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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

64–66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gombocz, Wolfgang L.

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters.

Verlag:

München: Beck 1997. 513 S. gr. 8 = Geschichte der Philosophie, 4. Kart. DM 49,80. ISBN 3-406-31268-3.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Nach Überzeugung des Vf.s wird die Philosophie des behandelten Zeitraumes im wesentlichen durch die Entwicklung des Platonismus geprägt, also auch die christliche Philosophie dieser Zeit: "Der Platonismus, und nicht etwa das Christentum, ist die das im vorliegenden Band zu behandelnde Jahrtausend beherrschende philosophische Richtung" (59). G. will diesen Zeitraum in seinem realgeschichtlichen Kontext darstellen. In der Einleitung werden die "Anfänge des Platonismus: Der Mittelplatonismus als Vorneuplatonismus" behandelt (Eudor und Philo), darauf "Der Platonismus" (Plutarch, Alcinous und Albinus, Apuleius, Atticus, Pythagorismus und Neupythagoreer, Numenius und Cronius, Plotin, Porphyr, Iamblichus, Proclus und seine Schule, Alexandrien zur Zeit Hypatias). Dann folgt das Kapitel "Die Anfänge der Philosophie bei den Christen"; hier werden die Anfänge bei den "Vätern" (den Apologeten), die griechischen Kirchenväter, Augustin und Dionysius dargestellt. Zuletzt folgen die "Anfänge der Scholastik" (Boethius, Johannes Eriugena und seine Zeit, Anselm). Damit werden die "Anfänge der intellektuellen Entwicklung des christlich werdenden Abendlandes" und ihr Zusammenhang mit der Realgeschichte (was immer das sein soll) dargelegt.

Wichtig ist dem Vf., daß Chrysipp "mit der Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens ein entsprechendes Problembewußtsein geschaffen" hat, das für die weitere Entwicklung maßgeblich wird; Philo hat dann die menschliche Willensfreiheit und (die) göttliche Providenz zusammenzubringen versucht. Bei Eudor wird über die Gegenüberstellung von Einheit und Vielheit "ein höchstes Eines, ein Gott ’oben darüber’" gesetzt (19 f.). Er sieht in der Gottähnlichsetzung "Sinn und Ziel des Menschenlebens" (32). Für Philo ist Mose "Urheber allen Denkens, von dem selbst die großen Griechen sich ihre besten Ideen geborgt haben" (43). Die obersten Wesen sind für ihn "ein einziger, völlig transzendenter Gott und der ihm untergeordnete Logos" (50). Der Vf. sieht ihn als Gefangenen der platonischen Ethik und der stoischen Gotteslehre.

Plutarch erkennt, "daß ein Mensch ... Gott werden kann - oder ... voll am Göttlichen teilhaben kann" (73). Bei Apuleius wird diese Gottangleichung weniger durch Schau als vielmehr durch eine entsprechende Praxis erzielt (118). Zunehmend versucht der Platonismus, den völlig transzendenten Gott von allem Irdischen fernzuhalten. So wird der ihm untergeordnete Demiurg eingeführt. Weil er die Ideen denkt, wird er als Nous verstanden (128). Bei Plotin fallen das Eine Erste und die Idee des Guten ineins. Das Eine ist so transzendent verstanden, das man ihm nur auf der via negativa nahekommen kann. Dieses Eine strebt nicht zu uns herab (168 f., 187). Porphyr hält Plotins Schriften geradezu für inspiriert, der Neuplatonismus wird bei ihm zur Religion (193 f.). Jamblichus hat das Erste Eine in zwei Prinzipien aufgespalten; seine Einwirkung auf Dionysius Areopagita wird festgehalten. Auch bei Proclus wird der Platonismus metaphysisch-religiös ausgerichtet (206).

Die patristische Philosophie versteht der Vf. als ",Hausgemeinschaft’ von Philosophie und Theologie". Ihr Ausgangspunkt ist "der Versuch, die sogenannte Offenbarung der heiligen Schriften zu verstehen, d. i. durch Vernunftgründe zu erläutern". Die Denker dieser Zeit kannten noch keine Trennung von Theologie und Philosophie, sie "verfolgten dennoch philosophische Themen, transportierten philosophische Inhalte und dazugehörige philosophische Argumente ..." (231 f.). Die Paradoxa werden herausgearbeitet (Tertullian, 247). Die Schriften der griechischen Philosophen erscheinen als "Vorbereitung auf das Christentum", als Voraussetzung einer rationalen Theologie (250).

Die Nähe von Clemens von Alexandrien zum Platonismus wird vor allem in seiner Psychologie gesehen, die Seele ist ihm ein Gnadengeschenk, aber Geschöpf. Bei Origenes wird die "Aussöhnung von Philosophie und Christentum ... auf seine Ansicht der Existenz einer einzigen ewigen und der Vernunft zugänglichen Wahrheit" zurückgeführt (257). Seine Wirkung sei immens, die Trinitätstheologie der großen Kappadozier wird als "wesentlich origenistisch" angesehen" (264). Bei Gregor von Nyssa wird die Vernunft dem Glauben untergeordnet (269).

Augustins Christentum wird als "eine philosophisch erleuchtete Denkungsweise im Gefolge des Ambrosius" gedeutet, Platonismus und Christentum gehen bei ihm "eine untrennbare Einheit" ein und setzen Intellectus, Sapientia und Verbum ineins. Alles Erkennen ist gnadenhaft. Seine Philosophie wird als "ein theologisch gebrochener Idealismus" bewertet (281, 285 ff.). Hier fallen Einschätzungen, die Augustin nicht gerecht werden ("Zettelkastenplatoniker", 295; Bischof und Herrscher, 303). Der Vf. wird Augustin kaum gerecht, wenn er bei ihm die "Aufhebung menschlicher Willensfreiheit und Verantwortlichkeit" sieht (306). Gewiß aber eher als Flaschs Wertung Augustins als "Logiker des Schreckens".

Bei Dionysius Areopagita arbeitet der Vf. die Trias kataphatische/symbolische/negative Theologie heraus. Dabei gerät die Rede von Gott "zur Redelosigkeit, theologisches Wissen zum Nichtwissen"; Gott ist der verborgene Gott (324 ff.).

Augustin wiederholt das schulplatonische Argument von der "Unanwendbarkeit der Dialektik und insbesondere der Kategorien auf - den christlichen - Gott". Er hält den Begriff ousia für höchst passend und beeinflußt damit die aufkommende Scholastik (338). Das gilt ebenso für Boethius’ Kommentar zur Isagoge des Porphyr. Boethius betont, daß sowohl Glückseligkeit als auch Gott das höchste Gut sind. Unter Rückgriff auf Proclus meint er, "Gottes Wissen und Vorherwissen kann nicht mit menschlichem Wissen verglichen werden. Die Begriffe menschlicher Erkenntnistheorie taugen nicht im Zusammenhang der Erkenntnis Gottes" (353 ff.).

Daß die Zeit zwischen Boethius und der Karolingischen Renovatio leer bleibt, wie der Vf. behauptet, wird der Tatsache nicht gerecht, daß zumindest es Gelehrte gab, die die Lehren der Antike tradiert haben (Cassiodor, Gregor der Große, Beda, Isidor). Ein Blick in das von ihm auch aufgeführte Werk von L. Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter, hätte ihn vor einem so einseitigen Urteil bewahren können. Das hängt wohl damit zusammen, daß der Vf. Philosophie recht einseitig von der Logik her begreift (359, 383).

Scotus Eriugena hält die "menschliche Sprache als solche ... (für) ungeeignet, etwas über Gott auszusagen", doch bleibt für ihn immer die Vernunft letzte Instanz (368, 378). Berengar von Tours wird ganz auf Anselm von Canterbury hin interpretiert. Der Vf. will bei Anselm "nur von einer relativen Rationalisierung der Theologie" sprechen, weil er die Ratio der Richtschnur des Glaubens unterwerfen will (392). Seinen Proslogionbeweis hält der Vf. für "ingeniös" (399), muß aber zugeben, daß er keine befriedigende Antwort auf Gaunilos Einwände gegeben hat (405), doch hält er Anselm als Logiker und als Theologe für "klar und vollendet" (412).

Der Vf. breitet sicher eine große Stoffülle aus, doch vermißt man auch manches (z. B. den Hermetismus oder Gregor I.). Für Theologen ist die Philosophie der Spätantike wichtig, weil sie von den Kirchenvätern vielfach zitiert wird und deren philosophischen Hintergrund bildet. Die Stärke der Darstellung liegt wohl im der vorchristlichen Philosophie gewidmeten Teil. Unbeachtet bleibt der Einfluß, den christliche Theologen auf Philosophen ausgeübt haben. Hier kann man doch sicher nicht nur eine Fehlanzeige anbringen! Von der Wirkungsgeschichte der behandelten Denker liest man fast nichts. Erstaunlich ist, daß wiederholt christliche Denker danach bewertet werden, wie sie zur Frau stehen; so überrascht auch die relativ umfangreiche Darstellung der Makrina. Die Wertung Augustins ist, wenn auch von Flasch abgehoben, doch recht negativ, es kommt nicht in den Blick, daß Augustin sehr stark auch Schrifttheologe ist. Warum der Vf. einmal die Eigennamen in ihrer griechischen Schreibweise, einmal in der lateinischen bringt, bleibt wohl sein Geheimnis.

Wenn Theologen, die sich mit mittelalterlichem Denken befassen, sich so wenig mit philosophischen Fragestellungen befassen würden, wie leider zunehmend Philosophen mit theologischen Fragestellungen, würden sie mit Recht gescholten. Auch vorliegender Darstellung wird man diesen Vorwurf nicht ganz ersparen können (Augustin!). Sie ist aber gut und nützlich zu lesen.