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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1418–1420

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 4: 1650–1750 – Zeitalter des Konfessionalismus. Hrsg. v. K. Greyerz u. A. Conrad.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2012. 483 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 108,00. ISBN 978-3-506-72023-8.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Das von Peter Dinzelbacher herausgegebene Handbuch ist mit diesem Band 4 nach elf Jahren gerade einmal zur Hälfte erschienen. Es geht auf D.s Konzeption zurück. Die Religionsphänomenologie scheint in dem Band noch durch: Auf »A. Einleitung« folgt jeweils »B. Historische Phänomenologie«. Die Religionswissenschaft hat sich bewusst und mit guten Gründen von der Methode der Religionsphänomenologie verabschiedet, weil diese einen Bereich des Heiligen eingrenzt und den kulturellen Kontext für nachrangig erklärt (siehe meine Rezensionen in ThLZ 132 [2007], 1295–1297; 137 [2012], 23–25). In diesem Band ist das viel besser kontextualisiert. Bevor sein Gesamtaufbau zu besprechen ist, beginne ich mit den vier großen Kapiteln. Alle sind fast gleich aufgebaut; einer konzisen Darstellung folgen die sehr dichten Endnoten und ein umfangreiches Literaturverzeichnis: Die intensive Forschung zur Frühen Neuzeit ist umfassend wiedergegeben. Der wissenschaftliche Ap­parat ist jeweils am Ende des Kapitels gedruckt (immerhin gibt es Kolumnentitel mit Verweis auf die betreffende Seite), so dass man sich mit vielen Lesezeichen ausrüsten muss, um die Kapitel lesen zu können. Sie sind nach Konfessionen aufgeteilt:
Anne Conrad behandelt den Katholizismus (17–142; 76 S. Text). Es gelingt ihr, sowohl die Agenten der Konfessionalisierung zu be­schreiben als auch die Aufnahme der Kritik der Reformation in der katholischen Reform. Die zahlreichen Krisenkulte, die das Wirken Gottes zugunsten seiner Kirche in der Gegenwart beweisen, und die triumphalistische Universal-Kirche sind ebenso dargestellt wie das Leben der bäuerlichen Bevölkerung. Die Unterscheidung von Klerikerkirche mit ihrer institutionellen Disziplinierung und den Laien, die in ihrem religiösen Leben von den Mittlern abhängig sind, könnte im Relief zum evangelischen Hausvater als Täter und Verkünder des Wortes Gottes schärfer hervortreten. Die gemischtkonfessionelle Situation um Hildesheim, die Renate Dürr (2006) untersucht hat, zeigt Gemeinsames und Unterschiede. Überraschend, dass auch andere große Untersuchungen, die nicht direkt aus der Kirchengeschichtsforschung stammen, nur in Kurzfassungen wahrgenommen werden im Kapitel über das Luthertum von Sabine Holtz (145–307; 102 S. Text). In Die Geburt des Gewissens hat H. D. Kittsteiner die Überwindung des magischen Denkens dargestellt; R. Scribners Nachweis der Kontinuität magischen Denkens im Luthertum (195 f.225) gilt nicht mehr für die rasche Veränderung nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das Handbuch von P. Graff über die Auflösung der gottesdienstlichen Formen (1921/ 1939) fehlt ebenso wie das Buch von L. Schorn-Schütte über die Pfarrerdynastien als Funktionseliten. Das Fragen nach »Öffentlichkeit« weiß nichts von einer großen Diskussion nach Habermas’ Buch zu berichten. Wie gehört der Pietismus zum Luthertum, inwieweit ist er Gegenbewegung? Auch hier vermisst man die große Untersuchung von Hans Medick. Das soll aber nicht schmälern, dass Holtz die Forschung umfassend kennt und einschlägige Beispiele vorstellt, zwar vielleicht zu viele Details, doch die große Linie bleibt deutlich.
Über das Reformiertentum hat Kaspar von Greyerz eine herausragende Darstellung beigesteuert (311–410; 64 S. Text), die zeigt, wie man souverän mit einer vorgegebenen Gliederung umgehen kann: Konfessionalisierung, Zweite Reformation, Calvinismus und Kapitalismus (städtisches Bürgertum), reformierter Pietismus sind kompetent eingeordnet. Deutschland steht im Kontext mit der Schweiz (auch der französisch-sprachigen) und den Niederlanden, die zu Recht als (nieder-)deutschsprachig berücksichtigt sind. Un­ter »Rahmenbedingungen« behandelt von Greyerz die regionale, herrschaftliche und historische Differenzierung einschließlich der Hu­genotten. Dann folgt er der Gliederung von Predigt und Lied, Kirchenbau, Musik und Schauspiel. Die Kontrolle und Disziplinierung durch die Kirchenzucht (340) steht zwischen Inkriminierung und Heiligung.
Das vierte Kapitel handelt vom Judentum und wurde von Avriel Bar-Levav geschrieben (413–464; 39 S. Text). Er greift historisch weit aus: von der Reformation bis zur Emanzipation; den Kulturraum bestimmt er anhand der Verbreitung des Jiddischen, d. h. weit hinein nach Osteuropa: die wichtigsten Persönlichkeiten lebten um die Zeit, die der Band umfasst, und danach: Moses Mendelssohn und Salomon Maimon. Mit ihnen beginnt die (inner-)jüdische Aufklärung (Haskala) und der Anteil der Juden an ›der‹ Aufklärung. Doch was kennzeichnet die davorliegende Epoche? Bar-Levav kann auf weniger Forschung als die anderen Autoren zurückgreifen. Er behandelt die Sprache, danach die Position des Hofjuden: Jud Süß wird auf einer halben Seite erwähnt. Ein ritualisiertes Leben wird von Vereinigungen und Bruderschaften geprägt, wie die Chawra kaddischa, die die Beerdigungen durchführten. Danach widmet sich das Kapitel auf mehr als der Hälfte der Seiten dem Rabbi Naftali Katz (geboren im heutigen Polen, verlor er 1711 beim Brand der Judengasse in Frankfurt am Main sein dortiges Amt als Rabbiner; er starb 1719 auf dem Weg nach Jerusalem). Tod ist ein zentrales Thema seiner Schriften. Bar-Levav führt in die Gedankenwelt eines Rabbis ein, doch die einzigartige, viel lebensnahere Autobiographie der Glikl von Hameln (1646–1724) wird gerade einmal erwähnt. Jüdinnen, Sepharden, Landjuden, die Privilegien beim Aufbau in Preußen – all das fehlt in einem Handbuchartikel zum Judentum in der Barockzeit.
Der Band ist illustriert: 44 schwarzweiße Abbildungen und 12 Farbtafeln werden geboten, doch kaum kommentiert. Personen- und Ortsregister sind vorhanden, aber leider kein Sachregister.
Im Gesamten gesehen ist dieser Teilband nicht so gelungen. Das beginnt mit dem fehlenden Titel: Was ist denn das Verbindende dieses Jahrhunderts? Vom Dreißigjährigen Krieg; vom Westfälischen Frieden zum Siebenjährigen Krieg (prägnanter wäre: zur Französischen Revolution – oder das Erdbeben von Lissabon 1755)? Oder: Barock und Aufklärung? Die beiden Daten 1650 und 1750 sind zufällig herausgegriffen und werden in den Kapiteln auch ständig unter- oder überschritten. Außerdem wären Entwicklungen zu beschreiben, die jenseits der Konfessionen das Zeitalter prägen (»konfessionsübergreifende Phänomene«, 59). Jedes der Kapitel be­nötigt erst einmal den Anlauf, ob man den Begriff Konfessiona-lisierung noch verwenden sollte in Junktur mit Sozialdisziplinierung. Conrad gelingt das differenzierter als Holtz; aber von Greyerz hat zu diesem Thema einen ausgezeichneten Sammelband mit herausgegeben und deutet hier wenigstens die Alternativen an: Welche Bedeutung hat die konfessionelle Selbstbestimmung für die Ausbildung des absolutistischen Flächenstaates ( cuius regio eius religio)? Eine differenzierte Beschreibung in einem vorangestellten Kapitel hätte dem Gesamtband gutgetan. Dort hinein würden auch die regional-geographischen Grundlagen gehören, die der Westfälische Friede bis zum Zweiten Weltkrieg festschrieb – und das im europäischen Rahmen, dessen integraler Teil der deutschsprachige Raum ist. Es wäre etwas zu sagen zu dem absolutistisch-hierarchischen Denken mit professionellen Religionsexperten in den konfessionellen Kulturen – und die Alternativen dazu wären aufzuzeigen, wie die Brüdergemeine oder der laikale Pietismus – und ebenfalls zum Ende des magischen Denkens, des apokalyptischen saeculums. Als komplementäre Entwicklung bemerkenswert ist der Aufstieg der Wissenschaft, die nicht an konfessionelle Grenzen gebunden ist (gut bei von Greyerz: 361) und Wissenschaftler hervorbringt, die von einer katholischen an lutherische und wieder an calvinistische Universitäten wechseln können (wie Justus Lip-sius). Enorme Bedeutung hat der Stoizismus in dieser Epoche, im Gegensatz dazu steht der Protestant Johannes Kepler, der am ka­tholischen Kaiserhof in Prag astrologische Gutachten verfasste.
Insgesamt liegt ein neues, frisches Buch vor, das sich von einer Kirchengeschichte deutlich unterscheidet. Einer Religionsgeschichte entspricht vor allem das Kapitel zum Calvinismus von K. von Greyerz – doch ohne das Modell für solch eine Fragestellung zu nennen: die Niederländische Religionsgeschichte J. von Eijnatten und F. van Lieburg (dt. 2011).