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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1392–1395

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 339 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 13. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-152632-9.

Rezensent:

Peter Cornehl

Aufsatzbände sind Erntefeste der Wissenschaft. Sie bündeln zu einem bestimmten Thema veröffentlichte und unveröffentlichte Texte eines oder mehrerer Autoren aus verschiedenen Zeiten. Sie zeigen die historischen Diskurslinien auf und geben Einblick in den aktuellen Stand der Debatte. So auch in diesem Band, in dem Michael Meyer-Blanck, einer der interessantesten und einflussreichsten Praktischen Theologen der Gegenwart, zwanzig Beiträge zu Gottesdienst und Predigt zusammengestellt hat. M.-B., Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik in Bonn, hat sich seit geraumer Zeit auf das Gebiet der Liturgik und Homiletik konzentriert und dazu viel publiziert. Als Vorsitzender der Liturgischen Konferenz, Vorstandsmitglied der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Homiletik, Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften, als langjähriger Leiter der Fachgruppe Praktische Theologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie und mittlerweile deren Erster Vorsitzender, ist er an führender Stelle nicht nur wissenschaftlich, sondern auch liturgiepolitisch aktiv und maßgeblich beteiligt an diversen Entscheidungsprozessen innerhalb der EKD, die den Gottesdienst betreffen. Man hört auf ihn. Was er zu sagen hat, hat gesamtkirchlich Gewicht.
Der Band sammelt Texte aus etwa zwanzig Jahren, der früheste stammt von 1993, die anderen sind im letzten Jahrzehnt entstanden. Er ist in drei Teile gegliedert. Teil I: »Agende und Gottesdienstbuch« (Kapitel 2-7), Teil II: »Der Sonntagsgottesdienst und seine Elemente« (Kapitel 8-14), Teil III: »Liturgisch handeln« (Kapitel 15-20). Den Ausgangspunkt bilden grundsätzliche liturgietheoretische Feststellungen, die das Wesen evangelischer Agenden kennzeichnen. »Evangelische Agenden sollen Ordnungen der Freiheit sein«. Deshalb ist der Begriff »liturgisches Handeln« eigentlich unangemessen. »Die Liturgie ist kein Dienst für Gott, sondern jene Handlungsform, die es Menschen ermöglicht zu erfahren, dass Gott ihnen dient. Denn die reformatorische Einsicht, dass in der Liturgie Gott handelt, führt handlungstheoretisch an die Grenze des Denkbaren. Denn es geht ja liturgisch um ein solches Handeln, das nur in paradoxen Formeln, als ›handelndes Nicht-Handeln‹ oder als ›aktivische Passivität‹ bezeichnet werden kann.« (15) Daher stehen evangelische Agenden unter einem »prinzipiellen Vorbehalt« (16). Immer dann, wenn dies missachtet wurde, weil be­stimmte Ordnungen von oben per Diktat als einzig legitime durchgesetzt werden sollten, kam es zu heftigen Kämpfen. Vor allem das 19. Jh. ist durchzogen vom Agenden-Streit, der nur dann befriedet werden konnte, wenn am Ende – oft nach langem Ringen – einigermaßen tragfähige Kompromisse gefunden wurden, welche wenigstens einige der berechtigen Interessen der beteiligten Gruppen berücksichtigten (was nicht überall geglückt ist). Für die agendarische Entwicklungslogik im Ganzen hat M.-B. die griffige Formel gefunden, wonach der Weg »von der Ordnungsagende geringerer Reichweite und hoher Verbindlichkeit zur weit reichenden Arbeitsagende mit geringerer Ordnungsfunktion« (19) führte, weil angesichts zunehmender Mobilität und wachsender Pluralität nur so gemeinsames gottesdienstliches Leben gesichert werden kann. Das war ein mühsamer Lernprozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Es ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, die Fülle der Beobachtungen, Impulse und Perspektiven, die der Band enthält, eingehender zu würdigen. Was M.-B.s Einlassungen auszeichnet, ist seine große Fähigkeit, in den komplexen, oft kontroversen homiletisch-liturgischen Sachfragen immer wieder die grundsätzlichen Aspekte herauszuarbeiten. Damit schafft er Distanz zu den strittigen Einzelheiten und hilft, zu produktiver Konsensbildung beizutragen. Man kann das an Hand von Beispielen aus den drei Teilen des Buches studieren. Verwiesen sei in Teil I auf die instruktive Darstellung der Entstehung des »Evangelischen Gottesdienstbuchs« (EGb) von der Ursprungsidee im sog. »Strukturpapier« der Lutherischen Liturgischen Konferenz 1974 über mehrere Vorentwürfe bis zur endgültigen Annahme des EGb 1999, wo M.-B. das grundlegende Konzept von Frieder Schulz und seinen Mitstreitern in der LLK, die zeichentheoretischen Präzisierungen von Karl-Heinrich Bieritz, die prinzipiellen Einsprüche von Dorothea Wendebourg und die Verteidigungen von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und anderen präzise zusammenfasst und überzeugende Perspektiven für den Gebrauch dieser neuen Form von Agende entwickelt (88-110). In Teil II lese man seine Thesen zum EKD-Symposion »Normalfall« Sonntagsgottesdienst, in denen er das notwendig spannungsvolle Gegenüber des wiederkehrenden wöchentlichen Ritus zu den wechselnden liturgischen Besonderheiten zielgruppenorientierter, kasueller, lokaler und globaler Thematisierungen erörtert und zu einleuchtenden Verhältnisbestimmungen kommt (157-168). Auch in Teil III finden sich zahlreiche weiterführende liturgiepädagogische Überlegungen, insbesondere zum professionellen Handeln von Theologen (pointiert in dem bislang unveröffentlichten Text mit dem Titel »Gebildete Routine und gelerntes Ritual«, 284-295), zur Verbesserung der homiletisch-liturgischen Aus- und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen, zum Verhältnis von Liturgie, Kirchenmusik und Kultur. Sie werden in Beziehung gesetzt zum ersten, grundlegenden Kriterium des EGb, in dem die aktive Mitgestaltung und Mitbeteiligung der Gemeinde herausgestellt wird. In all diesen Bereichen besticht M.-B. durch einen entschlossenen systematischen Zugriff, überlegene Argumentation, Abgewogenheit des Urteils auf der Basis profunder historischer Kenntnisse und nicht zuletzt durch die Kunst, immer wieder einprägsame Formeln zu finden, etwa zum Verhältnis von Predigt und Liturgie die von der Predigt als »Unterbrechung«, gelegentlich sogar als »Widerspruch des Ritus im Kontext des Ritus« (136). Durch diese Fähigkeiten erweist er sich als weitsichtiger Interpret und kluger Moderator der Theoriedebatte – und das stets in integrativer Absicht. Ein durchgängiges Leitmotiv ist sein Be­mühen, klassische positionelle Gegensätze zu entschärfen und vor allem die reformatorischen und die neuprotestantischen Ansätze zum Gottesdienst, den dialogischen Ansatz Luthers (Wort und Antwort, die »Torgauer Formel«) und Schleiermachers Verständnis von Liturgie als darstellendes Handeln der Kirche (genauer: als Darstellung und Mitteilung des Evangeliums) zusammenzuführen und die Verbindung von Offenbarung und Erfahrung, gottesdienst-liche Dramaturgie und gemeindliches Erleben liturgietheoretisch fest zu verankern.
Auch M.-B.s eigener kirchlicher Bildungsweg ist dafür aufschlussreich. Er ist liturgisch sozialisiert im Raum der Hannoverschen Landeskirche, also in jenem »milden Luthertum«, das dort beheimatet ist (speziell im liberalen Loccumer RPI). Seit dem Wechsel nach Bonn ist er eingetaucht in die gottesdienstliche Realität einer unierten Landeskirche mit einer starken BK-Tradition aus der Zeit des Kirchenkampfes. In Rheinland und Westfalen hat er die erstaunliche Prägekraft der Preußischen Agende erlebt und dieses Erbe schätzen gelernt. Dem sind zwei längere, ebenfalls bislang unveröffentlichte Abhandlungen im II. Teil (Kapitel 2 und 3) ge­widmet, in denen er die Genese der Agende der Altpreußischen Union von 1822-1895 rekonstruiert und über die Nachkriegsagenden bis zum EGb verfolgt. Diese preußisch-unierte (wenn man so will: »borussische«) Sicht bestimmt sein Bild der neueren Agendengeschichte insgesamt.
Die fast das ganze 19. Jh. dauernden Auseinandersetzungen um die preußische Agende sind geradezu ein Lehrstück für agendarische Konflikte und ihre Beilegung, ein widersprüchliches Gemisch aus monarchischer Intransigenz, eigensinnigen liturgischen In­tui­tionen, liberaltheologischem Widerstand an der gemeindlichen Ba­sis, erfolgreicher konfessioneller Selbstbehauptung und zähem synodal-konsistorialen Verhandlungsgeschick erfahrener Vermittler. Bemerkenswert ist, dass bei aller Ablehnung seiner rigiden Me­thoden der liturgiedramaturgische Ansatz Friedrich Wilhelms III. von 1822 Anerkennung findet (unbeschadet der problematischen, oft widersinnigen Umsetzung in gottesdienstliche Handlungsschritte, die in den späteren Verhandlungen teilweise korrigiert werden konnte). Großes Lob bekommt die rheinisch-westfälische Provinzialagende von 1834 (»ein Meisterstück der Agendengeschichte«, 34) wegen der hier erstmals zugestandenen regionalen Sondertraditionen und der so erreichten Koexistenz unterschiedlicher konfessioneller liturgischer Identitätsmarker (speziell im Eingangsteil hinsichtlich der Verbindung von Kyrie und Gloria). Schließlich fand auch der erbittert ausgetragene »Apostolikumsstreit« zwischen Liberalen und Orthodoxen (»Positiven«) um die Einführung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses in den Sonntagsgottesdienst in den frühen 1890er Jahren durch geschickte diplomatische Vermittlung ein »glückliches agendarisches Ende«, so dass die von der preußischen Generalsynode schließlich 1895 angenommene Agende sich großer Zustimmung erfreute. Mit erkennbarer Genugtuung registriert M.-B. »dass damit dem Anliegen Friedrich Wilhelms III. die dauerhafte Wirkung beschieden sein sollte, die sie bis 1995 und darüber hinaus tatsächlich hatte« (54). Die Darstellung wird bereichert durch eine kleine Spezialstudie, in der M.-B. die sog. »kapitolinische Liturgie« der deutschen Gesandtschaftskapelle in Rom von 1828 in den Kontext der Agende Friedrich Wilhelms III. einordnet. Ein überraschender Fund aus einem längeren Romaufenthalt des Autors, der hier eine bemerkenswerte Übereinstimmung des Königs mit seinem vatikanischen Gesandten Christian Carl Josias von Bunsen nachweisen kann. Sie besteht darin, dass durch eine konsequente Durchstrukturierung der Liturgie erreicht wird, »dass jeder Gottesdienst ein und derselben religiösen Erlebnislogik folgt«, durch die Dreiteilung »Beichtamt«, »Evangelienamt«, »Altaramt«, die M.-B. so er-läutert: »Die Annäherung an das gottesdienstliche Geschehen ist die Aufgabe des ›Beichtamtes‹, die Anamnese und die persönliche Durchdringung sind die Funktion des ›Evangelienamtes‹ und die anbetende Erhebung mit dem Dankopfer [bez. der Mahlfeier] ist der krönende Abschluss durch das ›Altaramt‹.« (79) Auch das ein Anliegen, das 1895 und darüber hinaus in den Nachkriegsagenden von 1955 und 1959 und im EGb 1999 gesamtkirchlich eingelöst worden ist.
Eine eindrückliche Gesamtdarstellung! Sie ist in vieler Hinsicht erhellend und bietet doch auch Anlass für Rückfragen. Eine sei genannt. Bräuchte nicht eine konkrete Gottesdienst- und Agendengeschichte eine noch deutlichere Einbettung in die jeweiligen politisch-sozialen Zusammenhänge? Sie werden von M.-B. nicht ausgeschlossen, treten aber doch auffällig in den Hintergrund. Da­bei wären sie gerade für die Einschätzung des preußischen Agendenstreits wichtig. Dazu gibt es jetzt eine spannende These des Erlanger Kirchenhistorikers Anselm Schubert, die er soeben in einem Aufsatz publiziert hat und durch die vollständige Dokumentation und Interpretation des dazugehörigen Quellenmate-rials demnächst zu erhärten beabsichtigt. Der Titel enthält bereits die Pointe: »Liturgie der Heiligen Allianz. Die liturgischen und po­litischen Hintergründe der Preußischen Kirchenagende (1821/22)« (in: ZThK 110, 2013, 291-315). Alles spricht dafür, dass Friedrich Wilhelm III. mit seiner Agende nicht nur ein kirchenpolitisches, sondern auch ein dezidiert politisches Projekt verbunden hat (das zeigt sich z.B. in der überstarken Betonung des Sündenbekenntnisses im Eingangsteil und der Ersetzung der Gemeinde durch professionelle Chöre), und dass diese Absichten bei den späteren Auseinandersetzungen ebenfalls eine Rolle gespielt und eine zeitentsprechende Fortsetzung gefunden haben. Diese und andere zeitgeschichtliche Bezüge wären geeignet, die kirchenimmanente Darstellung M.-B.s zu weiten und schärfer zu konturieren.
Aufsatzbände sind Erntefeste der Forschung. Wir wissen: Es gibt reiche und eher bescheidene Ernten. Dieses Buch enthält eine reiche Ernte. Es ergänzt und konkretisiert M.-B.s große »Gottesdienstlehre« von 2011 und sei allen, die genauer mit Fragen von Liturgie und Predigt befasst sind, unbedingt empfohlen.