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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1446–1448

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias, Merkt, Andreas, and Joseph Verheyden [Eds.]

Titel/Untertitel:

Ancient Perspectives on Paul.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 442 S. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 102. Geb. EUR 99,99. ISBN 978-3-525-59359-2.

Rezensent:

Josef Lössl

Dieser aus einer von 27. bis 29. Oktober 2010 in Regensburg stattgefunden habenden Tagung über »Ancient und Modern Perspectives on Paul« hervorgegangene Band ist der von James Dunn initiierten Forschungsrichtung der New Perspective on Paul verpflichtet, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten neue Zugänge zu Paulus’ jüdischer Identität und zum frühchristlichen Kontext seines Werks und seiner Rezeption eröffnet hat. Insgesamt 15 Beiträge sind über drei Abschnitte verteilt.
Der erste Abschnitt trägt den Titel »Paul’s Conversion«, der zweite »Grace and Works«, der dritte »Paul and the Fate of Israel«. Die vier Beiträge des ersten Abschnitts beschäftigen sich mit Augustins und Johannes Chrysostomus’ Lektüre der Reflexion des Paulus auf seine Bekehrung in Phil 3 (Samuel Vollenweider), der altkirchlichen Wahrnehmung der Bekehrungsberichte in Apg 9; 22 und 26 (Martin Meiser), der »Indienstnahme« der Bekehrung in den Pastoralbriefen (Hans-Ulrich Weidemann) und »Perspektiven auf das Damaskusgeschehen in der neueren Paulusforschung« (Matthias Konradt).
Der zweite Abschnitt enthält sieben Beiträge: Dale C. Allison, Jr. setzt sich mit der antipaulinischen Polemik in Jak 2,14–26 auseinander, Tobias Nicklas mit der Frage nach der Paulusrezeption in der Apokalypse des Paulus, Jürgen Wehnert mit dem Antipaulinismus in den Pseudoklementinen, Judith L. Kovacs mit der Reaktion des Clemens von Alexandrien auf die valentinianische Paulusexegese, Giancarlo Pani mit den antiken Wurzeln der Paulusexegese Luthers und Andreas Lindemann mit dem Thema »Christusglaube und ›Werke des Gesetzes‹ bei Paulus«. Der Beitrag von James Dunn, mit dem dieser Abschnitt schließt, trägt den Titel »Paul, Grace and ERGA NOMOU«.
Die vier Beiträge des dritten Abschnitts stammen von Francesca Coccini (zur Sendung Israels im Römerbrief nach Origenes), Pierluigi Lanfranchi und Joseph Verheyden (zum Motiv der Beziehung zwischen Esau und Jakob nach Röm 9,10–13 in der frühchristlichen antijüdischen Literatur), Michael Theobald (zur Rezeption des Römerbriefs in 1 und 2Tim) und Bert Jan Lietaert Peerbolte (»The Reception of Paul in Modern Philosophy«).
Ein Stellen- und ein Sachindex machen den Band als Ganzen gut benutzbar. Überhaupt besticht er als ein einheitlich konzipiertes Buch und nicht nur als eine Ansammlung einzelner Studien. Einige wenige Beispiele müssen an dieser Stelle jedoch genügen, um dies ein wenig zu illustrieren.
Die jeweils letzten Beiträge eines jeden Abschnitts setzen sich etwas allgemeiner mit neueren Forschungsentwicklungen bezüglich der in den Abschnitten behandelten Themen auseinander. Matthias Konradts Beitrag am Ende des ersten Abschnitts zeigt Variable und Konstanten in der neueren Erforschung des »Damaskusgeschehens« an: Eine naiv historische Lektüre der entsprechenden Abschnitte in Apg 9,3–19; 22,6–16; 26,12–18 sei heute natürlich längst überholt und revidiert. Die Rede sei eher von einer lukanischen »Bekehrungslegende« (98). Dennoch ließen sich auch bei kritischster Analyse geschichtliche Querverbindungen zu Gal 1,15 f., der als am authentischsten geltenden Quelle, herstellen. Obgleich die Vorstellung von »Bekehrung« als eines Religionswechsels von der neueren Forschung als anachronistisch abgelehnt werde, finde gerade die Vorstellung einer »Lebenswende« verstärkten Anklang (115 f.; vgl. auch 34–36 im Beitrag von Martin Meiser). Besonders empfehlenswert an Konradts Beitrag ist die ihm beigefügte ausführliche Bibliographie.
Andreas Lindemann und James Dunn beschließen den zweiten Abschnitt mit zwei sehr ähnlichen Beiträgen zum Verhältnis von Christusglaube bzw. Gnade zu Werken des Gesetzes. Sie sind gerade wegen ihrer Ähnlichkeit sehr interessant (im Vergleich) zu lesen. Lindemann streicht heraus, dass es bei der traditionellen Gegenüberstellung von Glaube und Werken weder einfachhin um Glauben, sondern um Christusglauben, noch einfachhin um Werke, sondern speziell um Werke des Gesetzes gehe (234 f.). Der Bezug sei sowohl für Juden als auch für Heiden, insofern beide Gruppen von der Predigt des Paulus angesprochen seien, relevant. Auch wenn es für Juden nicht darum gehe, erst Angehörige des Gottesvolkes zu werden, hätten sie sich dennoch darum zu sorgen, dass sie es bleiben. Für Heiden gehe es natürlich darum, erst dazu zu werden, und zwar durch den Glauben an Christus. Aber für sie sei die entscheidende Einsicht, dass dieser Glaube Geschenk Gottes sei (262). James Dunn ergänzt hierzu folgende Beobachtung: Da Israels Erwählung ursprünglich den Ausschluss der Heiden bedeutet habe, habe der Einschluss der Heiden durch die Universalisierung der Erwählung in Christus eine Negation bestimmter Aspekte der ursprünglichen Erwählung bedeutet. »Werke des Gesetzes« gemäß Röm 11,6 seien demnach ganz bestimmte, Israel gegen alle anderen Nationen definierende Aspekte, die, so die Implikation von Röm 11,1, nicht dazu missbraucht werden dürften, sogar Gottes Treue zu Israel selbst auf den Prüfstand zu stellen (274 f.).
Bert Jan Lietaert Peerboltes Aufsatz schließlich sticht heraus, weil er sich weniger mit exegetischen, ja nicht einmal mit theologischen, sondern mit philosophischen Fragestellungen auseinandersetzt. Die Konzentration liegt auf drei Denkern: Jacob Taubes, Alain Badiou und Giorgio Agamben. Taubes näherte sich Paulus aus der Perspektive der »politischen Theologie« Carl Schmitts und sah in Paulus eine Art antiimperialistischen Agitator und apokalyptischen Propheten, der im Kontext des Ausnahmezustands der Naherwartung die Aufhebung der gesetzlichen Ordnung und die Einführung eines charismatischen Führerprinzips propagierte (417–419). Für Badiou ist Paulus der Begründer des humanistischen Universalismus, ein direkter Vorläufer Kants (420–422). Agamben spitzt in seinem »Römerbriefkommentar« Taubes’ Ansatz zu und betrachtet Paulus als einen radikalen Denker, für den »im Aus-nahmezustand eine Unterscheidung von Gesetzeserfüllung und -übertretung unmöglich geworden ist« (424).
Die Paulusauslegung dieser drei Denker erfuhr in den letzten Jahren vielfache, zum Teil heftige Kritik. Umso wohltuender ist es, wenn ein ausgewiesener Neutestamentler wie Lietaert Peerbolte sie auch positiv würdigt. Taubes, so Lietaert Peerbolte, habe dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit der Forscher auf den politischen Kontext der Paulinen zu lenken. Seine Tiefenanalyse der Theozentrizität paulinischen Denkens sei außerdem theologisch höchst anregend. Dasselbe gelte für Paulus’ Universalismus, den der Atheist Badiou zwar gerne reduktionistisch (»rein« humanistisch) ge­deutet hätte, was aber grundsätzlich hinterfragbar sei (427). Und schließlich leiste auch Agambens Begriff von Paulus als einem messianischen Juden einen interessanten Beitrag zur schwierigen Debatte über Paulus’ Verhältnis zum Gesetz (ebd.).
Damit erweist sich der vorliegende Band sowohl als sehr konzentriert auf drei ganz spezielle, eng zusammenhängende Themenbereiche in der Erforschung der Paulinen und ihrer frühchristlichen Rezeption als auch als durchaus offen für neue Ansätze und Zugänge zu diesen Themenbereichen und ist somit in jeder Hinsicht sehr zu empfehlen.