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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1459–1461

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Still, Todd D., and David Wilhite [Eds.]

Titel/Untertitel:

Tertullian and Paul. Pauline and Patristic Scholars in Debate.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & Clark 2013. 320 S. Geb. US$ 130,00. ISBN 978-0-567- 00803-9.

Rezensent:

Katharina Greschat

Kaum etwas wird von englischsprachigen Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern im Moment als so aufregend angesehen wie die Schriftauslegung in der frühchristlichen Zeit. Im deutschsprachigen Raum gibt es bereits den ersten, von Martin Meiser bearbeiteten Band zum Galaterbrief aus der ambitionierten Reihe Novum Testamentum Patristicum, die die Rezeption des gesamten Neuen Testaments in der antiken christlichen Literatur dokumentieren soll. Und auch an verschiedenen Sammelbänden, die die »New Perspective on Paul« mit der antiken Auslegung zusammenzuführen versucht, herrscht beileibe kein Mangel. Dennoch will der vorliegende Band den Auftakt für eine ganze Veröffentlichungsreihe (Pauline and Patristic Scholars in Debate) sein, die sich dezidiert mit der Paulusinterpretation aus neutestamentlicher und aus patristischer Perspektive beschäftigen wird. Noch in diesem Jahr soll ein weiterer Band mit dem Titel: The Apostolic Fathers and Paul folgen; für 2015 sind Irenaeus and Paul sowie The Apologists and Paul angekündigt und für das Jahr 2016 ist Origen and Paul geplant. Denn schließlich sei »Reception history […] one of the hip things happening in biblical studies at the moment« (16).
Dass es um ein echtes Gespräch zwischen den Disziplinen geht, wird bei der Gliederung des Bandes deutlich, der deutlich mehr als eine weitere Aufsatzsammlung sein möchte: Jedes Thema wird zunächst von einem patristischen Wissenschaftler erörtert, auf den der neutestamentliche Kollege direkt reagiert: »The respondents were asked to situate Tertullian’s views, as delineated by the previous essayist, within the scholarly discourse about Paul.« (XXIV) Dieses interessante Format deckt ein großes Themenspektrum ab, das von Tertullians Rekurs auf die paulinische Gotteslehre und Christologie ( Andrew B. McGowan mit der Reaktion von Michael F. Bird, 1–21), seiner Deutung der Schrift durch die regula fidei (Everett Ferguson mit der Weiterführung von Clare K. Rothschild, 22–44), der Rolle der Prophetie (David Wilhite mit der Replik von James D. G. Dunn, 45–78), über Tertullians Interpretation des wahren Israel (Geoffrey D. Dunn mit der Reaktion von John M. C. Barcley, 79–103), seiner Sicht auf das Martyrium (Candida Moss mit der Erwiderung von Todd D. Still, 104–126), der Diskussion um die Stellung der Frau (Elizabeth A. Clark mit der Respons von Margaret Y. MacDonald, 127–164), der Rolle des Bischofs (Allen Brent mit der Gegenrede von N. T. Wright, 165–194), der Problematik weltlichen Reichtums (He­len Rhee mit der Antwort von Warren Carter, 195–223), bis hin zum Paulusbild in der Auseinandersetzung mit seinem Erzrivalen Marcion (Stephen Cooper mit der Erwiderung von Bruce W. Longenecker, 224–258) und schließlich der Eschatologie (William Tabbernee mit der Reaktion von Ben Witherington III, 259–281) reicht. Ein Nachwort von Todd D. Still rundet diesen Durchgang durch Tertullians an vielen Stellen paulinisch geprägte Theologie ab (282–284).
Die Form des interdisziplinären Gesprächs reicht von weitgehender Zustimmung des wissenschaftlichen Partners bis hin zu vollkommener Ablehnung. Dass aber der Dialog allein noch kein Garant für einen fruchtbaren Austausch ist, zeigt etwa die Auseinandersetzung zwischen Allen Brent und N. T. Wright: Während Brent Tertullians Position im Hinblick auf das Bischofsamt in eine historische Entwicklungslinie einordnen möchte, wirft ihm Wright vor, das Gemeindekonzept des Paulus lediglich als die noch nicht hierarchisch strukturierte Ausgangssituation für sein eigenes Konzept wahrzunehmen: »Thus, the Pastorals come to represent a kind of middle stage, the beginning of the formalization of ministries, between the early, charismatic Paul and the later hierarchical and sacerdotal ministries that have so troubled Protestant theologians. Tertullian and the others then represent various positions in the differentiated attempt to reinhabit Pauline and other early models. That, substantially, is the story Brent tells« (188). Auf diese Weise – so Wright – könne Paulus immer nur durch eine ganz bestimmte, protestantisch gefärbte Brille, aber nie eigenständig wahrgenommen werden. Insofern ist mit Händen zu greifen, dass zumindest diese beiden Gesprächsteilnehmer keine Diskussion führen, sondern nebeneinanderher reden.
Durchaus gewollt und besonders interessant ist, dass einige Tertulliantexte häufiger und aus verschiedenen Fragerichtungen behandelt werden, wie etwa der besonders ergiebige Beginn des fünften Buches von Adversus Marcionem. Dieser ist für Andrew McGowan: »[…] the North African apologist’s most sustained en-gagement with the Pauline canon as such« (3) und er wird von Geoffrey Dunn auch für Tertullians Sicht auf das Judentum analysiert: »[…] Tertullian moves through Paul letter by letter, defending his notion against Marcion« (89) und will vor allem zeigen, dass Paulus an den Schöpfergott glaubte und ebendieser Gott das Ende des alten und die Einsetzung eines neuen Gesetzes angekündigt hat (97). Sehr differenziert gelingt es schließlich Stephen Cooper, Tertullians rhetorische Strategie gegenüber der marcionitischen Inbesitznahme des Apostels zu erhellen. Bisweilen – und das erscheint aufschlussreich – bediente sich Tertullian sogar ganz ähnlicher Strategien wie der Apostel. So kann Claire K. Rothschild plausibel machen, dass Tertullian im 44. Kapitel von de praescriptione haereticorum ein vergleichbares Ziel verfolgt wie Paulus in der sogenannten »Narrenrede« (2Kor 10–12), um das Anliegen der jeweiligen Gegner ad absurdum zu führen: »Tertullian’s attack on his opponents comes to a climax in a parody of the heavenly courtroom on the Day of Judgement when Christ, as errant and corrupt judge, botches their trial.« (43)
Natürlich darf in einem Buch, das sich mit Tertullians Theologie beschäftigt, auch die Erörterung seiner Wendung zum Montanismus nicht fehlen. Vollkommen zu Recht stellt Wilhite fest, dass sich die Forschung in den letzten Jahren einig geworden ist, Tertullian nicht länger als Vertreter einer schismatischen Gruppierung abgetrennt von der karthagischen Gemeinde anzusehen (45). Vielmehr – so jedenfalls Wilhites Ergebnis – sei von einer montanis­tischen Neuausrichtung der Pneumatologie bei Tertullian nichts zu erkennen, wenn man sie auf dem Hintergrund des paulinischen Denkens liest. Das wird auch von Wilhites Gesprächspartner James D. G. Dunn – wie der schon genannte N. T. Wright ein wichtiger Vertreter der »New Perspective on Paul« – bestätigt und präzisiert (78). In ähnlicher Weise beobachtet auch Candida Moss, dass Ter tullians Martyriumstheologie keine spezifisch montanistische, aber auch keine ausschließlich paulinische Signatur erkennen lässt. Dennoch nutzt Tertullian interessanterweise die Figur des verfolgten und leidenden Paulus als Argument gegen die valentinianische Abwertung des Martyriums (117 f.). Und auch William Tabbernee als einer der besten Kenner des Montanismus stellt fest, dass Tertullian seine eschatologischen Vorstellungen auf einer paulinischen Basis entwickelt, doch darüber hinaus ganz eigene Akzente setzt.
Warum sollen neutestamentliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich intensiv mit Paulus beschäftigen, also Tertullian lesen, fragt Todd D. Still am Ende dieses Bandes und gibt darauf folgende Antwort: »Reading Tertullian reading Paul enables one to become a more sympathetic, strategic, and skilled reader of the apostle whom Tertullian (and not a few others have) loved.« (284) Man darf also gespannt sein, ob das in gleicher Weise auch von der Lektüre der Apostolischen Väter, Irenäus, den Apologeten und Origenes gesagt werden kann. Lange wird man nicht mehr warten müssen, denn dieser Dialog zwischen Patristikern und Neutestamentlern läuft bereits und der Band zu den Apostolischen Vätern soll noch in diesem Jahr erscheinen.