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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1480–1482

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Berndt, Rainer, u. Maura Zátonyi

Titel/Untertitel:

Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäß der Lehre Hildegards von Bingen.

Verlag:

Müns­ter: Aschendorff Verlag 2013. 363 S. m. 5 Abb. = Erudiri Sapientia, 10. Geb. EUR 54,00 ISBN 978-3-402-10437-8.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Der Band präsentiert drei von insgesamt zwölf Kapiteln der Positio super canonizatione ac Ecclesiae doctoratu, einem Gutachten, das 2011 im Auftrag Papst Benedikts XVI. von einer hochrangig besetzten wissenschaftlichen Kommission erarbeitet worden war und der Heiligsprechung Hildegards von Bingen (10.05.2012) und ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin (07.10.2012) zugrunde lag. Die Verfasser der abgedruckten Texte sind der international anerkannte Spezialist für mittelalterliche Theologiegeschichte Rainer Berndt SJ von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen sowie die Schwester der Eibinger Abtei St. Hildegard Maura Zátonyi OSB, die beide durch wissenschaftliche Publikationen über Hildegard von Bingen hervorgetreten sind (Berndt hatte bereits den Sammelband zum Hildegardjubiläum 1998 »Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst« herausgegeben).
Die drei in ihrer ursprünglichen deutschsprachigen Fassung ab­gedruckten Texte bieten eine Einleitung in die literarische Hinterlassenschaft Hildegards (Teil 1: 27–106), eine hieraus gewonnene Darstellung ihrer Theologie (Teil 2: 109–237) und eine Schilderung ihres persönlichen Profils als Heilige (Teil 3: 241–309). Die Reihen-folge wurde gegenüber der des Gutachtens (in welchem letzterer Teil weiter vorne zu stehen kommt) verändert, um dem heutigen Leser eine Annäherung an Hildegard (17) zu erleichtern. Eine Einführung in den Band, die den kirchenrechtlichen Vorgang knapp darstellt und auf die bleibende Bedeutung Hildegards hinweist (15–23), sowie ein kurzer Epilog mit einigen hilfreichen Hinweisen auf Möglich keiten seriöser Hildegardrezeption (311–314) bilden den Rahmen. Eine ausführliche Bibliographie (319–344) ermuntert zu eigener Ar­beit. Register (Autoren und Werke) erschließen den Band.
Teil 1 bietet nichts wirklich Neues, was aber angesichts seiner Thematik und im Blick auf die Gattung der Positio auch nicht zu erwarten war. Die Einleitung in das reiche Schriftenkorpus der prophetissa teutonica zeichnet sich durch große Klarheit und Zuverlässigkeit aus; bei der vorgeschlagenen Chronologie (50–56) bleiben selbstverständlich leichte Unsicherheiten. Besonders wertvoll wird der erste Teil durch den abschließenden Abschnitt über die Originalität des Denkens Hildegards (79–106). Die tiefe Verwurzelung Hildegards in der »apostolischen Lehre«, in den Texten der Kirchenväter und in der neuplatonisch-pseudodionysianischen Tradi tion ist keineswegs Hemmnis, sondern in gewisser Weise sogar Voraussetzung für ihre hohe gedankliche Eigenständigkeit. Vor diesem Hintergrund erfährt die visionäre Prophetie Hildegards eine spezifische Deutung: Hildegard stellt ihre Visionen in Zusammenhang mit den Prophetenberufungen des Alten Testaments und der neutestamentlichen Apokalypse und versteht ihre eigene prophetische Existenz ganz im Dienste der Inkarnation. Genau deshalb bindet sie ihre visionär gewonnene Erkenntnis strikt an die biblische Offenbarung zurück und versteht die offizielle kirchliche Bestätigung für ihre Visionsschriften analog zum Vorgang der Kanonisierung der Heiligen Schriften (105 f.).
Der mit »Hildegards genuine Lehre« überschriebene Teil 2 ist der spannendste Abschnitt des Bandes. Er bietet, was die Hildegardforschung angeht, einen bedeutenden Erkenntnisfortschritt, zu welchem freilich beide Verfasser in früheren Publikationen be­reits in erheblichem Maße beigetragen haben (für Maura Zátonyi ist auf die Abhandlung »Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen«, Münster 2012, zu verweisen). Dabei geht es in dem Abschnitt natürlich nicht um eine Ge­samtdarstellung der Theologie Hildegards, sondern um das Herausarbeiten ihres spezifischen theologischen Profils. Hierzu werden die Texte Hildegards zunächst in den Kontext ihrer Zeit gestellt, wobei die reichen Parallelen aus den Verfassern des 12. Jh.s dazu geeignet sind, die Eigenständigkeit des Denkens Hildegards von Bingen abermals zu unterstreichen: Obgleich sie mit den zeitgenössischen Diskursen sehr wohl vertraut ist, wie allein ihre Themen zeigen, lässt sie sich keiner Schultradition zuordnen, sondern bleibt eine »Ausnahmeerscheinung« (160). Dies ändert wiederum nichts daran, dass man ihr Werk am besten erschließen kann, wenn man es als eigenständigen Entwurf einer kosmologischen Summe deutet, der – bei aller Ungewöhnlichkeit der Form – durchaus in Zusammenhang mit dem Aufkommen großer Gesamtentwürfe christlicher Lehre steht, wie wir sie aus dem Hochmittelalter kennen. Zentrales und wichtigstes Anliegen dieser Summe ist es, den Menschen den Weg zum Heil zu weisen, was sich schon am Titel eines ihrer Hauptwerke (Scivias: Wegweisung) zeigt. Die Verfasser arbeiten die Grundlinien Hildegardscher Unterweisung unter den Aspekten der Liebe zum Menschen, der Liebe zur Welt, der Liebe zu Gott und der Liebe zur Kirche eindrucksvoll heraus und legen auf diese Weise eine konzise »Ethik« Hildegards vor, die sich an den kosmologischen Strukturprinzipien der Summe orientiert.
Der Teil 3 des Bandes hat sicher mehr als die anderen ein Höchstmaß an methodischer Sensibilität von den Verfassern verlangt, kam ihm doch an prominenter Stelle in der Positio die Funktion zu, Hildegard als Heilige zu profilieren. Anders als in einer historisch-kritischen oder systematisch-theologischen Darstellung von Leben und Wirken geht es hier um ein geistliches Porträt mit dem Ziel, die Verwirklichung der Lehre Hildegards in ihrem eigenen Leben zu schildern. Die Verfasser sind sich der Problematik solchen Unternehmens bewusst (»So gesehen, betreiben wir Hagiographie im edelsten Verständnis des Begriffs« [241], mit Hinweisen auf die methodischen Voraussetzungen). Den Wandel auf einigermaßen schmalem Grat wird man nicht nur im Blick auf den »er­folgreichen« Ausgang des römischen Verfahrens für geglückt halten dürfen, sondern gerade auch unter dem Gesichtspunkt einer geistlichen Urteilsbildung, mit der sich wissenschaftliche Theologie gleich welcher Konfession mitunter durchaus schwertun kann. Die Verfasser gehen in strenger Orientierung an den Quellen ans Werk: Dass die Tugenden, die in Hildegards Texten eine außerordentlich große Rolle spielen, auch ihren Lebenswandel durch und durch geprägt haben, wird mit Hinweisen auf entsprechende Nachrichten in der zeitgenössischen Literatur verifiziert; die Briefe dürften hier aussagekräftiger sein als die mitunter etwas zu positivistisch zitierte Vitenliteratur, die ja kaum zu übersehenden Tendenzen unterliegt. Beeindruckend sind die unter dem Titel »im Ruf der Heiligkeit« aus dem Epistularium zusammengetragenen Aussagen, die das segensreiche Wirken und den Reichtum der Gnadengaben Hildegards illustrieren, wie es von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Unter dem Aspekt der Nachfolge des heilenden Christus werden schließlich auch die Wunderberichte über Krankenheilungen und Exorzismen aus der Vita analysiert, hinzu kommen Notizen aus den Acta inquisitionis aus dem 13. Jh. Die Passage (303–309) beeindruckt durch Sensibilität im Umgang mit dem nicht einfach zu bearbeitenden Material und durch Gespür für die geistliche Dimension des Berichteten.
Die Bedeutung des vorliegenden Bandes dürfte darin bestehen, dass nach Lektüre aller drei Teile Hildegard von Bingen eine Würdigung als theologische Persönlichkeit und als kirchliche Autorität ersten Ranges erfährt. Der »frohe Anteil«, den viele Menschen an der Entstehung der Positio in der »causa Hildegardis« und ihrer Folgen genommen haben (so das Vorwort [7]) dürfte durch die Publikation der theologisch wichtigsten Abschnitte des Gutachtens eine durchaus beabsichtigte Unterstreichung erfahren. Aber selbst Le­ser, die aus konfessionellen Gründen eine weniger stark ausgeprägte Affinität zu »erfolgreichen« Heiligsprechungsvorgängen haben, werden den Band mit Gewinn zur Hand nehmen, bietet er doch eine gut lesbare Darstellung von Leben und Werk Hildegards von Bingen und der geistlichen Dimension ihres Wirkens und regt zur selbständigen Lektüre der Schriften dieser großen Lehrerin der Kirche an.