Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1395–1397

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schlamelcher, Jens

Titel/Untertitel:

Ökonomisierung der protestantischen Kirche? Sozialgestaltliche und religiöse Wandlungsprozesse im Zeitalter des Neoliberalismus.

Verlag:

Würzburg: Ergon-Verlag 2013.318 S. = Religion in der Gesellschaft, 36. Kart. EUR 42,00. ISBN978-3-89913-984-6.

Rezensent:

Frank Weyen

Jens Schlamelcher publiziert mit diesem Buch seine Dissertation, die er im Jahre 2012 dem Fachbereich Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bo­chum vorgelegt hat. Dabei beleuchtet er den gewählten Themenbereich unter verschiedenen Blickwinkeln.
Zunächst bestimmt er kartographische, legislative und territoriale Verschiebungen als Ökonomisierungsprozesse der kirchlichen Umwelt (1.), um daran anschließend die kirchliche Sozial-gestalt innerhalb eines Prozesses der Vergesellschaftung zu be­schreiben (2.). Hierbei blickt S. analytisch auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in der Moderne, um sich dann mit den Vergesellschaftungsschüben zu befassen, die in der Postmoderne seit den 1960er Jahren bis heute an die Kirche herangetragen wurden. Diese Analyse einer zunehmenden Ökonomisierung der Kirche lässt er einfließen in ein drittes Kapitel, das sich einerseits mit der ökonomischen Kartographie der Kirche und andererseits u. a. auch mit dem komplizierten Themenspektrum der Organisations- bzw. der Institutionenhaftigkeit von Kirche befasst. Dies mündet in die Beschreibung der sozialgestaltlichen Transformation von Kirchengemeinden. S. wertet zahlreiche Beschlüsse und Reform-papiere aus, die in den zurückliegenden Jahren von der verfassten Kirche veröffentlicht wurden, und zieht das Fazit einer zunehmenden De-Professionalisierung kirchlicher Arbeit (4.). S. diskutiert abschließend (5.) Methoden der empirischen Sozialforschung mit Hilfe der Analyse einer Citykirchensituation, um daran seine Grundthese zu plausibilisieren, dass der Rückbau kirchlicher Interaktion und Unmittelbarkeit vor Ort zu einem sich selbst generierenden administrativen Ausbau geführt und zu einer De­professionalisierung der kirchlichen Arbeit allgemein beigetragen habe, so dass die Erosion der Arbeit vor Ort die Zunahme der Abwanderung von Menschen aus ihren kirchlichen Bezügen beschleunige (271–291).
Vor dem Hintergrund einer schwindenden Finanzausstattung haben sich nach S. die Handelnden in der Kirche unter einen Ökonomisierungsdruck gesetzt, sich damit analog dem gesellschaft-lichen Umfeld verhalten und die Kirche unter marktförmigen Ge­sichtspunkten aus ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle entbettet (14–17). Marktwirtschaftliche Regulierung unterstellt S. da­­her als »Führungstechnik zu Regierung der Bevölkerung« (26). Diese Regulierung der Bevölkerung habe zunächst im Rahmen einer Nationalökonomie in der Moderne auf die Kontrolle der Bürger abgestellt. Letztlich sei auf diesem Wege auch der Sozialstaat »in den Strudel der Vermarktlichung gezogen« worden. (60) Gerade aber in der strukturellen Beförderung der Kirche als Organisation er­kennt er einen Grund für ihre zunehmende Ökonomisierung. Mit Hilfe dieser Darstellung entlarvt S. die semantischen Verschlei­erungsmechanismen der gegenwärtigen neoliberal geprägten Postmoderne und ordnet hier auch die Kirchen unter ökonomistischem Aspekt ein, denn »auch in den Kirchen lässt sich eine Transforma-tion von einer vormodernen Proto-Organisation in eine moderne, formalbürokratische Organisation beobachten« (82.61–84).
Mit Beginn der Gemeindereformbewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s habe sich die Kirche erstmals als Organisa-tion dargestellt, die das Parochialsystem flächendeckend im Range einer Versorgungskirche von Mitgliedern (Volkskirche), dem ein Parochus vorstand, für alle Regionen als geltende Norm festlegte. Damit sei das erklärte Ziel der Einbindung aller Gemeindeglieder in das kirchliche Leben angestrebt worden, was allerdings nach S.s Analyse nicht recht zu Zuge kommen konnte und einer fortschreitenden Bürokratisierung der Kirche unter Ausbildung einer verfassten Amtskirchlichkeit Vorschub leistete. S. nennt diesen Prozess »organisatorische Hochrüstung bei gleichzeitiger institutioneller Erosion«. »Die Beteiligung am kirchlichen Leben ebenso wie die formale Kirchenmitgliedschaft nehmen konstant ab. Während andere kirchliche Bereiche und Sozialformen seither sichtbar erodierten, wurden die Kirchenämter und -verwaltungen ausgebaut, und es kam zu einer erheblichen Zunahme an bezahlten Stellen innerhalb der Gemeinde.« (92) Als Beispiele dafür nennt er die Reduktion von Gemeindebüroöffnungszeiten, die Institutionalisierung der Diakonie und die Aufgabe des Betreuungsprinzips der ›Gemeindeschwester‹, die Reduktion von Interaktionszeiten bei gleichzeitiger Verschiebung der pfarramtlichen Tätigkeiten von der unmittelbaren hin zur mittelbaren Kommunikation.
»Durch die Unterlassung von Interaktion zwischen Pfarrern und Gemeindegliedern bricht eine Verankerung religiöser Kommunikation in der Kirchengemeinde zunehmend ab. Damit reduziert sich religiöse Kom­munikation in der Kirchengemeinde auf eine Dienstleistung, die im Rahmen öffentlicher Gottesdienste oder halb-öffentlicher Amtshandlungen und damit in Form von Veranstaltungen wie Gottesdiensten, Passageriten oder Konfirmandenunterricht vollzogen wird. Religiöse Kommunikation selbst in gewöhnlichen Kirchengemeinden nimmt dadurch eine zunehmend ausschließlich eventisierte Form an.« (200 f.)
Als neue nichtparochiale Orte einer eventisierten Form von Kirche schildert er exemplarisch eine (anonymisierte) Citykirche im ur-banen Raum mit Hilfe einer empirischen Untersuchung. Diese bezeichnet er als einen spezifischen (post-)modernen Anbieter von Gemeinschaftserfahrungen mit klassisch vereinsmäßiger Organisationsform. Dabei stehen unverbindliche Interaktionen im Vordergrund, die nicht territorial definiert, sondern nach Neigung arrangiert werden. Gemeinschaft sei in dieser kirchlichen Veranstaltungsform ein sekundäres Ergebnis, nicht Voraussetzung zur Teilnahme. Dennoch stellt er fest, dass auch Citykirchen einen Kern aus regelmäßigen Teilnehmern und einen Kranz mit Randständigen aufweisen. »Je ›erfolgreicher‹ eine Citykirche, umso ähnlicher wird ihre Sozialgestalt der Ortsgemeinde.« (229.205–229)
Die breit gefächerte Analyse der nach S. in einem langen Prozess selbsttätig verursachten Sackgassensituation, in die sich die verfasste Kirche manövriert hat, bringt S. zu einem stringenten Schluss. Die Erklärungen für die Probleme, die sich für eine unter einen Ökonomisierungsdruck gesetzte Kirche ergeben, verstellen allerdings den Blick auf die globalen Gründe, denen sich die evangelische Kirche in einer vielgestaltigen Postmoderne ausgesetzt sieht. S. redet mit seinen Analysen denjenigen das Wort, die die Gründe für die Misere der evangelischen Kirche ausschließlich bei den Handelnden suchen und weniger den Kontext betrachten, in denen diese Handelnden den immerwährenden Versuch unternehmen müssen, sich bei Menschen als Kirche Gehör zu verschaffen, die in vielfältigen Handlungsmustern eingebunden sind und dem postmodernen Trend zur Individualisierung erliegen. Insgesamt betrachtet bieten die Analysen jedoch interessante und weiterführende Aspekte, welche für eine kritische Betrachtung kirchlicher Strukturen, wie sie sich in Hoch- und Spätmoderne durchgesetzt haben und in der ausgehenden Moderne eines urbanen Zeitalters immer weniger Antworten auf die Anfragen der Menschen zu geben vermögen, eine brauchbare Deutungshilfe darstellen.