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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1444–1445

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bovon, François

Titel/Untertitel:

Dans l’atelier de l’exégète. Du canon aux apocryphes.

Verlag:

Genève: Les Editions Labor et Fides 2012. 399 S. = Chris­tianismes antiques. Kart. EUR 37,00. ISBN 978-2-8309-1451-1.

Rezensent:

Tobias Nicklas

Der im Jahr 2013 verstorbene François Bovon gehörte sicherlich zu den bedeutendsten Exegeten seiner Generation. Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren mehrere Bände mit auch weniger be­kannten Aufsätzen aus seiner Feder erschienen, ist daher sehr zu begrüßen. Die hier vorgelegte Sammlung in französischer Sprache dokumentiert zudem das B. zeitlebens wichtige Interesse, dem mehr und mehr zu beobachtenden Auseinanderdriften der exegetischen Welten des deutschen, englischen und vor allem romanischen Sprachraums entgegenzuwirken. Entsprechend der Arbeitsschwerpunkte B.s sind im vorliegenden Band sicherlich vor allem die Beiträge zum lukanischen Doppelwerk einerseits wie zu christlichen Apokryphen (vor allem apokryphen Apostelakten) andererseits hervorzuheben, hinzu kommen jedoch auch einzelne Arbeiten zur frühesten Geschichte der Christologie, zu Paulus oder zum Corpus Johanneum. Natürlich erlaubt der Rahmen einer Rezension nur einige davon vorzustellen.
Bereits mit dem ersten Beitrag scheint mir ein bedeutender Wurf vorzuliegen – in einer Auseinandersetzung mit den frühesten Christologien arbeitet B. zwei Linien heraus: Während er beim his­torischen Jesus selbst von »impliziter« statt »expliziter« Christologie ausgeht, differenziert er zwischen einer Jerusalemer und einer antiochenischen Linie der frühesten Entwicklung christologischer Deutungen: Während der Jerusalemer Beitrag darin gelegen habe, die messianische Bedeutung Jesu im Osterereignis bestätigt zu se­hen, habe Antiochien die entscheidenden Impulse für den Gedanken der Präexistenz und Inkarnation Christi geliefert (vgl. 27 f.).
Gewichtige Arbeiten beschäftigen sich mit der Bedeutung von Namen und Zahlen im frühesten Christentum, der Israeltheologie des Paulus oder der Tora im lukanischen Doppelwerk, lukanischer Soteriologie wie der Auferstehungstheologie des Lukas. Besonders bedeutsam scheint mir zudem B.s in den vergangenen Jahren wachsendes Interesse an rezeptionsgeschichtlichen Fragen – dabei sind immer wieder Verbindungslinien zwischen den Schwerpunkten »Lukas – Apg« sowie »Apokryphen« gelegt. Bedeutend (und vielleicht noch zu wenig rezipiert) scheint mir dabei B.s Beitrag zu der Erkenntnis, dass altkirchliche Rezeptionsgeschichte neutestamentlich gewordener Schriften sich nicht alleine auf die großen altkirchlichen Autoren beschränken darf, sondern auch die narrativen Rezeptionen und Fortschreibungen, wie sie sich in apokryphen bzw. apokryph gewordenen Literaturen finden, zu berücksichtigen sind: Exemplarisch ist hierzu der Beitrag »Le discours missionaire de Jésus. Réception patristique et narration apocryphe« (200–215). Dass die Linien jedoch keineswegs einlinig von (proto-) »orthodox« zu »apokryph« verliefen, sondern dass (und wie) durchaus auch umgekehrt apokryphe Schriften von Autoren der sogenannten »Proto-Orthodoxie« rezipiert wurden, zeigt der kurze und doch meisterliche Beitrag »Réception apocryphe de l’Évangile de Luc et lecture orthodoxe des Actes apocryphes des apôtres« (238–246). Hier wie auch anderswo wird die bewundernswerte Klarheit deutlich, mit der B. althergebrachte Kategorien in der historischen Beschreibung des antiken Christentums in Frage stellte, zu überwinden suchte und damit echte Paradigmenwechsel anbahnte. Hier hätte die Sammlung eventuell noch durch die Hinzunahme der Arbeiten B.s zur Überwindung der allzu eindimensionalen und historisch problematischen Gegenüberstellung der Kategorien »kanonisch« und »apokryph« an Profil gewinnen können.
Besonders wertvoll sind schließlich einige der Beiträge B.s zur Apokryphenforschung selbst: Der vorliegende Band gewichtet be­sonders Neuentdeckungen unbekannter Spuren apokrypher Literaturen in der patristischen Literatur (Une nouvelle citation des Actes de Paul chez Origène, 249–252), aber auch die Edition bisher unbekannter Fragmente und Manuskripte wichtiger Schriften (Prière et apocalypse de Paul dans un fragment inédit conservé au Sinaï, 297–315; Un fragment inédit des Actes de Pierre, 316–356); die beiden letzten Arbeiten sind in enger Zusammenarbeit mit Bertrand Bouvier entstanden. Daneben finden sich auch sehr grundlegende Übersichtsarbeiten wie zur (für die Beurteilung dieser Texte ja entscheidenden) Bedeutung von Wundern in apokryphen Apostelakten oder eine meisterliche Analyse des Briefs des Petrus an Jakobus, der den Pseudoclementinischen Homilien vorausgeht.
Immer wieder fällt nicht nur die Präzision wie das ausgewogene Urteil B.s auf, sondern auch die bewundernswerte Kenntnis auch wenig diskutierter Quellen, die es erst ermöglicht, neue Perspektiven zu entwickeln. Wo Erforschung des frühen Christentums wie neutestamentliche Exegese versucht, der faszinierenden Vielfalt frühchristlichen Denkens so vorurteilsfrei wie möglich und jenseits späterer Kategorien nachzugehen, dürfte am Werk B.s auch in Zukunft kaum ein Weg vorübergehen. Der vorliegende Band wird hier sicherlich einen wichtigen Beitrag liefern – wegen der starken Konkurrenz englischer Übersetzungen der Arbeiten B.s wahrscheinlich aber vor allem im französischen und italienischen Raum.