbereitschaft gehört […] die harte Schule der Erduldung (Toleranz) falscher Meinungen bei gleichzeitiger Anerkennung der Würde und der Rechte der diese Ansichten vertretenden Position.« (157) Polke zeigt zudem, aus welchen fundamentaltheologischen Einsichten diese Position der gewaltfreien Anerkennung pluraler Letztgewissheiten ihre Begründungen entwickeln kann. Er spricht es nicht aus, aber es liegt auf der Hand, dass eine solche Position für viele Moslems inakzeptabel ist, wie sich beispielhaft an ihrer Verurteilung religiöser Konversionen zeigen lässt. Dieselbe Orientierung an rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien leitet im Übrigen auch die relativ wenigen, aber klaren Konsequenzen, die in den kirchlichen Dokumenten im Blick auf die Aufgaben der Terrorbekämpfung gezogen werden ( M. Hörter): Es kann nicht um einen war against terrorism gehen, sondern entscheidend ist, mit den legalen Mitteln des Rechtsstaates und den noch überaus entwicklungsbedürftigen Instrumenten eines internationalen Strafrechts terroristische Verbrechen aufzudecken und zu ahnden, wissend, »dass die Anwendung von Gewalt gegenüber Terroristen den Verzicht auf die rechtsstaatlichen Prinzipien nicht rechtfertigen kann« (Johannes Paul II., Weltfriedenstag 2004).
Die Studien, die dem Islam, Judentum, Konfuzianismus, Hinduismus und Buddhismus gelten, können jeweils nur Ausschnitte aus einem viel zu weiten Themenfeld erfassen. St. Rosiny bezieht das Verständnis des jihad im Islam einerseits auf die Entstehungsgeschichte der Texte und die politischen Ereignisse in der Zeit Mohammeds, andererseits auf die heute möglichen differenzierten Bezugnahmen darauf. Ähnlich arbeitet M. Ingber, früher Berufsoffizier der israelischen Armee, heraus, wie komplex die Auffassung des Krieges in Thora und Halacha ist und welche unterschiedlichen bis gegensätzlichen Anknüpfungspunkte daran im heutigen Nahostkonflikt relevant sind. Die Beiträge zu asiatischen Gewaltauffassungen und ihren Legitimationen lassen die großen interkulturellen Verstehensschwierigkeiten ansatzweise erkennen. Die Studie von A. Dörfler-Dierken zeigt das eindrücklich am Beispiel der Samurai.
Etwas aus dem Rahmen fällt in diesem Teil der Beitrag zum »Friedensbegriff im antiken Israel« (M. Henkel). Dass diesem alttestamentlichen Beitrag nicht wenigstens eine kleine Studie zum neutestamentlichen Friedensverständnis zugeordnet ist, berührt merkwürdig, denn man kann die heutige ökumenische Friedensethik der christlichen Kirchen gewiss nicht verstehen ohne die Bergpredigt und ihre Auslegungs- und Wirkungsgeschichte.
Der Versuch, vor diesem Hintergrund »Aspekte religiös legitimierter Kriege in vergleichender Perspektive« darzustellen (H.-M. Haussig), ist ambitioniert, viel zu kurz (von den zwölf Seiten gelten allein fünf den Vorbemerkungen) und geht leider auf die übrigen Tagungsbeiträge und die dort berührten militärischen Konflikte mit keinem Wort ein. Die pauschale Behauptung am Ende, dass das Christentum »keine Konzeption eines religiös legitimierten Krieges ausgebildet hat« (358), ist mehr als erstaunlich.
Ein Tagungsband kann nicht die Ergebnisse eines elaborierten Forschungsprojektes präsentieren, sondern lediglich Bausteine zu einer Fragestellung, die auf Ergänzungen und Präzisierungen an­gelegt sind. Neben der schon erwähnten Abwesenheit (mindestens) eines völkerrechtlichen Beitrages sind weitere Defizite unübersehbar: Obwohl, erstens, gelegentlich und stets nur beiläufig auf Kant, Rawls oder Habermas verwiesen wird, fehlt eine eingehende philosophische, insbesondere rechtsphilosophische Diskussion. Zweitens wird öfters erwähnt, dass die just war theories in der angelsächsischen Welt durch teilweise ganz andere geschichtliche Erfahrungen, politische Mentalitäten, ethische Diskurse und kulturell geprägte Hintergrundüberzeugungen geprägt sind als die kontinentaleuropäischen Positionen, aber diese wichtigen Differenzen und ihre Ursprünge werden nicht weiter analysiert. Drittens und vor allem ist es leider weder den Herausgebern noch den Autoren gelungen, Gehalt, Bedeutung, Funktion und aktuellen Gebrauch der Lehren von einem »gerechten Krieg« näher zu klären. Handelt es sich um einen (völker-)rechtlichen oder einen ethischen Begriff? Geht es um einen (völker-)rechtmäßigen, einen – mit welchen rechtlichen oder moralischen Gründen immer – gerechtfertigten oder einen gerechten Krieg? Und was bedeutet es, dass im modernen Völkerrecht auf der Basis der UN-Charta und zahlreicher einschlägiger Konventionen und Resolutionen nicht mehr von Krieg, sondern nur noch von einem Recht auf auch militärische Selbstverteidigung die Rede ist? Haspel ist der Meinung, dass man, wenn man militärische Aktionen nicht mit dem Namen »Krieg« belegt, eine »Namensmystik« betreibe oder »begriffsmagischem Denken« (B. Merker) verfallen sei (75). Zwar lässt er offen, wen ge­nau er mit dieser Kritik meint, aber seine Anmerkungen zur Position von J. Delbrück lassen erkennen, dass er einer wirksamen Kriegsächtung durch einen Prozess der Verrechtlichung der inter­na­tionalen Beziehungen bis hin zu einem Gewalt(legitimations)monopol der UN misstraut, ja, solchen Auffassungen einen »deutschen Diskursseparatismus« bescheinigt (74).
In dieser Hinsicht ist dagegen die EKD-Denkschrift zukunftsweisend: Sie leugnet nicht, dass um der Durchsetzung des Rechtes willen auf dem Boden eines weiter in Richtung auf universale Anerkennung zu entwickelnden Völkerrechtes im äußersten Notfall auch der Einsatz militärischer Gewalt, die ans Recht gebunden und durch Recht begrenzt sein muss, notwendig und legal sein kann. Sie bestreitet aber entschieden, dass unilaterale, nicht dem Völkerrecht ein- und untergeordnete militärische Aktionen unter dem Titel eines »ge­rechten Krieges« noch als rechtmäßig oder gerecht gelten können.