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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

726–729

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stuckenbruck, Loren T.

Titel/Untertitel:

The Book of Giants from Qumran. Text, Translation and Commentary.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XVI, 289 S. gr.8 = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 63. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-146720-5.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Zu den ärgerlichsten Verlusten der antiken Literaturgeschichte gehört es, daß wir so wenig über die narrativen Texte in aramäischer Sprache wissen. Um so wertvoller sind die Fragmente aramäischer religiöser Erzählkultur, die uns Qumran liefert, und unter denen das Giganten-Buch (GB) nicht das geringste ist. Von der Existenz des Werkes wußte die Forschung schon lange, zumal es im Manichäismus rezipiert wurde. Aber auch Manis Gigantenbuch (mitteliranisch kawa-n) ist nur in Bruchstücken erhalten, welche über mehrere Sprachen verstreut sind, noch dazu solchen, deren Kenntnis nicht eben verbreitet ist (Mittelpersisch, Sogdisch, Uigurisch). Etwas besser steht es mit dem älteren aramäischen GB, obwohl viele Fragmente erst in den letzten Jahren zugänglich wurden. Teil des äthiopischen Henochcorpus ist es bekanntlich nicht. Loren Stuckenbruck, dessen kenntnisreiche Dissertation ich ThLZ 121, 1996, 363-366 vorgestellt habe, hat sich nun dieses Textkomplexes in einer soliden, vor allem philologisch orientierten Gesamtausgabe angenommen.

The Book of Giants from Qumran bietet neben einer knappen Diskussion von Forschungsgeschichte und Einleitungsfragen (1-40) schwerpunktmäßig eine überaus sorgfältige Sammlung, Edition, Übersetzung und Kommentierung aller Qumran-Fragmente (mit gelegentlichen paläographischen Bemerkungen, aber ohne Photos), die als Zeugen des Gigantenbuches in Betracht kommen. Hauptgesprächspartner sind dabei natürlich die Edition von Josef Milik sowie die Arbeiten von Klaus Beyer und Florentino García Martínez. Doch greift S. immer auf Photographien der Handschriften selbst zurück. Er kann dabei einige Inkonsequenzen und Probleme der Edition von Milik klären, etwa 185 f. zum Fragmentenbestand von 4Q556 = 4QEnGiantse oder 189 f. zu dem angeblichen (nach S. entfallenden) Beleg von mabbu-l "Flut" in 4Q556 Frg. 6, 3 (vgl. auch 101 zu 4Q530). Auch der bequemen Handedition von Beyer weist er einige definitive Fehler nach (218). Zu den Originalen hatte er keinen Zugang, wie er auch betont, daß seine Arbeit nicht in Konkurrenz zu der nach wie vor ausstehenden "offiziellen" Edition in DJD stehen soll. Etwa 34 (sehr kleine, meist nur ein oder zwei Worte umfassende) Fragmente werden überhaupt zum ersten Mal bearbeitet. Faktisch ist kaum zu erwarten, daß noch weitere größere Qumranfragmente dem GB zugeordnet werden können. Auch 6Q8 (öfters einem Noah-Buch zugerechnet) wird wohl mit Recht als Teil des GB behandelt. Ergänzt wird der Band durch ein Glossar (leider ohne Hinweis, wo ein Wort oder Name jeweils gründlicher besprochen wird), ein Literaturverzeichnis und sehr vollständige und nützliche Register.

Der Kommentar diskutiert neben allen philologischen Gesichtspunkten vor allem intensiv die Frage nach der vermutlich ursprünglichen Reihenfolge der Texte. In diesem letzten Punkt entfaltet der Autor seine größte Kreativität und wendet sich regelmäßig gegen die (durchaus uneinheitlichen) Vorschläge von Milik, Beyer und García Martínez (Übersicht: 13-16 und 20-24). Eine Detaildiskkussion ist an dieser Stelle nicht möglich (zu Beyer vgl. die Zusammenstellung 13-16 und speziell 69 A. 33).

Im Gegensatz zum Wächterbuch liegt das Interesse des Verfassers von GB ganz auf den Nachkommen der gefallenen Engel, eben den Giganten. Ihr Schicksal steht im Mittelpunkt. Eine Merkwürdigkeit der vorliegenden Studie ist, daß sie ihre Rekonstruktionen der narrativen Zusammenhänge im GB - die manchmal geradezu in Anmerkungen versteckt sind (203 A. 266) - an keiner Stelle zusammenfassend vorführt. S. überläßt es damit anderen, die Früchte seiner immensen Detailarbeit zu ernten. Ich will diese Früchte nicht meinerseits dadurch rauben, daß ich eine solche Zusammenschau hier versuche: Sie ist bei sorgfältiger Lektüre des Kommentarteils relativ leicht erreichbar. Die wichtigste (schon von Milik vertretene) einleitungswissenschaftliche Beobachtung ist die durchgehende Abhängigkeit vom Wächterbuch des Henochcorpus (äth. Hen. 6-36). Im Streit zwischen der Frühdatierung Beyers (Ende 3. Jh. v. Chr.) und der Spätdatierung Miliks (zwischen 128 und etwa 100 v. Chr.) entscheidet sich S. für eine mittlere Linie (zwischen dem 3. Jh. und 164 v. Chr.). Zur Frage der ursprünglichen Sprache äußert er sich 208: Die mehrfach bemerkten hebräischen Wortspiele sind auch in einem aramäischen Text möglich (insbesondere, wenn sie Traditionsgut darstellen). Wichtig ist die Feststellung, daß GB kein Henoch-Pseudepigraphon war; von dem Urvater ist durchgehend in 3. Ps. die Rede. Außerdem ist Henoch nicht so sehr selbst Offenbarungsempfänger (wie in den meisten Teilen des äth. Hen.), sondern in erster Linie Interpret der ominösen Träume, in denen sich der Untergang der Giganten in der Sintflut für diese ankündigt. Das interessante Verhältnis zwischen Daniel 7,9 f. und 4Q530 II, 16b-20a wird 120-123 diskutiert; BG scheint eine gegenüber Daniel ältere Theophanietradition zu verarbeiten. Einen im engeren Sinn qumran-essenischen Hintergrund hat GB nicht (32). Mythologiegeschichtlich aufschlußreich im GB ist nicht zuletzt die Rezeption der babylonischen Gestalten Gilgamesch und Chobabisch (Chuwawa + isch "Mann"), welche zu Gigantennamen werden. Für die Herkunft des Buches ist damit nichts gesagt (39): der Kulturkontakt zwischen dem mesopotamisch-iranischen und dem palästinischen Raum war immer intensiv. Bei Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer, 1984, 346 f. ist z. B. eine Jerusalemer Ossuarinschrift (um Christi Geburt) wiedergegeben, welche von einem Priester Kunde gibt, der unter Herodes als den Hasmonäern nahestehender Oppositioneller nach Babylon auswanderte, aber später nach Jerusalem zurückkehrte. Auch Josephus bezeugt den regen Verkehr zwischen beiden Gebieten. Aber eine Rezeption von Gilgamesch-Traditionen ist doch bemerkenswert. Weniger wahrscheinlich scheint mir, daß Atambisch (’tnbysh in zwei mittelpersischen Fragmenten) Ut-Napischtim ist (73 A. 43 nach einem Vorschlag von Reeves), der griechische Xisuthros. Natürlich war der Gilgamesch-Zyklus auch in der hellenistischen Welt bekannt (vgl. Aelian, de hist. animal. XII, 21, wo sich Züge der Sargon-Sage an Gilgamesch gehängt haben). Der sowohl von Reeves (s.u.) als auch von S. (109) aus einer älteren Studie von M. Lewin übernommene syrische Gilgamesch-Beleg bei Theodor bar Koni ist in Wahrheit textlich ganz unsicher; die ganze Frage eines syrischen Nachlebens des Zyklus müßte neu bearbeitet werden. Auch was das GB betrifft, müßte zumindest eine weitere Textgruppe einmal gründlich nach Spuren durchforstet werden, und zwar die der mittlerweile in kaum noch übersehbarer Menge bekannten aramäischen Zaubertexte.

The Book of Giants from Qumran ist sorgfältig ediert; der häufigste Fehler bei langen hebräischen Zitaten (Konfusionen der Wortreihenfolge beim Zeilenumbruch) ist anscheinend nie völlig zu beseitigen (122). Etwas mühselig für den Benutzer ist nur, daß zwar die Qumrantexte gründlich kommentiert werden, zu den manichäischen Texten (alle leider nur in Übersetzung) aber fast jede Anmerkung fehlt.

Daß der Manichäismus die Angewohnheit hat, mythologische Namen zu übertragen und daher aus den aramäischen Giganten plötzlich bekannte Heroen der iranischen nationalen Epik werden, mag der gebildete Leser wissen, aber warum wir uns z. B. in einem Text topographisch plötzlich im Kögmän-Gebirge (alttürkische Bezeichnung des südsibirischen Sajans!) befinden, hätte vielleicht doch der Erklärung bedurft (133). Überhaupt setzt der Autor zum Manichäismus mehr Kenntnisse beim Leser voraus als zu den Qumrantexten. Zumindest die Lektüre von John C. Reeves, Jewish Lore in Manichaean Cosmogony. Studies in The Book of Giants Tradition, Cincinnati 1999 ist praktisch unentbehrlich, um S. folgen zu können; beide Bücher ergänzen sich vorzüglich. Nicht völlig befriedigend ist zu den manichäischen Zeugnissen allerdings die Literaturbenutzung.

Verzeihlich ist es, zu übersehen, daß das St. Petersburger mittelpersische Fragment L von Sundermann nicht nur 1984 in der FS Duchesne-Guillemin, sondern verbessert noch einmal in einer russischen Zeitschrift (Esce odin fragment iz "knigi gigantov" Mani, in: Vestnik drevnej istorii 1989, 3, 67-79) ediert wurde. Aber warum entgeht dem Autor Sundermanns Edition des lange verschollen geglaubten (jetzt durch ein altes Photo wieder zugänglichen) Turfan-Textes M 7800 in der Studie Mani’s "Book of Giants" and the Jewish Books of Enoch. A Case of Terminological Difference and What it Implies, Irano-Judaica III, Jerusalem 1994, 40-48? Dieser Text wäre für die Diskussion des Wortspieles nefilim - nefalim "Giganten"-"Fehlgeburten" (111 f.) wichtig gewesen. Nicht recht verständlich ist, warum zu W. B. Hennings grundlegenden Texteditionen, die alle paar Seiten zitiert werden, zwar deren verstreute Originalpublikationen, nicht aber die beiden bequemen Sammelbände genannt werden, in denen sie schon seit über zwanzig Jahren vorliegen (Selected Papers, Acta Iranica, Deuxième série V/VI, Téhéran-Liège 1977). Auch das Jubiläenbuch, eine der wichtigsten Nebenüberlieferungen, wird anscheinend noch nicht nach der jetzt grundlegenden, ausführlich kommentierten kritischen Ausgabe von James C. VanderKam (CSCO 510/511, Leuven 1989) zitiert. Im Grunde ist das kaum eine Kritik an Stuckenbrucks Buch, sondern nur eine Illustration der traurigen Erkenntnis, daß es für den Einzelnen praktisch nicht mehr möglich ist, die Übersicht über die Literatur einer Nachbardisziplin (hier etwa Iranistik und Manichäismusforschung) zu behalten. An Teamarbeit führt kein Weg vorbei. Nicht gesammelt wurden die mancherlei Vermutungen zum GB, die sich nur aus Rückschlüssen aus den Manichaica ergeben (ich erwähne die Gedanken zum Geschlechtswechsel des Wortes livjatan, die E. Lipinski nach einer Anregung Miliks in ThWAT IV, 1984, 522 ausgesprochen hat).

Aus den Zuschreibungen und Rekonstruktionen ergibt sich eine Offensichtlichkeit, die wohl noch etwas klarer ausgesprochen werden muß: das GB war ein Werk beträchtlichen Umfanges (vgl. 85 f.). Man darf es nicht nur als Dokument der Religionsgeschichte lesen: als eine Art metaphysical thriller diente es mit Sicherheit auch den Bedürfnissen religiöser Unterhaltung. Das GB gehört damit zu einem interreligiösen hellenistischen Genre "mythologischer Roman", das etwa durch das neuentdeckte, vorher nur aus wenigen Anspielungen bekannte Apokryphon des Jannes und Jambres (Ed. Albert Pietersma, 1994) oder durch den faszinierenden Zyklus um Setne Chaemwese in demotischer Sprache vertreten wird, aber auch Bezüge zum griechischen Roman im engeren Sinn (z. B. Lollianos) hat. Wie eng die interkulturellen Kontakte hier waren, ersieht man daraus, daß wir sogar aramäische Erzähltexte in demotischer Schrift (!) besitzen. Obwohl S.s Kommentar in dieser Hinsicht nicht alle Fragen beantwortet, stellt seine Ausgabe doch den Ausgangspunkt jeder weiteren Forschung zum Thema dar. Es ist an der Zeit, daß sich nun auch eine stärker literaturwissenschaftliche Betrachtung dieser Texte annimmt.