Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1449–1451

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schwartz, Daniel R.

Titel/Untertitel:

Reading the First Century. On Reading Josephus and Studying Jewish History of the First Century.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XV, 204 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 300. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152187-4.

Rezensent:

Sören Swoboda

Als Quelle zur Rekonstruktion der Geschichte des Judentums im 1. Jh. n. Chr. ist Josephus kaum zu überschätzen. Dass sich Daniel R. Schwartz im Kern mit der Frage auseinandersetzt, wie sich dem Historiker anzunähern sei, um Licht in jene Zeit zu bringen, ist folgerichtig – und kaum einer geeigneter, sich der komplexen Aufgabe anzunehmen, als der zur internationalen Elite der Erforschung des Antiken Judentums zählende Professor of Jewish History.
Als Ausgangspunkt stellt er sich gegen die Verneiner jedweder Möglichkeit, »Historisches« auf Basis von Texten zu rekonstruieren. In Würdigung archäologischer oder mittels von Vergleichen indirekt schließender Methoden macht er sich für jene Quellen stark, die direkt über den zu erhellenden Sachverhalt berichten (VII f.). Knackpunkt sei eine sachgemäße Analyse. Diese arbeitet der Hauptteil nicht im Sinne eines abstrakten, Regeln abhandelnden Leitfadens heraus, sondern an konkreten Textproblemen, um in einem verständlichen Diskurs über Lösungswege beinahe nebenbei methodische Kompetenzen zu vermitteln. Dass man dem Buch anmerkt, dass es aus Lehrveranstaltungen erwuchs (IX f.), ist alles andere als ein Nachteil.
Die Gliederung bedient sich eines einprägsamen Bildes: S. rückt den Text ins Zentrum und nähert sich ihm nacheinander aus fünf Blickrichtungen: »Beneath the Text« (Kapitel 2) erörtert die textkritische Suche nach dem eigentlichen Text, »Within the Text« (Kapitel 3) seine Bedeutung im unmittelbaren Kontext und Zusammenhang des Gesamtwerkes. Wann z. B. sind Aussagen als literarische Topoi zu verstehen und inwiefern lässt das Schlüsse über ihre Historizität zu? Dem kurzen Blick »Behind the Text« (Kapitel 4), der Wege aufzeigt, verschollene Quellen aufzuspüren, die Josephus nicht benennt, um anhand der Redaktionen »to discover what happend« (96), folgt der umfangreichste Teil: »Among the Texts« (Kapitel 5) bringt die Bedeutung anderer Quellen (Lukas, Philo, Epigraphik, Rabbinica, röm. Historiker, Bellum vs. Antiquitates/Vita) ins Spiel. S. resümiert mit dem »Above the Texts« (Kapitel 6) liegenden »Big Picture«: Es biete sich ein komplexes, inhomogenes Bild des 1. Jh.s n. Chr., das im Kern geprägt war durch die Abkehr von einem den jüdischen Staat voraussetzenden Judentum (172.177). Da vieles, was er schreibt, »can be read as footnotes exemplifying Momigliano’s views«, bietet ein Appendix die Übersetzung des programmatischen Aufsatzes »The Rules of the Game in the Study of Ancient History« (1975).
Trotz Anfragen an Formulierungen wie »what really happend« (X.2) ist S.s Plädoyer für historische Fragestellungen und den Wert antiker Geschichtswerke (25 f.) ebenso zu begrüßen wie das me-diatorenhafte Zusammenführen vermeintlich kontrahierender Zu­gänge zu Josephus im Aufzeigen von Chancen und Grenzen. Scharfsinnig entlarvt er den Ursprung mancher Fehlurteile als Resultat interessengeleiteter Forschung, insbesondere die Tendenz von an Josephus Interessierten zu negativen Urteilen hinsichtlich der Historizität seiner Angaben, während nach »Historischem« Fragende zu positiven neigten (2–5.8 f.95 f.). Dabei trägt er der Tatsache Rechnung, dass das mit Mason verbundene Credo der letzten 30 Jahre, den jahrhundertelangen »Missbrauch« des Josephus als »Steinbruch der Geschichte« zu stoppen, um sich dem Autor zuzuwenden, nie die Frage ignorierte, welche Konsequenzen daraus mit Blick auf die Historizität seiner Aussagen erwachsen, die durchaus Vergangenes zu erhellen im Stande seien (4). Selbst der seit Hölscher und Bloch von vielen totgeglaubten Quellenkritik verhilft S. zu ihrem Recht (12 f.94–96).
All das mag ebenso selbstverständlich sein wie die relativ einfachen methodischen Impulse. Doch die Unsicherheit im Umgang mit Josephus rechtfertigt die Studie, die eigentlich ein Lehrbuch ist. Sie legt nicht nur den Finger in die richtigen Wunden (Was z. B. lehren uns redaktionelle Bearbeitungen erhaltener Vorlagen über den Autor? [9.95]), sondern glänzt durch didaktische Aufbereitung. S. wählt den richtigen Weg, die komplexe Methodik durchweg und ausführlich anhand konkreter Textprobleme zu erörtern. Kapitel 1, dessen Beispielanalysen bereits in Fragen und Lösungsansätze der späteren fünf Perspektiven einführt, erleichtert den Zugang und bietet nebenbei einen Überblick über die Geschichte der Josephus-Forschung seit dem 19. Jh.
Der eigentliche Gewinn liegt aber nicht in den methodischen Anregungen, sondern in den Ergebnissen der messerscharfen Analysen selbst. Zu verschiedensten teils hochbrisanten historischen Themen (z. B., ob die Äußerungen über Johannes d. Täufer auf Josephus zurückgehen [106–108] und zur Datierung des Quirinius-Zensus [110–115]) entwickeln sie Fragen und Thesen mit Relevanz sogar für aktuelle religiöse Diskurse. Der innovative Ansatz, Methodenbuch und eigenständige Forschungsarbeit zu vereinen, bereichert. Schade nur, dass diese Schätze weder aus Einleitung noch Gliederung ersichtlich werden. Dem paradoxen Titel jedenfalls ist beizupflichten: Das 1. Jh. kann, ja muss gelesen werden.