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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1482–1484

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. H. Deuser, J. Grage u. M. Kleinert

Titel/Untertitel:

Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Hrsg. v. N. J. Cappelørn, H. Deuser, J. Grage u. H. Schulz in Zusammenarbeit m. d. Søren Kierkegaard Forschungszentrum, Kopenhagen. Bd. 4: Journale NB, NB2, NB3, NB4, NB5.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XXVI, 791 S. Lw. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-021223-5.

Rezensent:

Walter Dietz

Dieser Band (der vierte von insgesamt elf) enthält den ersten der fünf Tagebuchbände, die Søren Kierkegaard mit »NB« sigliert hat. Es sind Aufzeichnungen aus den Jahren 1846–1848, die u. a. das eigene Selbstverständnis und die Rolle der Presse thematisieren (im Hintergrund steht die von Kierkegaard selbst provozierte Affäre mit dem Satireblatt Corsaren), die moderne Gesellschaft, deren Tendenz die politische Absorption des Einzelnen (1848!) und die Aufhebung des Ethischen ins Ästhetische ist. Wie ein Blick ins Re-gister zeigt, rekurriert Kierkegaard daher immer wieder auf Sokrates, der sich (wie Kierkegaard) als Zitterrochen und Bremsfliege verstanden hat.
Kierkegaards Grundeinsicht (nicht unbedingt larmoyant vorgetragen) lautet: Keiner versteht mich (erst nach meinem Tod, 364), keiner liebt mich. Er kritisiert die scheinheilige Presse, die klammheimlich Freude daran hat, »dass ein Herausragender niedergetrampelt wird« (16). Der kleine Mann verbündet sich mit dem Satiriker, um sich dem überlegen fühlen zu können, von dem er ahnt, dass er weit unter ihm steht (40). Kierkegaard wird zum Gespött. Dänemark ist s. E. weder weltoffen noch humanistisch gebildet (cf. 403 u. ö.). Nationalpatriotische Tendenzen (Grundtvig: »ein jodelnder flotter Bursche […] ein brüllender Grobschmied«, frei von Innerlichkeit und stiller Leidenschaft, 328 f.; unsinniger Nationalismus, 217.237 vgl. 614; aufgeblasene Pseudogenialität, 379.384) vergiften auch die Kirche.
Pädagogisch zeigt sich als Hauptproblem, dass oft gerade die Eltern »im höchsten Grade selbst Erziehung benötigten« (226); doch, ungebildet wie sie sind, opponieren sie der Schule, statt ihr »bei der Erziehung behilflich zu sein« (ebd.). Das Konzept eines radikal Bösen wird von Kierkegaard bejaht, aber er bemängelt, dass Kant (1793) es nicht explizit als Paradox – im Sinn einer »ontolo-gischen Bestimmung« – entwickelt (98 f.). An Hegel wird das anti-sokratisch Philisterhafte kritisiert: Er reflektiert auf das Leben, ohne im Grunde zu wissen, was zu leben heißt (46).
Bemerkenswert sind Kierkegaards Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von Gottes Allmacht und menschlicher Freiheit im Horizont der Theodizeeproblematik (zur Auslegung vgl. W. Dietz: SK. Existenz und Freiheit, 1993, Kapitel 1). Göttliche Allmacht ist nicht als Omnipotenz und grenzenlose Selbstdurchsetzung zu verstehen, sondern als Möglichkeit, die Kreatur »durch allmächtiges Sich-selbst-Zurücknehmen« frei zu machen (63). Kierkegaard nimmt hier einen qualitativen Unterschied zu endlicher Macht an, die stets ängstlich auf sich bezogen und um sich besorgt ist. Jene göttliche Kunst (der Freilassung endlicher Macht aus der Allmacht der Liebe) spiegelt sich in der sokratischen Mäeutik wider. Auch hier geht es darum den anderen nicht zu gängeln, sondern »frei zu machen« (63). Im Akt ihrer Selbstzurücknahme verliert Gott seine Allmacht nicht, sondern verwirklicht sie (64).
Im folgenden Eintrag geht es um den paradigmatischen Vorherrschaftsanspruch der naturwissenschaftlichen Weltsicht im Blick auf die Anthropologie (64–84). Der Anspruch »den ganzen Menschen zu erklären« (65), z. B. im Blick auf eine Mikroanalyse seiner Physiologie, zeigt für Kierkegaard den schrecklichen Grund-Irrtum der Moderne: »Alles Unheil wird letztlich von den Na­turwissenschaften kommen.« (69) Diese Warnung hat nicht kritische Technikfolgen im Blick, sondernwissenschaftsparadigmati­sche Ver­schiebungen bis hin zur einseitigen Vorherrschaft einer naturalistischen Denkform (vgl. dazu auch den Trivialatheismus von R. Dawkins, Chr. Hitchens u. a.), den kollektiven Rückfall hinter die sokratische Kunst des Verstehens. Der von Spießern und »Schlachtergesellen« (66) beherrschten Wissenschaft ginge es nur darum, »mittels noch größerer Mikroskope« zu zeigen, »dass die Freiheit eine Illusion war« (67). Kierkegaards Grundanliegen ist dabei »das Ethische« (ebd.). Das Geistige kann nicht aus bewusstloser Materie er­klärt werden: Die »qualitativen Übergänge« bleiben physiologisch im Dunkeln (71; Sprung); dem entspricht das »Staunen« (72).
Es folgen Überlegungen zu seinen Erbaulichen Reden, insbesondere zu Röm 13,10 (94), ferner zum rechten Verständnis christlichen Trostes (130). Sein Volk, das der Dänen, kommt schlecht weg (Memmen und Verirrte, 137; cf. 165 f.181; erwerbsorientiert, 286). Das Publikum, die Masse, dient als kritisches Gegenüber: »›die Menge‹ ist die Un­wahrheit« (140; stets irregeleitet: 377; »das Böse«, 397). Christi Ge­gensatz gegen die Menge war der Grund seiner Kreuzigung (141; cf. 229 ff.). Er starb für »die Wahrheit, die sich zum Einzelnen verhält« (142; zum Einzelnen im Gegensatz zur Menge und zum pantheistischen System vgl. 317). Für diese Wahrheit leidet auch Kierkegaard selbst – auf seine Weise (Corsaren-Affäre vgl. 40 ff.169.221 f.). Er folgt nicht (wie Mynster, cf. 269 f.284 f.338.341.440: »wie ein juristischer Beamter«; 453) dem »Evangelium der Spießbürgerlichkeit« (173), das billige Gnade und opportunistische Lebenskunst propagiert und da­bei allen »innerlichen Schwierigkeiten« des Christseins ausweicht (307). Auch hier gilt: »Man hat alle Ethik in Ästhetik verwandelt […]« – Theatralik statt Lebenspraxis (273).
In NB2 stehen politische Analysen im Vordergrund, einschließlich der (sc. falschen) Prognose, dass Europa kein Krieg (der Nationen gegeneinander) mehr bevorstünde (1815 ist das Zeitalter der Nationalkriege beendet, es folgen Bürgerkriege 1848 ff., »innere Unruhen«, 159). Kierkegaard analysiert die »verzweifelte Energie« Napoleons (184). Es folgen Reflexionen über Diogenes, Paulus, Gregor VIII, Innozenz III, die Jungfrau Maria (als Ausnahme-Existenz, 428) sowie den »ungerechten Mammon«, die von der Presse geförderte Kultur des Neides, ferner Notizen zur Homiletik (»Man be­gräbt Bierzapfer wie Helden«, echte Helden aber in aller Stille, verachtet von der Welt, 206). Reflexionen zur Aufgabe der Erziehung (»aufzuziehen ist eine ganz seltene Gabe« 225; cf. 398) münden in den Gedanken, dass viele Eltern selber »im höchsten Grade« Erziehung benötigten; statt der Schule zu opponieren, sollten sie »den Schulmeister« lieber unterstützen (225 f.).
NB3 reflektiert auf die Verweltlichung der Kirche, wobei Kierkegaard das moderne, staatlich arrivierte Christentum als neue Form der »Gotteslästerung« brandmarkt (283). Ferner finden sich Reflexionen zur Frage, ob sein Buch über Magister Adler veröffentlicht werden sollte (299 f.). Christsein wird verstanden als leidensbereite imitatio Christi (305). Die Christologie soll geleitet sein vom Paradox des leidenden Gottes (cf. 450 f.), ohne mit der Geschichte zu kokettieren und das »historische Detail« zu fixieren (375; zum Ideal der Gleichzeitigkeit vgl. 468). Die Idee einer wesentlichen Gleichheit aller vor Gott wird im Kommunismus depraviert und zur Herrschaft der Masse umgemünzt, wobei die Verantwortung vor Gott verschwindet (»Abscheulichkeit, die Gott abschaffen will«, 387). Zur Sündenlehre liefert Kierkegaard einen sehr rohen, andeutungsweise bleibenden Aufriss (418). NB5: Im Blick auf das Christentum gilt: Es soll nicht »doziert«, sondern »angeeignet« werden (474), d. h. es ist keine Lehre.
Im Blick auf M. Luther stellt Kierkegaard, der sich als »Spion« im Dienste Gottes versteht (486), fundamentale Übereinstimmungen fest: zum einen in der Einsicht, dass die homiletische Situation nicht der Sonntagsgottesdienst, sondern der Alltag ist (440), zum andern im »für Dich«, der existenzdialektischen Hermeneutik der Christusbotschaft: »Die Kategorie ›für Dich‹ […] ist gerade Luthers.« (311) Auch als Prediger findet ihn Kierkegaard vorbildlich: »Oh, Luther ist doch der Meister für uns alle« (407), wenngleich dieser die Xr.-Gleichzeitigkeit nicht tief genug entwickelt habe (468).
Daneben enthält der Band auch tief existentiell-biographische Einträge (Tagebuch i. e. S.), z. B. zum Tod des Vaters (457).
Die Aufmachung des Ganzen ist grundsolide wie gewohnt, der Kommentar bodenständig, aber detailliert und gelehrt (trotz gewisser Dubletten); es finden sich Register zu Begriffen, Namen und Werken (769–777). Übersetzungsfehler (440,19 f.; 469,20) sind ganz selten. Sehr schön ist das veranschaulichende Bildmaterial (z. B. 558 f.584; zur »Redaktionsarbeit« Barfods, 718 f. – unvereinbar mit dem milden Urteil der Hrsg., cf. XIII: »kleinliche Kritik«?).
Es wurde ein vor allem durch Kierkegaards Reflexionen zur Medienethik (Presse, Massenpräferenz), zum nationalistischen Grundtvigianismus und zur Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Paradigmas besonders wichtiger Band vorgelegt.