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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1476–1478

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Müller, Markus

Titel/Untertitel:

Das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik 1922–1980. Von der katholischen Pädagogik zur Pädagogik von Katholiken.

Verlag:

Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh 2014. 698 S. m. 13 Abb. = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 126. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-506-77740-9.

Rezensent:

Heinz-Elmar Tenorth

Ein voluminöses Opus ist diese Dissertation aus der Tübinger Katholischen Theologie, aber der Leser wird durch die Lektüre von Markus Müllers so akribischer wie quellengesättigter, reflektierter und klar strukturierter Geschichte des katholischen »Deutschen Instituts für wissenschaftliche Pädagogik« (DIP) in Münster für Durchhaltewillen und Lektüreanstrengungen reich belohnt. Von der Gründung 1922 bis zu der vom NS-Staat erzwungenen Schließung 1938, von der Wiedererrichtung 1950 bis zum definitiven Ende 1980 erstreckt sich die Geschichte dieses Instituts. Seine wech selvolle Praxis dokumentiert die Ambitionen des katholischen Milieus, im 20. Jh. nicht nur über die Amtskirche und den Verbändekatholizismus des 19. Jh.s, sondern auch durch eigenständige wissenschaftliche Praxis, Forschung wie Lehre und Fortbildung, im wissenschaftlichen, pädagogisch-professionellen, bildungspolitischen und gesellschaftlichen Kräftespiel präsent zu sein. Aus der Kooperation mit den katholischen Lehrerverbänden entstanden, also noch den alten politischen Aktionsformen verbunden, entwi-ckelt sich das Institut in durchaus spannungsreicher Vernetzung – nach innen – mit dem katholischen Milieu, d. h. neben den Lehrern und den eigenständig agierenden Lehrerinnen mit den katholischen Akademikern, wie sie in der Görres-Gesellschaft präsent sind, dem Episkopat sowie – nach außen – mit der Theologie und der akademischen Erziehungswissenschaft, wie sie in den Universitäten und seit der Weimarer Republik auch in den preußischen pädagogischen Akademien etabliert ist, sowie mit der bildungspolitischen Öffentlichkeit, zugleich deutlich abgegrenzt vom preußischen, staatlichen »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht«. Diese Struktur wird von M. als Kommunikationsgemeinschaft interpretiert, die einer Netzwerk-Analyse zugänglich sei, die er dann auch zu leisten verspricht.
M. organisiert die Geschichte um mehrere wiederkehrende Themen: Die Organisationsgeschichte des Instituts, nach den Akteuren und der Struktur der Arbeit, eingeschlossen die immer prekäre Finanzierung, die Praxis der Institutsarbeit, das mit seinen zahlreichen Zweigstellen die Wortführer der katholischen Pädagogik (in »Führerkursen«) fortbilden und in einer wissenschaftlichen Ar­beit die katholische Pädagogik darstellen will, sichtbar u. a. in den Publikationen – u. a. der seit 1925 mit dem Institut edierten »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik«, dem »Lexikon der Pädagogik der Gegenwart« (1930/32) und dem unvollendet geblieben Großprojekt eines »Handbuchs der Erziehungswissenschaft«, ebenfalls vor 1933 begonnen. Intellektuell, politisch und wissenschaftlich bettet M. diese Praxis ein in den theoretischen und reflexiven Kontext der katholischen Pädagogik. Ihren frühen und folgenreichen Ausdruck findet sie zuerst – immer noch als katholische Pädagogik verstanden – in Otto Willmanns Idee einer paedagogia perennis, die sich aristotelisch-thomistisch begründet (im katholischen Milieu nie ganz aufgegeben) und in der Katholizität die »Vollendung des Menschentums« sieht; dann folgt – nach 1950 – die Zeit einer in Anlehnung an Nicolaus von Kues in eigenartiger Wendung neukantianisch begründete Pädagogik von Alfred Petzelt und seiner Schule, mit wenig Reputation nach außen; die findet sich für eine kurze Phase nach 1970 – als Pädagogik von Katholiken– in einer Erziehungswissenschaft, die sich in eigenständiger Forschung entfalten will, die wechselseitige Autonomie von Be­kenntnis und Forschung zu achten sucht und eine Bildungspolitik von Katholiken begründen soll, von einem der Direktoren des DIP, dem Bildungssoziologen Henrik Kreutz, in so paradoxer wie aktueller Form als »praxisinduzierte Grundlagenforschung« bezeichnet. Aber sowohl innerhalb der katholischen »christlichen Sozialwissenschaft« von Wilhelm Dreier, aber auch beim Episkopat ist diese selbstbewusst-autonome Form von Wissenschaft, die nach 1970 im Kontext der Bildungsreform entwickelt wird, schon bald wenig geachtet; sie gilt als zu distanziert und zugleich in Bezug auf die erwarteten Leistungen von Wissenschaft zwischen unmittelbarer Handlungsorientierung und Normbegründung nicht den Er­wartungen entsprechend. 1980 findet diese Praxis einer auch extern anerkannten Wissenschaft an den internen Querelen im Katholizismus ein Ende, jetzt gilt eher wieder »Wagenburg-Mentalität«.
M. stützt sich auf eine breite, aber auch heterogene Überlieferung. Während die Quellen für das DIP (nicht für den Kontext) in der Zeit vor 1938 eher schmal sind, kann er für die Erneuerungsphase, die mit Gutachten nach 1968 eingeleitet wird, vor allem das unschätzbar reiche Material nutzen, das sich im Bestand von Doris Knab findet, die nicht nur die Erneuerung programmatisch vorbereitet hat, u. a. gestützt auf ihre Erfahrungen im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und durch den späteren Bischof von Hildesheim, Josef Homeyer, für lange Zeit gefördert, sondern auch als Direktorin von 1970 bis 1980 die Praxis des DIP wesentlich bestimmt. Noch in diesen Abschnitten wird aber auch eine Eigenart von M.s Analyse sichtbar, die den relativ engen Rahmen charakterisiert, den er der »Kommunikationsgemeinschaft« gibt, als deren Zentrum er das DIP darstellt. Im Binnendiskurs der Katholiken noch relativ dicht verankert (noch hier aber ohne die Opposi-tion, wie sie nachkonziliar z. B. in »Publik« existierte), bleibt die Umwelt außerhalb des katholischen Milieus eher blass – nach 1970 wird z. B. weder die Rolle des Deutschen Bildungsrates noch die Bildungspolitik in ihrer Länderspezifik oder die Wissenschaft außerhalb des katholischen Milieus prägnant sichtbar. Die klare Relationierung zur zeitgenössischen Erziehungswissenschaft und Philosophie, wie sie vor 1933 in der Nähe zu Eduard Sprangers normativ eindeutiger Kulturpädagogik oder zum Philosophen Max Scheler für die Renaissance der Metaphysik sowie in der Distanz zum Rest dargestellt wird, ist später nicht gegeben.
Zugleich wird man auch für die Zeit vor 1938 nicht sagen können, dass diese Kommunikationsgemeinschaft tatsächlich mit Methoden der Netzwerkanalyse aufgeschlüsselt worden wäre. M. räumt selbst ein, dass er keine quantifizierende Vernetzung präsentiert, also z. B. Rekrutierungs- und Teilhabeformen für Pädagogische Akademien, Universitäten und Verbände oder für die Re-präsentanz in politischen Gremien liefert, wie sie ja z. B. für die Bildungspolitik nach 1920, angefangen bei der Reichsschulkonferenz bis hin zur Planung der Lehrerbildung, oder in den Beratungsgremien nach 1960 durchaus interessant wären. Seine Na­menlisten von Herausgebern oder Autoren oder dem Leitungspersonal des Instituts bleiben, so nützlich sie sind, doch zunächst nur Ausgangsmaterial, schon nicht mehr mit der Publikationspraxis jenseits von Publikationsfrequenzen wirklich eng verbunden. Die Konzentration auf das Binnenmilieu ist vollends zu bedauern, wenn man interkonfessionelle Interessen hat, also danach fragt, warum innerhalb des (akademischen) Protestantismus eine vergleichbare Geschichte der wissenschaftlichen Pädagogik nicht existierte (denn das Comenius-Institut ist durchaus anders strukturiert). Man kann vermuten, dass die latent protestantisch bleibende universitäre Erziehungswissenschaft schon leistet, was katholisch eigens organisiert werden muss, und dass weder Kulturkampf noch bildungspolitischer Konservativismus existierten, die das Verhalten von Kirche und Bildungspolitik, Staat und Pädagogik langfristig bestimmen. Aber man darf nicht unbescheiden werden und zu viel erwarten. M.s Geschichte des DIP ist künftig unentbehrlich, und zugleich hat sie die weiteren Fragen hinterlassen, die in einer Geschichte pädagogischer Reflexion und Forschung an der Schnittstelle sozialer Milieus, bildungspolitischer Praxis, außeruniversitärer wissenschaftlicher Institutionen und der Erziehungswissenschaft an Universitäten noch beantwortet werden müssen.