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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1390–1392

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heike-Gmelin, Axel

Titel/Untertitel:

Kremation und Kirche. Die evangelische Resonanz auf die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 205 S. = Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, 19. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-12084-7.

Rezensent:

Kristian Fechtner

Mittlerweile ist hierzulande die Einäscherung mit wachsendem Anteil zur vorherrschenden Bestattungsform geworden und hat sich als gängige Praxis auch im Bereich der evangelischen Kirchen etabliert. Vor diesem Hintergrund überprüft die als Promotionsschrift an der Universität Leipzig bei Klaus Fitschen entstandene kirchengeschichtliche Studie von Axel Heike-Gmelin die wirkungsgeschichtlich eingespielte und in der heutigen praktisch-theologischen Kasualtheorie en passant vertretene These, dass die Feuerbestattung in ihren Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s mit einem dezidiert kirchenkritischen Motiv durchgesetzt wurde. Auch in Korrektur zu meiner eigenen Einschätzung, die mehrfach zitiert wird, zeigt der Vf., dass sich erst kurz vor undnach dem I. Weltkrieg, mithin in einer späten Phase, nachdem die Feuerbestattung bereits mehrere Jahrzehnte in Deutschland öf­fentlich wie kirchlich debattiert worden war und praktiziert wurde, mit der Kremation gleichsam sekundär kirchenkritische Im­pulse verbunden haben. Es waren zuvor eher kirchliche Stellungnahmen, die – unabhängig von der Intention der Befürworter – die Feuerbestattung antikirchlich interpretiert hatten.
Der Vf. zeichnet zunächst im genauen Quellenstudium nach, wie in unterschiedlichen Publikationen in dieser Zeit das Thema eingeführt und behandelt wurde. Die literarische Debatte über die »Verbrennung von Leichen«, so der initiierende Vortrag des Philologen Jacob Grimm aus dem Jahr 1849, wurde zunächst in intellektuellen Zirkeln geführt, war vornehmlich durch hygienisch-medizinische, philosophisch-materialistische und ökonomische Überlegungen geprägt und hob auf kulturelle Fragen ab. Betont anti­kirchliche oder gar antichristliche Intentionen sind dabei nicht zu erkennen. In den populären Zeitschriften war die Feuerbestattung, gelegentlich Pro und Contra abwägend, lediglich ein Randthema. Die Statuten der Feuerbestattungsvereine und die Publikationen aus ihrem Umfeld zielten vornehmlich auf die Akzeptanz der Feuerbestattung und wollten die Einrichtung von Krematorien – das erste wurde 1878 in Gotha in Betrieb genommen – befördern. Kirchenfeindliche Tendenzen, so der Vf., lassen sich bei den älteren Vereinen nicht ausmachen, eher wurde um eine kirchliche Beteiligung an der Kremation geworben, wobei es auch einzelne Stimmen gab, die die Bestattung als öffentliche Angelegenheit aus dem Mitspracherecht der Kirchen lösen und die Krema-tion als Bürgerrecht verstanden wissen wollten. In den praktisch-theologischen Lehrbüchern von Nitzsch bis Schian wurde auf die Kremation nur zurückhaltend eingegangen, die Positionen reichten von unterschiedlich begründeten Vorbehalten bis hin zur Ak­zeptanz unter dem Primat der Erdbestattung.
Im systematisierenden Durchgang durch die Inhalte, Themen und Argumente der Kremationsdebatte zieht der Vf. ein dreifaches Fazit: In gesellschaftlicher Hinsicht war die Einführung der Kremationspraxis Ergebnis eines politischen Willens, nicht eines wissenschaftlichen Konsenses, der die Einäscherung gegenüber der Erdbestattung als »zweckmäßiger« hätte ausweisen können. In theologischer Hinsicht war die Frage nach Erd- und/oder Feuer-bestattung weder durch biblische noch durch dogmatische Tradition schlüssig zu beantworten. Aus kirchlicher Sicht konzentrierte sich der Disput um die Akzeptanz der Kremation auf die Bedeutung, die man der Erdbestattung als (verbindlicher) »kirchlicher Sitte« beimaß.
Das Leitmotiv »So dicht am Hergebrachten wie möglich, so neu wie nötig« erweist sich dann auch als Lernertrag des Umgangs mit der Kremationspraxis der evangelischen Kirche. Im zweiten Teil seiner Studie skizziert der Vf. die Entwicklung der Praxis in den verschiedenen Landeskirchen und markiert die Position der deutschen evangelischen Kirchenkonferenz (Eisenacher Konferenz). Dabei zeigt sich – und dies ist m. E. ein wichtiger historischer Hinweis −, dass die Kontroverse um die Feuerbestattung von Beginn an, also seit den 1870er Jahren, auch eine innerkirchliche Debatte darstellte und die Trennlinie keineswegs nach dem Muster kirchlich (contra) vs. unkirchlich (pro) verlief. Vielmehr gab es Landeskirchen, die a) von Anfang an die kirchliche Begleitung von Kremationen freigaben, b) Stück für Stück Elemente kirchlichen Handelns, zunächst in seelsorglicher, dann in liturgischer Hinsicht, zuließen, c) entsprechende Anfragen – solange es in ihrem Territorium noch kein Krematorium gab – abschlägig beschieden und d) kirchlicherseits auf verbindliche Regelungen verzichteten und stillschweigend die Beteiligung an der Kremationspraxis tolerierten. Die Eisenacher Konferenz hingegen verabschiedete 1898 dann nach kontroverser Debatte Thesen, in denen festgehalten wird: Auch wenn die Feuerbestattung nicht dem christlichen Glauben widerspricht, steht sie doch der kirchlichen Sitte und ihren Ordnungen entgegen. Insofern ist Geistlichen die amtliche Beteiligung nicht gestattet und feierliche Beisetzungen von Urnen auf kirchlichen Bestattungsstätten sind nicht zulässig. Allerdings waren Wirkungen der Eise-nacher Beschlüsse, so konstatiert der Vf., in der Praxis der Landeskirchen kaum auszumachen. Vielmehr ging die reale Entwicklung um die Jahrhundertwende über die Beschlusslage hinweg. Auf der Eisenacher Konferenz 1912 wurde zwar die Erdbestattung als Sitte festgehalten und wurden alle kirchlichen Aktivitäten untersagt, die als Förderung und Empfehlung der Feuerbestattung aufgefasst werden konnten, zugleich aber wurde die kirchliche Begleitung der Feuerbestattung einem Begräbnis entsprechend eingeräumt. Damit stand, so resümiert der Vf., »kirchlichen Abschiedshandlungen anlässlich von Feuerbestattungen nun nichts Grundsätzliches mehr im Weg« (172). In der Folgezeit ging es, der Vf. notiert es eher wie Nachhutgefechte, um einzelne kirchliche Versuche, die sich durchsetzende Praxis der Kremation liturgisch gegenüber der Erdbestattung herabzustufen (z. B. Feier lediglich im häuslichen Rahmen, Verzicht auf Talar, Beisetzung der Urne ohne kirchliche Begleitung) – allesamt keine tragfähigen Lösungen. Mit der staat-lichen Gleichstellung von Feuer- und Erdbestattung (im Reichsgesetz 1934!) fand auch die kirchliche Debatte ihren Abschluss.
Die Studie ist ein instruktiver kasualhistorischer Beitrag zur Herkunftsgeschichte der kirchlichen Bestattungskultur in der Moderne. Sie mahnt insbesondere den Praktischen Theologen, sich nicht ungeprüft auf undifferenzierte historische Einschätzungen zu verlassen. Und sie regt an, die Muster kirchlicher Reaktionen auf Veränderungen gegenwärtiger Bestattungsformen (selbst-)kritisch wahrzunehmen: Schwächt womöglich die Unterstellung, neue Bestattungsformen (vom Friedwald bis zum anonymen Rasenfeld) seien per se unkirchlich, die kasuelle Gestaltungskraft der Kirche und ihre Anschlussfähigkeit an die spätmoderne Lebenswelt ihrer Mitglieder, zu der eben auch eine veränderte Abschiedskultur gehört? Anders als der Vf. sehe ich allerdings mit seiner historischen Darstellung, die er als Schluss der Debatte definiert – im Vorwort schreibt Reiner Sörries sogar, die Studie zeige, »wie sehr sich alle damaligen Diskussionen in Luft aufgelöst haben« (9) −, die praktisch-theologischen Herausforderungen der Feuerbestattung keineswegs als erledigt an. Liturgiewissenschaftlich kann evangelisches Handeln in der Bestattungskultur eben nicht »unter Absehung von einzelnen Bestattungsformen und konkreten Verfahren theologisch reflektiert werden« (190). Was es als Bedeutung kommuniziert, steckt vielmehr in der rituellen Dramaturgie einer christlichen Bestattung, in deren Kontext Einäscherung tatsächlich mehr und anderes ist als lediglich ein technisches Verfahren. Wem gilt der Segen, wer oder was wird begleitet und überführt? Dazu gehört auch, dass die Örtlichkeit der Toten in der neueren Kasualtheologie der Bestattung stärker in den Blick kommt. Aus der Logik der Kremation erwachsen, anders als bei der Erdbestattung, unterschiedliche Optionen der Verortung oder Nichtverortung der Verstorbenen (Beisetzen, Aufbewahren, Aushändigen, Ausstreuen der Asche etc.). Kurzum: Die theologische Bestimmung dessen, was als christliche Bestattung gelten kann, lässt sich nicht umstandslos aus dem herauslösen, was als Bestattungskultur praktiziert wird. Die Frage nach dem Sinngehalt dessen, was wir im kirchlichen Bestattungshandeln als leiblich-symbolischer Praxis tun, ist deshalb nicht, wie der Vf. meint, anachronistisch, sondern geboten.