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Ausgabe: | Dezember/2014 |
Spalte: | 1507–1509 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Schoberth, Ingrid [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Urteilen lernen. Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 302 S. m. 5 Abb. Kart. EUR 28,95. ISBN 978-3-525-70202-4. |
Rezensent: | Frank Mathwig |
Unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses in Jerusalem warf Hannah Arendt die Frage auf, ob die menschliche Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Richtigem und Falschem nicht weniger mit psychischen oder charakterlichen Merkmalen von Personen und vielmehr mit ihrem Denkvermögen zusammenhänge. Die im Untertitel ihres Eichmann-Buches behauptete These von der »Banalität des Bösen« stieß auf heftige Kritik. Weit weniger kontrovers dürfte dagegen die Unhaltbarkeit der rettenden Gegenthese von der Banalität des Guten sein, die auf ein gewagtes ontologisches und naturrechtliches Fundament angewiesen wäre. Die Ethik ist bescheiden geworden, nicht zuletzt mit ihrer Rehabilitierung der praktischen Urteilskraft in Gestalt des neuen Paradigmas der Angewandten Ethik. Die Not des Urteilen- und Entscheiden-Müssens angesichts ständig wachsender technologischer Handlungsoptionen ersetzte zunehmend die Tugend ethischer B egründungsbemühungen. Damit geht eine entscheidende Perspektivenverschiebung einher: Das ethische Subjekt steht nicht mehr räsonierend über den Dingen, sondern ist – im günstigen Fall selbst-reflektierend – Teil der Lage.
Sich im Denken orientieren kann mit Werner Stegmaier als ein Oszillieren zwischen Analyse und Orientierung beschrieben werden. Weil man Orientierung sowohl ›haben‹ als auch ›geben‹ geben kann, bietet es sich an, auch ethisches Urteilen als eine lernbare und deshalb lehrbare Praxis konkreten Sich-Orientierens aufzufassen. Dabei wird vorausgesetzt, dass jedes aktive Sich-Orientieren im Raum eines immer schon vorgefundenen Orientiert-Seins stattfindet, das – wie mit der passiven Formulierung angezeigt wird – als vorreflexiv und intuitiv, im Sinne eine Spiegelung vorgängiger Internalisierungspro zesse bestimmt werden kann. Beim Urteilen-Lernen geht es also nicht nur um lehrbare Urteilskompetenzen, sondern ebenso um die Reflexion faktischer Urteilsprozeduren und -resultate.
Der überaus komplexen Praxis des Urteilens widmen sich die 19 Beiträge des Sammelbandes, in dem die ersten Ergebnisse der von 2010 bis 2014 unter Federführung des Lehrstuhls für Praktische Theologie/Religionspädagogik der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg stattfindenden Tagungsreihe publiziert werden. Im Zentrum steht die Frage nach der Exploration von Praktiken der Einübung in Urteilskompetenz unter besonderer Berücksichtigung biblischer Erzähltraditionen.
Die Beiträge sind in fünf Teile gegliedert. Nach zwei einleitenden Beiträgen von der Herausgeberin Ingrid Schoberth und Manfred Lautenschläger befassen sich die vier Texte im folgenden Grundlagenteil (Ingrid Schoberth, Hans Günther Ulrich, Peter Dabrock, Jo-sef Wohlmuth) mit der Reflexion des Titelthemas »Urteilen lernen« als ethischer und moralpädagogischer Kategorie. Im zweiten Teil geht es unter Aufnahme der theologischen Zentralbegriffe von Schuld und Vergebung um die Wirklichkeit des Urteils. Die vier Beiträge (Daniel Krochmalnik, Urs Espeel, Bernd Wannenwetsch, Ursula Kern) beschäftigen sich aus biblisch-theologischer, ekklesiologischer und rechtsethischer Perspektive mit der von Heinz-Eduard Tödt im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer betonten Einsicht, dass im Urteilen der Urteilende selbst auf dem Spiel steht. Der mit acht Texten (Wolfgang Leyk, Daniel Krochmalnik, Marion Eichelsdörfer, Marco Hofheinz, Ingrid Schoberth, Ina Schaede, Gerhard Dennecker) umfangreichste dritte Teil geht beispielhaft konkreten Praktiken des Urteilen-Lernens nach. In den zwei Reflexionen zur Wirtschaftsethik, fünf Konkretionen religionspädagogischer und religionsdidaktischer Zusammenhänge und einem rechtsethischen Beitrag rücken das Konzept der Narrativen Ethik und seine Bedeutung für die Ausbildung ethischer Urteilsfähigkeit im Erziehungs- und Bildungskontext ins Zentrum. Im abschließenden Teil rückt Wolfgang Schoberth die zuvor behandelten Perspektiven und Konkretionen zusammenfassend in eine systematische Perspektive auf das ethische Lernen.
Ethisches Lernen zielt im Kern nicht auf »die Vermittlung von basalen Kulturtechniken, propädeutischer Wissenschaftsmethodologie oder von Grundkenntnissen eines Wissenskanons«, sondern auf »eine Veränderung und Konsolidierung von Moral« (292). Urteilen bedeutet nichts weniger, als sich selbst in diesem Urteil zu finden, anders formuliert, sich nicht nur mit dem eigenen Urteil zu identifizieren, sondern sich in diesem Urteil als moralisches Subjekt zu begegnen. Weil Subjekte im Urteilen – in doppelter Hinsicht – zu sich selbst kommen, das Urteilen-Lernen also auf die Identität der und des Urteilenden ausgerichtet ist, steht das Urteilen-Lehren eigentümlich quer in der institutionalisierten pädagogisch-didaktischen Landschaft. Denn was immer schon geschieht – die Moral hinter dem Rücken der Urteilenden und Handelnden –, wird in Vorgängen des Urteilen-Lernens zum Gegenstand jenes oszillierenden Prozesses von Analyse und Orientierung. Es geht also um die Urteilenden selbst, die sich nicht nur analysieren, sondern als Urteilende kennen-, begreifen und beurteilen lernen.
Urteilen-Lernen erweist sich damit als ein anspruchsvolles Programm, ungleich komplexer als viele aktuelle bereichsethische Konzepte nahelegen. Ethische Urteilspraxis geht nicht in Verfahren pragmatischer Entscheidungsfindung auf. Vor diesem Hintergrund bieten die Beiträge des Sammelbandes auch eine überzeugende Kritik an systemfunktionalen Ermäßigungsversuchungen in der Ethik. Das Handlungssubjekt lässt sich nicht funktional herausdividieren, weil mit ihrem Adressaten die Ethik selbst verabschiedet würde: die urteilende, entscheidende und handelnde Person, deren Integrität im Handeln auf dem Spiel steht. Die bi- blisch-theologische Pointe des Urteilen-Lernens besteht in der reformatorischen Betonung der exzentrischen Konstituierung personaler Identität. Das Subjekt stellt seine Integrität nicht handelnd her, sondern entdeckt diese resp. sich in dem durch eine übergreifende story konstituierten Handlungsraum. Entsprechend expliziert Marco Hofheinz im Anschluss an Dietrich Ritschl und Stanley Hauerwas die biblische »story Jesu Christi als Bildungsgegenstand« (222), das heißt als Wirklichkeitsraum, in dem sich das Handlungssubjekt verortet erfährt. Und Peter Dabrock spricht in Weiterführung einer These Wolfgang Lienemanns von der Bibel »als Begründungs-, Entdeckungs- und Bewährungsraum« (67) für das theologisch-ethische Urteilen. Anstelle einer vorschnellen affirmativen Moralisierung gehe es bei der Konfrontation mit biblischen Texten um die Wahrnehmung des eigenen Befremdens, die es in jener »dialektischen Grundsituation, ›diesseits und jenseits der Worte‹« ermöglicht, »das Wort in den Wörtern zu suchen« (67 f.).
Das Verständnis von Urteilen-Lernen als komplexe Bildungsprozesse hat eine eminent kritische Pointe. Es richtet sich sowohl gegen einen strategisch reduzierten Bildungsbegriff als auch gegen die beliebte aber folgenlose Forderung nach Werteerziehung. Reflexive Urteilsfähigkeit ist keine lehrbare Technik und Werte fallen nicht einfach vom Himmel oder lassen sich von oben dekretieren. In diesem Sinne bietet der Sammelband aus unterschiedlichen Perspektiven auch instruktive Anstöße gegen den verbreiteten Reduktionismus in der Ethik als willkommene, moralisch angereicherte Legitimationsressource.