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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

722–724

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Levison, John R.

Titel/Untertitel:

The Spirit in First Century Judaism.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. XIV, 302 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des Antiken Judentums und des Urchristentums, 29. Lw. hfl 158,-. ISBN 90-04-10739-8.

Das Verständnis des Geistes im antiken Judentum ist ein komplexes und in der Forschung bislang meist nur für einzelne Autoren und Textcorpora wie z. B. Philo oder Qumran oder im Interesse des Verständnisses der Geist-Aussagen des Neuen Testaments behandeltes Forschungsgebiet. John R. Levison widmet dem Thema auf der Basis einer Reihe von Vorstudien eine Monographie und würdigt damit die frühjüdischen Geist-Konzeptionen dezidiert nicht nur als ,Vorhof’ der urchristlichen Aussagen, sondern als vielgestaltigen Ausdruck einer theologisch und spirituell fruchtbaren Epoche von eigenem Wert.

Methodisch sorgfältig begrenzt L. den Gegenstand seiner Untersuchung auf drei Autoren des 1. Jh.s n. Chr., Philo, Josephus und den pseudo-philonischen Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB). In drei je selbständigen Teilen seiner Arbeit versucht er, in das Dickicht der vielfältigen Geist-Aussagen präzise angelegte Schneisen zu schlagen. L. setzt an bei der Rezeption ausgewählter Schriftstellen bei den drei Autoren, um die interpretatorischen Veränderungen und die dafür relevanten Einflüsse herauszuarbeiten. Dabei rekurriert er stets zuerst auf frühjüdische Parallelen (LXX, Pseudepigraphen, Qumrantexte), um dann, wo diese den Sachverhalt nicht zureichend erklären können, den Einfluß zeitgenössischer griechisch-römischer Konzeptionen zu bestimmen. Sachgemäß werden letztere nicht primär den klassischen Texten z. B. Platos, sondern den Werken zweier relativ zeitnaher Autoren, Cicero und Plutarch, entnommen.

Der erste Teil ("An Anomalous Prophet", 25-80), thematisiert die jeweilige Sicht der prophetischen Inspiration Bileams, die ja im biblischen Text einmal auf einen Engel (Num 22,35), dann aber auf den Geist Gottes (Num 24,2; LXX Num 23,7) zurückgeführt wird. Philo und Josephus verstehen diese Inspiration als Verlust mentaler Kontrolle und ,Besessensein’ Bileams von dem mit dem Engel identifizierten Geist, der Bileams Mund gebraucht. Dies läßt sich aus biblischen Traditionen wie 1Sam 10-19 nur unzureichend herleiten und entspricht sehr viel mehr dem platonischen Inspirationsverständnis (vgl. Platon, Symp 202d-e), wie es zeitgenössisch in Plutarchs Reflexionen über das delphische Orakel (z. B. Def. Orac.) begegnet. Die Bileam-Deutung im LAB geht ganz andere Wege: LAB 18,10 f. sagt im Gegensatz zum Bibeltext, daß der "heilige Geist" nicht in Bileam blieb. Hier bezeichnet "Geist" wie in Gen 6,3 den lebenspendenden Odem Gottes, ja das Leben selbst. Diese Verbindung von ,heiligem Geist’ und ,Leben’ hat ihre nächsten Parallelen im palästinischen Judentum, z. B. in der Damaskusschrift (CD 5,11-14; 7,4).

Der zweite Untersuchungsgang ("An Eclectic Era", 81-164) erhebt an verschiedenen biblischen Traditionen, wie der Sachverhalt gedeutet wurde, daß der Geist einzelne biblische Gestalten mit übermenschlichen Kräften erfüllt hat: Die Interpretation der Taten der Richter Kenaz und Gideon im LAB beläßt es bei der Kombination unterschiedlicher Bibelstellen, während Philos Zeichnung der Abrahamgestalt, insbesondere die durch den Geist bewirkte Verwandlung zum machtvollen Rhetor (Virt. 217 f.) den Einfluß griechisch-römischer rhetorischer Konzepte der Zeit verrät. Die klare Unterscheidung zwischen der palästinisch-jüdisch geprägten ’rewritten Bible’ des LAB und den stärker hellenistisch geprägten Autoren Philo und Josephus läßt sich jedoch nicht so eindeutig durchhalten: So zeigt sich in der Analyse der Beauftragung Josuas LAB 20,2 f. und v. a. der Vision des Kenaz LAB 28,6, daß die hier vorliegende Beschreibung der Geisteswirkungen, insbesondere die Vorstellung der prophetischen Ekstase in Todesnähe trotz einiger frühjüdischer Parallelen letztlich doch nur von griechisch-römischen Konzeptionen her erklärbar sind. Fast alle über die biblische Tradition hinausgehenden Elemente dieser pseudo-philonischen Textstücke sind in den Diskussionen der prophetischen Inspiration bei Cicero (Div.) und Plutarch (Def. Orac.) vereint. Auf der anderen Seite zeigt die Analyse der Reflexionen Philos über den spirituellen Aufstieg des Weisen (Plant. 18-26; Gig. 19-55), daß stoische und platonische Konzeptionen bei diesen Autoren nicht unkritisch, sondern nur gebrochen rezipiert werden. Gegenüber dem Menschengeist bleibt Gottes Geist ein souveränes Gegenüber, dem allein die Macht zukommt, den Weisen über sich hinaus zu heben.

Der dritte Untersuchungsgang ("An Extraordinary Mind", 167-214) behandelt die Konzeption mantischer Erkenntnis und inspirierter Schriftauslegung bei Josephus und Philo, die z. T. aus Traditionen israelitischer Weisheit gespeist sind, andererseits auch bemerkenswerte Parallelen in der griechisch-römischen Tradition besitzen, v. a. in der Diskussion über die innere Stimme, das daemonion, des Sokrates.

Abschließend (217-259) rekapituliert L. die exegetischen Einsichten seiner Arbeit, stellt zusammen, aus welchen Quellen sich die verschiedenen Geist-Konzeptionen der Zeit speisen konnten, und deutet weiterführende Perspektiven an: Bei den drei behandelten Autoren zeigt sich, daß jeder von ihnen eine Pluralität disparater Geist-Konzeptionen aufzugreifen vermag. Ihre Rezeption erscheint dabei als eklektisch, kreativ und kontextbezogen. Es wäre daher wohl falsch, von einem jüdischen oder auch urchristlichen Autor des 1. Jh.s eine völlig einheitliche und widerspruchsfreie Konzeption der Wirkungen des Geistes zu erwarten. Umgekehrt heißt dies methodisch, daß man aus dem Vorliegen konzeptioneller Diskrepanzen im Werk eines Autors nicht zwingend auf das Vorliegen unterschiedlicher Quellen oder Schichten schließen kann. Bei allen drei behandelten Autoren zeigt sich weiter die eminente Bedeutung, die prophetischen Phänomenen in Verbindung mit dem Geist zugeschrieben wird. Man wird daher der alten Theorie vom Schwinden des prophetischen Geistes im nachbiblischen Judentum mit großer Zurückhaltung begegnen müssen (s. dazu auch J. R. Levison, Did the Spirit Withdraw From Israel? A Evaluation of the Earliest Jewish Data, NTS 43 [1997], 35-57). Doch kommt dem Geist auch in bezug auf andere Phänomene eine zentrale Bedeutung zu, so daß es auch nicht angeht, den Geist im Frühjudentum einseitig als "Geist der Prophetie" (D. Hill) zu charakterisieren und andere Geisteswirkungen zu marginalisieren. So wird nicht zuletzt auch die bei der Schriftinterpretation erforderliche Weisheit (s. 4 Esra 14,47) von Philo auf die Leitung und Erleuchtung durch den Geist zurückgeführt (Somn II 252). Daher läßt sich auch die alexandrinisch-jüdische Schriftauslegung als "charismatische Exegese" bezeichnen.

Das von L. gezeichnete Bild der Wirkungen des Geistes ist sowohl hinsichtlich der Vielfalt der Phänomene als auch im Blick auf die religionsgeschichtlichen Bezüge außerordentlich komplex. Dabei ist zu beachten, daß die vorgeführten Untersuchungen noch kein Gesamtbild zu zeichnen erlauben, sondern nur als Feldstudien in einem begrenzten Ausschnitt des antiken Judentums zu verstehen sind. Die Einschränkungen betreffen dabei die Wahl der Autoren, der Zeit und auch den Gegenstand der in der konkreten Schrift-Interpretation vorliegenden Geist-Aussagen. Die Stärke der Arbeit L.s ist diese methodische Beschränkung bei gleichzeitiger hoher exegetischer Präzision. Ein Gewinn für die Forschung bilden insbesondere die Untersuchungen auf dem bisher eher vernachlässigten Feld des LAB (s. auch J. R. Levison, Prophetic Inspiration in Pseudo-Philo’s Liber Antiquitatum Biblicarum, JQR 85 [1995], 297-329). Beachtlich ist weiter der Nachweis, daß sich eine eindeutige konzeptionelle Differenz zwischen dem palästinisch-jüdischen LAB und den stärker hellenistisch geprägten Autoren Philo und Josephus nicht erweisen läßt. Alle drei sind auf je unterschiedliche Weise von griechisch-römischen Konzeptionen beeinflußt, und alle drei halten in unterschiedlichem Maß an biblisch vorgegebenen bzw. palästinisch-jüdischen Traditionen und Konzeptionen fest. Diese Beobachtung dürfte auch für die religionsgeschichtliche Beurteilung neutestamentlicher Autoren wie z. B. des Paulus von Bedeutung sein. L. gebührt Dank für seine methodisch reflektierte, lehrreiche und stilistisch ansprechend geschriebene Monographie. Auf das große Kompendium zum frühjüdischen Verständnis des Geistes und seiner Wirkungen werden wir noch eine Zeitlang warten müssen.