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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1502–1504

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Söder, Joachim, u. Hubertus Schönemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wohin ist Gott?Gott erfahren im säkularen Zeitalter.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2013. 284 S. = Theologie im Dialog, 10. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-451-30745-4.

Rezensent:

Michael Roth

Vom 29. Mai bis 1. Juni 2012 fand auf Anregung von Erzbischof Robert Zollitsch unter dem Titel »Wohin ist Gott? Gott erfahren im säkularen Zeitalter« ein wissenschaftlicher Kongress statt, der die anthropologischen und theologischen Herausforderungen reflektierte, vor die die gegenwärtige Situation das religiöse Denken und die religiöse Praxis stellt. Zwei Fragen standen im Zentrum der Tagung: »Wie kann der Mensch des ›säkularen Zeitalters‹ Erfahrungen der Transzendenz […] machen, wo scheinbar nur rein innerweltliche Deutungskategorien zur Verfügung stehen? Und wie kann theologisch verantwortete Glaubensverkündung […] ge­schehen, wo sie die Existenzbedingungen spätmoderner Menschen ernst nimmt?« (12) Die Aufsatzsammlung dokumentiert die Beiträge, die im Rahmen des Kongresses gehalten wurden.
Die Einleitung (9–13) macht auf das verbindende Interesse aufmerksam: Weder gehe es den Beiträgen um einen bloßen Widerspruch zu dem säkularen Zeitalter noch darum, vorschnell der »These von der Wiederkehr der Religion oder der ›Wiederkehr der Götter‹ zu verfallen«, sondern darum, die Herausforderungen zu bedenken, die sich »durch die Entdeckung des Religiösen im ›weltlichen Gewande‹« (10) ergeben. Diese Sichtweise ermögliche, »einerseits Veränderungen und Abbruchprozesse zu beschreiben, was die herkömmlichen Formate und Plausibilitäten tradierter Religionsausübung betrifft, gleichzeitig jedoch für neue und veränderte Formate und Bezeugungsgestalten von Glaube und Religion offen zu werden« (10 f.).
Ludger Honnefelder (31–48) fragt – in Auseinandersetzung mit William James, Ludwig Wittgenstein, Friedrich Schleiermacher, Karl Rahner, Charles Taylor und Jürgen Habermas – nach einer »Religion in der Moderne«. In der Moderne verschwinde Religion nicht einfach, sondern sei ein Weg der Selbstaufklärung des sich in der Kontingenz seines Weltumgangs bewusst gewordenen Menschen (vgl. 45). Religion könne sich daher in dem Maß reflexiv legitimieren, »in dem sie sich zu der konstitutiven Funktion der Religion für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis in eine Beziehung zu setzen vermag« (48).
Im Anschluss an Charles Taylor diagnostiziert Joachim Söder (14–30) in der neuzeitlichen Säkularität eine Unfähigkeit, »unsere ureigenen moralischen und spirituellen Bedürfnisse zu artikulieren« (27). Auf die Frage, ob unter den Bedingungen der neuzeitlichen Säkularität noch »lebendige Transzendenzerfahrungen« gemacht werden können, weist Söder mit Taylor auf das »Erleben ungeschuldeter Liebe«; die Erfahrung des Lebens, welches »mehr ist als ein biochemischer Stoffwechselprozess« (29), und schließlich auf eine »Transzendenzerfahrung Gottes als jene erhoffte vollkommene und unüberbietbare Erfüllung, die über alle innerweltlichen Sinnstrukturen hinausweist« (30). Im Unterschied zu Söder betont Hubertus Brantzen (150–182), dass sich der »Markt für Trans­zendenzerfahrung« (160) geweitet hat, und verweist auf die große Zahl der Bücher, »die, völlig ungehemmt und an Lebensbeispielen verdeutlicht, zur Transzendenzerfahrung jeglicher Art anregen« (161). An dieser Stelle wäre eine kontroverse Diskussion der These des Verlusts einer Transzendenzerfahrung wünschenswert gewesen, nicht zuletzt auch, um die Rede von Transzendenzerfahrungen zu konturieren und zu profilieren. Auch wenn die Rede von Transzen denzerfahrung mittlerweile (wieder) selbstverständlich zu sein scheint, ist nach Auffassung des Rezensenten doch erklärungsbedürftig, wie das Transzendente überhaupt zum Gegenstand menschlicher Erfahrungen werden kann. Allerdings verfolgt Brantzen diesen interessanten Punkt nicht weiter und rückt die Frage ins Zentrum: »Wie können Menschen, denen nichts fehlt bzw. die mit dem Repertoire der christlichen Kirchen nichts an-fangen können und nach ihrem Verständnis glücklich leben, zur Frage nach Transzendenz, nach Gott, nach dem Geheimnis Gottes geführt werden?« (161) Brantzen plädiert für eine Berücksichtigung der konkreten Lebenssituationen von Menschen und eine Sensibilisierung dafür, wie »Lebenserfahrungen religiös gedeutet und damit zu Erfahrungen der Spuren Gottes in ihrem Leben gedeutet werden können« (181).
Dieses Anliegen teilt eine Reihe von Beiträgen, die danach fragen, wie in der pluralen Gesellschaft Menschen in ihren konkreten Lebenssituationen aufgesucht werden können. Gemeinsam ist diesen Beiträgen auch eine kritische Reserve gegen eine institutionelle Sicherung der Evangelisation in der Moderne. So weist Michael Hochschild (49–63) darauf hin, dass, selbst wenn die Religion zurückkehren sollte, dies unter veränderten Rahmenbedingungen und neuen sozialen Formen geschehen müsse. Anders als früher – so Hochschild – werden Menschen nicht mehr per Institution koordinierbar und ansprechbar sein. Daher sei eine »De-Professionalisierung« (53) erforderlich und ein mutiger Verzicht auf »Sicherheitsstreben« (62). Auch Matthias Sellmann (64–85) hält das säkulare Leben nur dann für eine unüberwindbare Herausforderung für die Kirche, wenn man den »Stil eines verkirchlichten Christsein als alternativlos betrachtet« (83). Die Moderne biete viele Ressourcen und Inspirationen, die die »religiöse Vitalität« (82) steigern können. Einen »vitalen, nicht selbst bloß wieder geglaubten Glauben« (99) sieht auch Guido Bausenhart (86–120), der Josef Kentenich, den Gründer der internationalen Schönstatt-Bewegung, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, als Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Mit Hochschild, Sellmann und Bausenhart ist sich Hans-Joachim Sander (183–211) darin einig, dass die Antwort auf die gegenwärtige Situation nicht in einer zentralen institutionellen Machtpräsenz der Kirche liegen kann, sondern dass die Evangelisation das Aufsuchen von »Andersorten« (183 u. ö.) zur Aufgabe hat: »Ihr Ort der Fülle wird von Gott bestimmt, aber diesen Ort finden Christen unter den Menschen von heute, wenn sie sich deren Nöten und Freuden, Hoffnungen und Sorgen aussetzen« (210). Von daher sei Überraschungsfähigkeit, Neugier, Lernbereitschaft und Angstlosigkeit vor Scheitern erforderlich (vgl. 211). Nach einem »Glauben in einer entsicherten Welt« fragt auch Magnus Striet (235–249). Für Striet ist es dafür erforderlich, den Widerstand gegen das in der mo­dernen Gesellschaft praktizierte Autonomieprinzip aufzugeben (vgl. 243 f.) und auf einen »grenzenlosen Durchsetzungswillen« (245) zu verzichten, indem die Religion zwar als denkmögliche, aber der Möglichkeit des Irrtums unterliegende Interpretation der Wirklichkeit zur Geltung gebracht werde. Gerade in der mo-dernen Welt könne Gott als ein Gott zur Sprache gebracht werden, »der der Freiheit mit einer unendlichen Wertschätzung begegnet« (247). Von hier aus kommt Striet dann zu einer überaus positiven Bewertung der »mit Ungewissheiten be­hafteten Moderne« (248): »[K]eine vorangegangene Epoche« – so Striet – hat es ermöglicht, »den Glauben an diesen Gott so zu leben, wie diese Moderne« (249). Hubertus Schönemann (121–136) fragt in seinem Beitrag nach einer Hermeneutik des Evangeliums nach dem linguistic turn, um zu einem anderen »als einem statisch-positivistischen Verständnis dessen zu kommen, was Evangelium meint und wie es sich realisiert« (121).
Hingewiesen sei auch auf die Beiträge von Maria Wild (137–149), die nach einer »Pastoraltheologie für säkulare Zeitgenossen« fragt, und Lothar Penners (212–234), der ausgehend von der Beobachtung, dass es bis dato noch »keine abgerundete psychologisch reflektierte Theologie« (214) gibt, die Neuevangelisierung als ein psychologisches Problem zu beschreiben sucht.
In dem abschließenden Beitrag hält Robert Zollitsch (250–281) ein eindringliches Plädoyer für die fundamentale Erfahrungsdimension in verschiedenen Zusammenhängen, wie in der Kontemplation (vgl. 268 f.) und der Liturgie (vgl. 269 f.). Darüber hinaus macht er auf die christliche »Kernkompetenz« aufmerksam: den »Umgang mit Leid und Tod« (270). Leider verzichtet die Aufsatzsammlung nicht nur auf ein Sach- und Begriffsregister, sondern auch auf einen Beitrag, der Linien zwischen den Beiträgen zieht, Schwerpunkte markiert, offen gebliebene Fragen herausarbeitet und Konsequenzen des Vorgetragenen bedenkt.