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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1359–1361

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Mauz, Andreas, u. Adrian Portmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. VIII, 247 S. = Interpretation Interdisziplinär, 12. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-8260-4867-8.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

»Sie entsprechen nicht selten der Vorstellung, die wir von Engeln haben, die sich freiwillig oder auftragsgemäß mit der Welt und ihren Abgründen einlassen. Sie vertreten keine bürgerlichen, sondern himmlische Gesetze, wobei sie freilich – je länger sie auf der Erde wandeln – immer mehr ein Opfer der hiesigen Gepflogenheiten, des ›teuflischen Willens‹ werden.«
Mit diesen Beobachtungen endet dieser Sammelband zum Thema Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Es sind Beobachtungen des Schriftstellers Heinrich Steinfest, der seit 1996 Kriminalromane schreibt und mehrfach mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Seine Deutung der Ermittlerfigur als »Engel« zeugt von der Bereitschaft, in Kriminalliteratur die »leise Stimme Gottes« zu entdecken, so der Titel seines Beitrags, ein Zitat des mittelalterlichen Mystikers Thomas von Kempen.
Der Ansatz ist nicht neu. Schon 1929 hatte der Literaturkritiker Willy Haas in den Krimis von Edgar Wallace ein »unterirdisches theologisches Zeitsymptom« und im Ermittler den »auf Erden weilenden himmlischen Boten« (Mauz/Portmann, 4) gesehen. Damit war ein forschungsgeschichtlich wirksamer Impuls gesetzt. Die literaturtheologische Beschäftigung mit Krimis blieb zwar ein »Randthema« (ebd.). Aber die literarische Grundstruktur von Krimis, die Restitution einer sinnstiftenden Ordnung, lässt bis heute – über religiöse Motive hinaus – nach religiösen Dimensionen der Kriminalliteratur selbst fragen.
Selbstverständlich ist dies nicht. Denn die Geschichte des Krimis erweist ihn als Kind des naturalistischen Dramas: »Im klassischen Detektivroman […] ist das Verbrechen in aller Regel rational […] oder affektiv motiviert. Nur deshalb ist es ja auch immer logisch oder psychologisch auflösbar.« (Jochen Vogt: »Den Bösen sind sie los«, 49) Der Krimi erscheine so geradezu als »Gegenentwurf zum christlich-religiösen Welt- und Menschenbild« (Vogt ,54). So wird verständlich, weshalb es bis heute auch starke Vorbehalte gegenüber einer zu hohen Nähe von Kriminalliteratur und Religion gibt. Im Band macht sie – aus theologischer Sicht – besonders Folkart Wittekind mit seinem Beitrag: »Verkappte Religiosität im Krimi?« stark.
Der Band markiert so das Feld der verschiedenen, ja gegensätzlichen Zugänge zum Thema, innerhalb dessen sich die einzelnen Beiträge bewegen. Sie sind tatsächlich, wie die Herausgeber in ihrer gelungenen Einleitung festhalten, höchst verschieden. Nimmt man diese Disparatheit als »Vorzug« (Mauz/Portmann, 11), ergeben sich Anregungen auf verschiedenen Ebenen. Drei will ich nennen.
Wer den Band als Ganzen liest, erhält erstens aufschlussreiche Einblicke in zeitgenössische Kriminalliteratur. Dabei überzeugen besonders die Beiträge, die dem Verhältnis von Religion und Krimi an literarischen Beispielen konkret nachgehen. Hervorheben will ich den vorzüglichen Beitrag von Regine Munz (Basel), die sich mit dem Roman Tannöd (München 62008) von Andrea Maria Schenkel auseinandersetzt. Der Roman erzählt von einer grausamen Bluttat in einem Dorf, die mit dem Eingeständnis von Schuld (»Ich sage dir, es gibt keinen Gott auf dieser Welt, es gibt nur die Hölle«) und der Bitte um Vergebung endet. Zwischen Tat und Ermittlung schiebe sich, so Munz, »als eine Art Gegenzauber […] die Litanei zum Troste der armen Seelen, welche einem geistlichen Brautführer und Andachtsbuch für die christliche Frau aus dem Jahr 1922 entnommen ist. Angerufen werden Gott, Die Dreieinigkeit, Maria, die Engel, Patriarchen und Propheten, Evangelisten und Vertreter der katholischen Kirche – ›bittet für sie!‹ Mit ›sie‹ sind alle Bewohner des Dorfes, welche jahrelangem sexuellen Missbrauch untätig gegenübergestanden haben, gemeint: Mit dieser Litanei endet auch der Roman: Jetzt gilt die Bitte um Erbarmen einem kollektiven Ich: ›Herr, erbarme dich unser; Christus, erbarme dich unser! Herr erhöre mein Gebet, und lass mein Rufen zu Dir kommen‹.« (»Banalität des Bösen?«, 164)
Der Roman Tannöd kann als ein sprechendes Beispiel für das programmatische Anliegen des Bandes gesehen werden, so mein zweiter Aspekt. Auch wenn die Beiträge höchst verschieden sind, wird der Blick mit dem Titel des Bandes auf »unerlöste Fälle« gelenkt: »Das Happy End oder die Erlösung von dem Bösen bleiben aus, und auch wenn der Fall am Schluss gelöst ist, bleiben die Menschen – als unerlöste Fälle – auf Erlösung angewiesen, weil die Katastrophe und die geschehenen Verletzungen nicht mehr aus der Welt geschafft werden können.« (Mauz/Portmann, 12 f.)
Neben Tannöd wird das an Die Vereinigung jiddischer Polizis-ten von Michael Chabon (New York 2007/Köln 2008) in der Lesart von Adrian Portmann eindrücklich sichtbar: Der Ermittler Meyer Landsman werde als »gefährdeter, leidender, ausgestoßener und gebrochener« Erlöser (»Heruntergekommene Erlöser«, 199) ge­zeich­net, der Roman sei in seiner literarischen Tiefenstruktur re-ligiös bestimmt: »Meyer Landsman ist ein typischer hardboiled Detective und operiert wie seine Kollegen vor dem Hintergrund eines Erlösungsmusters: Er stellt sich stellvertretend für alle anderen dem Bösen und setzt sich der Gefahr aus, er blickt in Abgründe, zerbricht daran beinahe, er bemüht sich darum, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, und kann als Erlöser dennoch bestenfalls eine reduzierte Erlösung bewerkstelligen.« (ebd.)
Hier deutet sich an: Wer das Verhältnis von Kriminalliteratur und Religion bestimmen will, muss nicht nur mit einem Wandel der Literatur, sondern auch der zeitgenössischen Religion rechnen. Viele Beiträge tendieren dazu, Literatur dynamisch-offen, Religion hingegen als statisch-abgeschlossenes System zu betrachten. Dabei lassen Beispiele wie Tannöd oder Die Vereinigung jiddischer Polizisten erkennen, wie sich eben nicht nur Literatur, sondern auch – im Spiegel der Literatur – Religion heute verändert. Mein Eindruck ist, dass die Herausgeber diesen Aspekt gern stärker gemacht hätten, ihnen dafür aber nicht die entsprechenden Beiträge zur Verfügung standen.
Der Sammelband ist im Wortsinn ein »Sammelband«. Es kann ihm nicht gelingen, die literaturtheologische Debatte theoretisch fokussiert weiterzuentwickeln. Das Disparate, manchmal auch nur schwer Nachvollziehbare einzelner Beiträge ist ein Manko, bis dahin, dass nicht klar wird, warum ein Beitrag zum »Tatort« (Chris­tine Stark: »Sonntagsabendkreuz«) aufgenommen ist. Der Vorteil der Sammlung aber ist, dass sie Perlen wie die wunderbare Hommage an Friedrich Anis Idylle der Hyänen enthält. Unter dem Titel: »Ein moderner philosophischer Kriminalroman« beschreibt der Journalist Tobias Gohlis, wie es gelinge, Religion nicht auf der ­Ebene der Forensik, sondern der Humanität zu fassen: »Kriminalromane handeln von Menschen in Not.« (Ani)
Fazit: Der Band stellt sich einem spannenden religionskulturellen Phänomen. Der Wandel der Kriminalliteratur, ihre Offenheit nicht zuletzt für interreligiöse »Erzählelemente« (Christoph Gellner: »Kismet, Letzte Sure. Mord im Zeichen des Zen«) tritt aber sehr viel klarer hervor als der Wandel der Religion in »unerlöster«, postsäkularer Zeit. Schade, dass und wie sich hier alte Deutungsmuster des Religiösen hartnäckig halten. Erfreulich aber ist, dass der Band in einer Zeit boomender Krimi-Lust die Aufmerksamkeit auf das vielschichtige und vielversprechende Verhältnis von Kriminalliteratur und Religion lenkt: Es ist, wie die Herausgeber feststellen, ein noch weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld.