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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1479–1480

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Raina, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bischof George Bell. Ökumeniker, Brückenbauer, Fürsprecher, Europäer. Reden vor dem Oberhaus des Britischen Parlaments und Briefwechsel mit Rudolf Heß. Hrsg. in Zusammenarbeit m. M. Gardei, K. Kreibohm, K. Martin, A. Na­chama. Übers. aus d. Engl. v. G. Baumann.

Verlag:

Wiesbaden u. a.: Fenestra-Verlag 2012. 228 S. Kart. EUR 24,30. ISBN 978-3-9813498-5-6.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Der wuchtige Untertitel zeigt die Richtung an: Das Buch, schon im Jahre 2009 auf Englisch publiziert und angeregt durch den 1911 geborenen Rudolf Weckerling – BK-Pfarrer und nach dem Krieg in der Versöhnungsarbeit aktiv –, versehen mit einem Geleitwort von Peter Steinbach und in der deutschen Fassung herausgegeben u. a. von Andreas Nachama, will an den Brückenbauer Bell erinnern. Der Hauptherausgeber, Peter Raina, ist vor allem mit Arbeiten zur polnischen Geschichte hervorgetreten. Die vorangestellten Aufsätze von Reinhard Groscurth und Marion Gardei (»Bell und die Ökumene«) und von Raina selbst (»Moralische Autorität und politische Verantwortung«) stellen George Bell, seit 1929 Bischof von Chiches­ter, ganz in diesem Sinne vor, vor allem als Kenner der deutschen Verhältnisse und seit 1933 auch als Unterstützer der Bekennenden Kirche – geläufig sind ja die Kontakte zu Dietrich Bonhoeffer. Dass Bell aufgrund seiner Affinität zu Deutschland, konkret wegen seines Protestes gegen die planmäßige Bombardierung deutscher Städte, nicht wurde, was er hätte werden können, nämlich Erzbischof von Canterbury, wird erwähnt (16). So gehörte Bell auch zu denen, die nach dem Krieg den Deutschen den Weg bahnten, wieder in den Kreis der zivilisierten Völker einzutreten. Bell war also ein politischer Bischof, engagiert in vielen Fragen, und dies natürlich auch als Mitglied des Oberhauses.
Dies alles lässt sich an den hier publizierten Redebeiträgen verifizieren, die thematisch gegliedert sind – der im Untertitel angezeigte Briefwechsel mit Rudolf Heß stellt nur einen Anhang dar, der freilich zeigt, dass Bell trotz heftiger Kritik am Nationalsozialismus meinte, bei einzelnen Vertretern der Diktatur auf Verständnis stoßen zu können. Am Anfang des Briefwechsels steht ein Besuch Bells bei Heß im Jahre 1935, bei dem auch Hanns Kerrl zugegen war. Der Briefwechsel ist vor allem eine Dokumentation des Scheiterns von Bells Hoffnungen, für die Bekennende Kirche oder einzelne Verfolgte wie Martin Niemöller oder Friedrich Weißler (im Buch: »U. Weissler«: 212) eintreten zu können: Heß reagierte auf Bells Briefe ausweichend oder abweisend.
Aus den dokumentierten Reden (es sind alle, die Bell im Oberhaus gehalten hat) spricht Bells leidenschaftliches Engagement für die Opfer und zugleich für jene von ihm auf eine hohe Zahl geschätzten Deutschen, die sich nicht als Unterstützer des »Hitlerstaates« ansehen ließen. Bells Hoffnung auf einen Widerstand mit breiter Basis und mit den Kirchen an der Spitze (54 f.76 f.) ist be-kanntermaßen illusorisch gewesen und sein Vertrauen in Kultur und Zivilisation ebenfalls. Seine Kritik an der Bombardierung deutscher Städte und namentlich an Luftmarschall Arthur »Bomber« Harris war eindeutig, nicht nur aus aktuellen humanitären Gründen, sondern auch unter der Fragestellung, was dies für die Beziehungen nach dem Krieg bedeuten sollte (71.74). Eindeutig war aber auch der Widerspruch im Oberhaus gegen Bells Position, die seine Opponenten als nicht zu den Notwendigkeiten des Krieges passend empfanden.
Schon vor Kriegsende und erst recht danach wurde Bell zu einem Fürsprecher einer demokratischen Nachkriegsordnung, der freilich zugleich erkennen musste, dass die kommunistischen Diktaturen solchen Visionen einen Riegel vorschoben. Im Oberhaus beteiligte er sich an den Debatten um diese Nachkriegsordnung und brachte den in Gründung befindlichen Ökumenischen Rat als Träger von Hilfsmaßnahmen ins Spiel. Die Entlohnung deutscher Kriegsgefangener, die Versorgung der deutschen Bevölkerung, Displaced Persons in der britischen Besatzungszone, die Schlüsselrolle Deutschlands an der Grenze der Machtblöcke und andere aktuelle Fragen waren die Themen Bells – auch das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in Russland gehörte dazu. Seine Abschiedsrede im Oberhaus hielt er Ende Januar 1958 zur Gefährdung der Religionsfreiheit in der DDR.
Hier und da wären Kommentare zum zeitgeschichtlichen Um­feld angemessen gewesen, die Einleitungen zu den einzelnen Texten stellen dafür keinen vollen Ersatz dar. Dass christliche Nichtarier ein schlimmeres Schicksal hatten als Juden, wie Bell meinte (33), kann man eigentlich nicht unkommentiert lassen. Die Texte zeigen einen geistlichen Aristokraten, dem seine Stellung es er­laubte, Politik zu machen.