Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1474–1476

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Müller, Andreas

Titel/Untertitel:

»Kirchenkampf« im »erweckten« Kontext. Der Kirchenkreis Minden in der Zeit des Nationalsozialismus.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2013. 744 S. = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 40. Kart. EUR 36,90. ISBN 978-3-7858-0635-7.

Rezensent:

Frank Stückemann

Zu den Anführungsstrichen: Bei »Kirchenkampf« und »Erwe-ckung« handelt es sich – zumal in einer »Kernlandschaft des religiösen Fundamentalismus« (86) – um extrem zählebige Mythen und Legenden. Als Kollektivschöpfung ganzer Theologendynastien werden sie bis heute auch wider bessere Erkenntnis hartnäckig verteidigt. Schon der Eingangsteil »Zur Forschungsgeschichte« liest sich wie eine sukzessive Entzauberung. Vor allem Bernd Hey, ehemaliger Leiter des Landeskirchlichen Archivs Bielefeld, hob »die Vätergeneration ein Stück weit von ihrem hohen moralischen So-ckel« (26) und rief damit bei den Brüdern nicht unbedingt Begeis­-terung hervor. Deshalb sind Andreas Müllers territorialgeschichtliche Feinjustierung und Dokumentation methodisch konsequent wie menschlich nachvollziehbar: Kritische Ergebnisse zu den bei den o. g. Begriffen können aus Gründen des Selbstschutzes nur induktiv, nicht aber analytisch-deduktiv in einem Vortrag nackter Fakten entwickelt werden. M. hatte von 2003 bis 2009 seinen pfarramtlichen Entsendungsdienst im Kirchenkreis Minden abzuleis­ten, was den 744-Seiten-Umfang seines Werkes sowohl hinreichend erklärt als auch rechtfertigt.
Sein Grand-Œuvre beginnt nicht mit der üblichen Übernahme des erwecklich tradierten und zensierten Literaturkanons und des passend dazu ausgesuchten Aktenmaterials bei gleichzeitiger Ab­spaltung, Abwertung und Verdrängung nicht genehmer Quellen, sondern mit einer recht »weltlichen« Satire auf das damalige Minden: Hjalmar Kutzlebs Morgenluft in Schilda (Georg Westermann, Braunschweig/Hamburg/Berlin 1933).
Frömmelei und Satire sind kommunizierende Röhren; vgl. Molières Tartuffe (1664), Butlers Hudibras (1663–78), Swifts Tonnenmärchen (1704) oder Schwagers Dickius (1775). Doch Kutzlebs soziologische Sottisen scheinen ideengeschichtlich weniger bedeutsam denn die Persiflage Johann Heinrich Volkenings (1796–1877) als »Magister Dünkelbock« in Theodor Gieselers Religionszwist zu Bacherau von 1838 (Neudruck: Bielefeld 2014). Gieseler (1805–1888), Bruder des großen Bonner bzw. Göttinger Kirchenhistorikers, antizipiert mit dem dort satirisch aufgespießten positiven Rechtsverständnis der frommen Partei die Abkehr vom Naturrecht, welche 100 Jahre später vom Plettenberger Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) im Dienste des Nationalsozialismus drastisch vollzogen wurde. Vor allem erklärt das am Romanende entwickelte theologische Führerprinzip als »Erfolgsgarant« der Erweckung auch auf akademischer Ebene die »andauernde Affinität der Geistlichen der Bekennenden Kirche zum Nationalsozialismus« (105) und ihre »Terminologie, die der nationalsozialistischen frappant ähnelt« (111). Faschistoides Gedankengut wurde nicht nur im Verhältnis 1:1 adaptiert, wie es etwa das 1935 zu Berlin erschienene Werk Jesus der Herr; die Führervollmacht Jesu und die Gottesoffenbarung in Christo des der Bekennenden Kirche nahestehenden Theologen Karl Heim (1874–1958) nahelegt; hier spielt vielmehr prinzipielle Geistesverwandtschaft eine Rolle.
Das Trauma der Weltkriegsniederlage, die verhasste Republik, das Erbe des preußischen Militarismus bei den Posaunen- und Pietistengeneralen, Stöckerscher Antisemitismus, fundamentalistische Ablehnung von individuellem Vernunftgebrauch, Aufklärung, Emanzipation, Pluralismus, Demokratie und Freisinnigkeit finden sich in M.s Darstellung geradezu leitmotivisch. Vertreter der Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche erscheinen auf weite Strecken als eineiige Zwillinge, die sich keineswegs durch grundsätzliche Stellung zum Führerprinzip, sondern nur in der Frage nach dem »richtigen Führer« (Jesus Christus oder Adolf Hitler) unterscheiden. Archetypisch bekannte sich der Mindener Pfarrer Viktor Pleß (1894–1935) als »Frontkämpfer der Bekenntnisbewegung« und Herausgeber des lokalen Sonntagsblattes unmissverständlich zur neuen Zeit und ihrem Führer und betonte »auf der anderen Seite unermüdlich, dass man in dieser den ›obersten Führer‹ Christus nicht verdrängen sollte« (126). Reformierterseits vertrat man gar den »›totalen Herrschaftsanspruch‹ Christi« (342).
Wenn »zwischen den ›Deutschen Christen‹ und den ›Bekenntnischristen‹ ein Konsens im Patriotismus bestanden habe, ein heftiger Dissens hingegen im ›Bekenntnis‹« (87), so richtete sich Letzteres ganz im Sinne der Erweckung »gegen Rationalismus und Aufklärung. Die Erweckungsprediger Minden-Ravensbergs haben den Gegensatz zwischen Vernunft und Glaube bzw. Vernunft und ›Herzensglaube‹ sogar noch verschärft« (83; zum Antimodernismus solcher »Bekenntnisse« vgl. 255 ff.).
Vernunft und Denken waren allerdings auch kaum auf der anderen Seite zu finden. Der Antagonismus von ideologisch verengter Religion und politischer Ideologie wies vielmehr fließende Grenzen auf. Eine seriöse, freisinnige und ergebnisoffene wissenschaftliche Theologie hatte zwischen diesen beiden Extremen keine Chance.
Der weitgehend strukturkonservative »Kirchenkampf« im »er­weckten« Kontext beschränkte seinen »Widerstand« zumeist auf innerkirchliche Bereiche, wenn das Fortbestehen der eigenen Strukturen gefährdet war (vgl. 131). Man verfolgte die Judenheit zwar nicht rassistisch, spielte jedoch das Neue Testament gegen das Alte (150) und den Heiland der Welt gegen den Juden Jesus aus (153). Antisemitismus gehörte zum guten Ton und wurde zur Bekämpfung der »säkularistischen Moderne« durchaus gepflegt (175). Selbst die Taufe unter Preisgabe jüdischer Identität schützte nicht vor Deportation; von Bekennermut zeugt allenfalls die Betreuung Hinterbliebener (171 f.). Analoges gilt im Blick auf Freidenker (90 ff.), Sozialisten, Kommunisten oder liberaldemokratische Kräfte (114 ff.), jedoch auch hinsichtlich neuheidnisch-völkischer Ersatzreligion im Vorfeld und Gefolge des Dritten Reiches (177 ff.). Minderheitenschutz, Pazifismus und politischen Widerstand sucht M. bei Mindener Kirchengemeinden (285 ff.) wie auf Ebene des dortigen Kirchenkreises (399 ff.) weithin vergebens.
Der Streit beider Ideologien ging, verkürzend gesagt, nur um das Monopol der elitären Fuchtel frei nach Mt 12,30: »Wer nicht für mich ist, ist widerlich«. Lichtblicke in dieser bösen, finsteren Zeit bieten nicht die jeweiligen Parteien und Institutionen, sondern nur innerlich unabhängige Einzelpersönlichkeiten mit wachem Gewissen, Urteilskraft und Zivilcourage (vgl. Kapitel X., 489 ff.).
Bedeutung und Verdienst von M.s Werk bestehen in der nachhaltigen Demontage der »Kirchenkampf«-Legende. Die Konfrontation mit den historischen Fakten offenbart weitgehend Mythenbildung im Interesse erbaulicher Nachkriegsideologie. Selbst »Erweckung« hat künftig in Parenthese gesetzt und als lucus a non lucendo verstanden zu werden: Diese église des endormis ist durchaus kein Aushängeschild mehr. Sie gehört zum breiten Strom der Gegenaufklärung, hat ihre trüben Quellen im Wöllnerschen Hofobskurantismus und wurde nach der gescheiterten Revolution von 1848 als verlängerter Arm einer reaktionären preußischen Innenpolitik durchgesetzt. Entsprechend war der von ihr betriebene »Kirchenkampf«. Das wird allerdings dem geistigen Leerlauf der Gebetsmühlen mit dem Hohenlied auf das »segensreiche Wirken der Erweckung in Minden-Ravensberg« auch künftig wohl keinen Abbruch tun.