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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1361–1363

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bschir, Karim

Titel/Untertitel:

Wissenschaft und Realität. Versuch eines pragmatischen Empirismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XI, 194 S. = Philosophische Untersuchungen. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-151934-5.

Rezensent:

Martin Wendte

In seiner ebenso eigenständigen wie qualitativ hochstufigen Promotionsschrift verbindet der an der ETH Zürich arbeitende Karim Bschir das Beste beider Welten, in denen er zu Hause ist, um für die grundlegende Frage des philosophischen Realismus eine eigene Antwort vorzulegen: Als studierter Biochemiker verfügt er über viel Erfahrung in der Praxis der Wissenschaften, als promovierter Philosoph rekurriert er auf diese Praxis, um eine originelle Antwort auf antirealistische Angriffe zu geben.
Der Antirealismus bestreitet die metaphysische Annahme des Realismus, dass sich die theoretischen Begriffe wissenschaftlicher Theorien auf existierende, geistesunabhängige Dinge beziehen. Der Antirealismus geht dafür fast durchgehend so vor, dass er die epistemische Seite des Realismus attackiert. Diese besagt, dass die verwendeten Theorien oder theoretischen Begriffe wahr sein können. Mit der epistemischen Seite des Realismus fällt auch die ­metaphysische, so der Antirealismus: Denn ohne die Möglichkeit wahrer Theorien können wir nicht die Annahme vertreten, dass es geistesunabhängige Dinge gibt. Entsprechend antwortet der Realismus vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auf die Attacke des Antirealismus fast durchgehend mit epistemischen Überlegungen, die zeigen sollen, dass die verwendeten Theorien selbst möglicherweise wahr sind. Die originelle Lösung von B. besteht nun darin, dass er die epistemische Seite des Realismus von seiner metaphysischen trennt und Letztere durch Überlegungen aus dem Pragmatismus stützt. Denn er meint, dass die antirealistischen Attacken auf die epistemische Seite des Realismus stichhaltig sind. Es spricht viel dafür, dass wissenschaftliche Theorien nicht möglicherweise wahr sind, sondern dass sie bloße Hilfsmittel des Denkens sind. Um die metaphysische realistische Annahme zu verteidigen, dass es geistesunabhängige Dinge gibt, vertritt er die These, dass »die empirische Praxis, mithin die Erfahrung als solche, einen eigenständigen und zunächst noch nicht sprachlich geformten Modus des Weltbezugs darstellt« (4). In ihr erfährt das handelnde Subjekt die Subjektunabhängigkeit der Realität in einer eigenen, nicht-propositionalen Form des Wissens, in der Handeln und eine Erfahrung machen gleichsam untrennbar verbunden sind. Es gibt mithin einen »pragmatisch privilegierten Zugang« (171) zur unabhängigen Realität als solcher – zu ihrem Dass vor allem Wie –, der die metaphysische Dimension des Realismus rechtfertigt. Entsprechend plädiert B. auch für ein pragmatisches Verständnis von Wissenschaft: »Für die Wissenschaft ist es nicht konstitutiv, was sie über die Welt sagt, sondern vielmehr, was sie in der Welt tut.« (181)
Um seine Position zu entfalten, geht B. in fünf Schritten vor. Nach der Einleitung geht er in einem »Prolog« unter exemplarischem Verweis auf die Entdeckung des Vitamin C, des Gens und der Atome der Frage nach, wie sich die Wissenschaften auf die Welt beziehen. Das für seinen Wissenschaftsbegriff wichtige Ergebnis besagt, dass sich die Wissenschaften in ihren faktischen Vollzügen durch Handlungen auch auf so abstrakte Entitäten wie Atome beziehen, und zwar auch dann, wenn sie (noch) keine wahren Theorien von diesen Entitäten haben. Im ersten, längsten Teil des Buches erfolgt dann eine Rekonstruktion von wichtigen Positionen der Debatte um den Realismus in der sprachanalytischen ­Tradition vom Wiener Kreis bis zu John Searle, und zwar in systematischer Absicht. Das Ergebnis: Das »Wunderargument« der Realisten überzeugt nicht. Es besagt, dass die Wissenschaften so erfolgreich sind, dass nur ein Wunder eine bessere Erklärung wäre als die, dass Theorien wahr sind und sich auf geistesunabhängige Dinge beziehen. Dagegen behält die pessimistische Meta-Induktion, dass im Rückblick die meisten alten Theorien falsch waren und daher wahrscheinlicherweise auch die meisten heutigen, das vorletzte Wort, und der allgemeinere epistemische Skeptizismus das letzte.
Um demgegenüber sein eigenes Programm des (an diesem Punkt) epistemie-freien pragmatischen Empirismus anzubahnen, rekonstruiert B. im dritten Teil – »Intermezzo« – in kurzen Strichen die Geschichte des Empirismus von Aristoteles bis zum logischen Empirismus. Danach widerlegt er im »Zweiten Teil« wichtige Versuche etwa von Russell und Searle, durch Rekurs auf Sinnesdaten oder die Passivität der Erfahrung irrtumsimmune Zugänge zur geistesunabhängigen Realität zu erlangen, ehe er seinen eigenen pragmatischen Empirismus einführt. Auf den letzten Seiten – dem »Schluss« – wird das in ihm mitgegebene Verständnis der Wissenschaft und der Realität entwickelt.
Dieses Buch überzeugt durch das Zusammenführen zweier zu oft getrennter Wissenschaftskulturen (der der Naturwissenschaften mit der der Philosophie), durch seinen eigenständigen Lö­sungs­ansatz einer grundlegenden Frage, seinen klugen Aufbau, in dem philosophiehistorische Ausführungen stets im Dienst der übergreifenden systematischen Fragestellung erscheinen, und seine glasklare Sprache. Das gilt auch dann, wenn man sich die ­Schlusspassagen mit der Entwicklung der eigenen Lösung noch ausführlicher hätte vorstellen können – denn es stellen sich doch Anschlussfragen: Lassen sich aus dem (von B. nicht ausreichend beachteten) Sich-Zeigen der Dinge (ihrer Phänomenalität) als einem Aspekt eines umfassenden Wahrheitsbegriffs nicht doch Argumente gegen die Durchschlagskraft des allgemeinen Skeptizismus gewinnen? Und, im Anschluss an seine eigene Lösung: Wie verhält sie sich zu den Analysen des In-der-Welt-Seins des frühen Heideggers, und zu denjenigen der klassischen amerikanischen Pragmatisten, die in den ursprünglichen Handlungserfahrungen das Dass und das Wie der sie umgebenden Welt gerade als untrennbar verbunden ansehen?