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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1385–1387

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbst, Michael

Titel/Untertitel:

Kirche mit Mission. Beiträge zu Fragen des Gemeindeaufbaus.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. 275 S. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 20. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-7887-2742-0.

Rezensent:

Ralph Kunz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Clausen, Matthias, Herbst, Michael, u. Thomas Schlegel [Hrsg.]: Alles auf Anfang. Missionarische Impulse für Kirche in nachkirchlicher Zeit. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. 232 S. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 19. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-7887-2730-7.


Das Greifswalder Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) feiert sein zehnjähriges Jubiläum. Das Institut hat sich mit seiner Publikationsreihe »Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung« ein Forum geschaffen, um seinen Ansatz der Kirchen- und Gemeindeentwicklung zu kommunizieren und im kybernetischen Chor mit einer missionstheologischen »Greifswalder Stimme« mitzusingen. Seit dem ersten Band bildet die kirchliche Situation Ostdeutschlands den Klangraum für die Arbeit des Instituts. Das gilt auch für den 19. und 20. Band. Die Ausgangsfrage lautet: Was sagt und was tut eine Kirche, um Menschen zu erreichen, denen Inhalte und Sprach­-formen des Glaubens völlig fehlen? Der Titel des Bandes »Allesauf Anfang« ist eine programmatische Antwort. Wenn alles wegist, muss man neu anfangen. Nur so kann man auf die Heraus-forderungen einer missionarischen Nullpunktsituation antworten. Ein anderer Begriff dafür ist die »nachkirchliche Zeit«. Michael Herbst erläutert im Vorwort: »Gemeint ist ein gesellschaftliches Umfeld, in dem die Stabilität und Reichweite traditioneller kirchlicher Strukturen, die Resonanz auf christliche Glaubensinhalte und schon die Kenntnis solcher Inhalte rapide am Schwinden sind.« (3)
Der Ansatz gibt Anlass zu Rückfragen. Inwieweit ist die Rede von einer nachkirchlichen Zeit im Kontext eines kirchliches Instituts opportun? Wie lässt sich ein Nullpunkt hermeneutisch erfassen? Und was unterscheidet den Anfang vom Nullpunkt und einem Danach? Michael Herbst und seinem Team ist es zu verdanken, dass sie diese heißen Eisen anfassen, Anstöße geben und mit der These, dass sich die Kirche konsequent auf ein neues Paradigma einstellen muss, wohl auch Anstoß erregen. Der Titel des Buches ist insofern stimmig, als man ihn auch so lesen kann: Wir stehen noch ganz am Anfang. Wer Ohren hat zu hören, hört in Greifswalder Stimmen auch diesen – bescheidenen – Ton. Zum Beispiel im Beitrag von Martin Kurz, der ein zentrales personelles und strukturelles Problem der Kirchen aufgreift. Unter dem sprechenden Titel »Allein auf weiter Flur« fragt er nach den Entwicklungen im ländlich-peripheren Raum und kommt zum Schluss, dass insbesondere in »perforierten Regionen im Osten« (57) die parochiale Grundordnung nicht mehr länger aufrecht erhalten werden kann. Er verknüpft die Analyse mit einem negativen theoretischen Exempel. Eine parochial fixierte Pastoraltheologie wie die von Isolde Karle hilft in dieser Situation nicht weiter – sie phantasiert eine Pastoral auf der Grundlage von potemkinschen Gemeinden. Auch Thomas Schlegel hat ein Negativbeispiel. Er meint nach einer Relecture der Debatte um den Anknüpfungspunkt zwischen Barth und Brunner, dass es in der nachkirchlichen Situation nur noch darum gehen könne, einen »Einlasspunkt« für Gott (134) zu finden. Bei Matthias Clausen wird es konkreter. Er fordert für die post-atheistische Verkündigung eine neue Sprachpraxis und sieht im Erzählen die Chance, einen Resonanzraum für den Glauben zu eröffnen. Auch die Rede von der Nullpunktsituation, die Jens Monsees und Georg Warnecke mit Blick auf Glaubenskurse erläutern, rechnet mit der Chance, dass Menschen sich einlassen auf das Evangelium – aber nicht aufgrund von Erwartungen und kulturellen Ressourcen, die ihnen für eine religiöse Kommunikation zur Verfügung stehen. Gesucht sind Brückenbauer und Türöffner. Hier setzt auch Anna-Konstanze Schröder an, um anhand der Greifswalder Konversionsstudie auf Unterschiede in West- und Ostdeutschland zu verweisen. Sie folgert für die Kirchenentwicklung, dass eine möglichst große Vielfalt an Sozialformen geboten werden muss. In diese Richtung argumentieren auch Martin Reppenhagen in einer lesenswerten Zusammenfassung des neueren missionstheologischen Diskurses und Hans-Jürgen Abromeit im Schlussbeitrag. Der Bischof schreitet die Stationen der jüngeren Missionsdebatte ab und zeichnet den Weg von der Leipziger Synode (1999) über das Impulspapier (2006) bis zur Magdeburger Synode (2011) nach. Abromeit ersetzt das Fragezeichen im Titel durch ein Ausrufezeichen. »Ich denke, es ist deutlich geworden, Kirche kann gar nicht anders, als missionarisch zu sein, oder sie ist nicht mehr Kirche Jesu Christi.« (230)
Dass der Schluss – keine Kirche ohne Mission! – schon von Anfang an feststand, hat nach der Lektüre des Bandes auch der letzte Leser begriffen. Am Ende fragt man sich: Kann es Mission ohne Kirche geben? Die Formel »nachkirchlich« bleibt irgendwie unbefriedigend und missverständlich. Michael Herbst relativiert und differenziert denn auch selber die Begrifflichkeit in seinem sehr instruktiven Beitrag »Gemeindeaufbau auf dem Weg ins Jahr 2017«. Er sagt an einer Stelle, der Terminus ›nachkirchlich‹ wäre streng deskriptiv als ›nachvolkskirchlich‹ zu präzisieren.
Der 20. Band »Kirche mit Mission« enthält weitere Antworten in Form von überarbeiteten Referaten, die Michael Herbst quer durchs Land gehalten hat. Die 14 Texte sind durchwegs im mündlichen Stil belassen – süffig geschrieben und leicht zu lesen. Es ist missionarische Prosa im Schwellraum zwischen Reflexion und Verkündigung – durchsetzt mit predigtartigen Sentenzen und aufgelockert mit bildreichen Anekdoten. H. gliedert die Sammlung in vier Teile: Grundlegendes, Geistliche Leitung, ökumenische Impulse, Konversion und Gemeindeaufbau. Gehaltvoll ist der erste Beitrag zur Mission des Gekreuzigten. Ein roter Faden wird gelegt. Man könnte auch von einem Refrain sprechen, der immer wiederkommt: »Die Erneuerung der Kirche beginnt mit dem Sterben der Kirche.« (15) Es ist gleichsam ein Leitsatz der Greifswalder, mit dem die missionarische Herausforderung im Kontext der nachkirchlichen Gesellschaft auf eine Formel gebracht wird – und der im obigen Sinne zu präzisieren wäre. H. kommt dabei öfters auf das Vorbild der »Fresh expression of Church« in England zu sprechen. Fasziniert und elektrisiert von dieser Erneuerung, wird auch das Grundprinzip der »mixed economy« gelobt. Beispiele aus der eigenen Praxis (Gemeinde in den ›Platten‹) illustrieren eindrück lich, was eine konsequent lebensweltlich ausgerichtete Mission bedeutet.
Ob Gemeindeaufbau (im Titel) und Gemeindeerneuerung (Vorwort) der adäquate Ausdruck ist? Die meisten Freshex sind Ge­meindegründungen. H. fragt zu Recht: »Und in Deutschland?« (19 7ff.) Natürlich bejaht H. das Churchplanting. Er ist aber insofern ein konsequenter Verfechter der»mixed economy«, als er ein Hin und Her zwischen frischen und alten Gemeinden in derselben Kirche befürwortet und z. B. auch von Willow Creek lernen möchte. Zur Vision der Erneuerung gehört auch das Nach- und Vordenken neuer geistlicher Leitungsstrukturen. Das »Priestertum aller Gläubigen« wird als Basis einer Ämter- und Charismenlehre begriffen. Dabei wird deutlich, wie eins ins andere greift: die Konzepte der Gemeindeentwicklung bauen auf ein Gemeindeprinzip, das sich dem missionalen Paradigma zuordnen lässt. Wer in diesen theologischen Bahnen denkt, kommt bei H. voll auf die Rechnung. Und die anderen in Deutschland?
Auch wer sich theologisch anders orientiert, muss sich den Fragen stellen, die in den beiden Bänden gestellt werden. Das Greifswalder Team gibt wertvolle Impulse und vermittelt dem praktisch-theologischen Diskurs im deutschsprachigen Raum wichtige ökumenische Inputs. Dass der Blick über den Kanal zuweilen etwas verklärt und die Wahrnehmung der kybernetisch signifikant anderen Positionen im eigenen Kontext etwas gar kurz erledigt wird, mag man bedauern – im Wissen um die tauben Ohren jener, die für die Greifswalder Stimmen gar kein Gehör haben. Gründe für einen Theorieaustausch – ganz im Sinne einer mixed economy – gibt es für die Theologie als Funktion der Kirche – weiß Gott – genug.