Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1350–1352

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Frankfurter Vorlesungen (1930–1933). Hrsg. u. m. e. historischen Einleitung versehen v. E. Sturm.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XLVIII, 734 S. = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken, 18. Geb. EUR 229,00. ISBN 978-3-11-030119-9.

Rezensent:

Christian Danz

Am 28. März 1929 wurde Paul Tillich mit Unterstützung durch den preußischen Minister Carl Heinrich Becker an die 1914 gegründete Universität Frankfurt am Main auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik berufen. Be­reits zum Sommersemester nahm er seine Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über Griechische Philosophie auf, und im Juni hielt er seine Antrittsvorlesung Philosophie und Schicksal, die noch im selben Jahr in den Kant-Studien publiziert wurde. Mit T.s Berufung nach Frankfurt endete sein Dresdner Intermezzo, und es eröffnete sich für ihn ein breiteres Wirkungsfeld. Es zerschlugen sich allerdings auch seine Hoffnungen auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie in Berlin. Die Frankfurter Jahre T.s markieren ohne Zweifel eine entscheidende Phase in der werkgeschichtlichen Entwicklung seiner Philosophie und Theologie. In dieser Zeit knüpfte er enge Beziehungen zu den Gründern der Frankfurter Schule, die im amerikanischen Exil fortgesetzt wurden. Max Horkheimer verhalf er auf seine Frankfurter Professur, und sein Assistent Theodor W. Adorno habilitierte sich bei ihm mit einer Kierkegaard-Arbeit. Zahlreiche Lehrveranstaltungen führte T. zusammen mit seinem Assistenten sowie Horkheimer durch. In Frankfurt kommt es auch zu einer anthropologischen Umformung der bisherigen sinntheoretischen und geistphilosophischen Grundlagen der Religionsphilosophie T.s. Jene kurze Zeitspanne zwischen 1929 und 1933 bildet eine hochinteressante Übergangsphase zu dessen Spätwerk.
Es ist der unermüdlichen Editionstätigkeit von Erdmann Sturm zu verdanken, dass inzwischen alle bislang bekannten Frankfurter Vorlesungen von Paul Tillich vorliegen. Im Jahre 1995 erschien als Band VIII der Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken (im Folgenden EW) T.s Vorlesung über Hegel vom Wintersemester 1931/32 (Berlin/New York 1995). Es folgten die Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik vom Wintersemes­ter 1929/30 (EW XV, Berlin/New York 2007) und schließlich der hier anzuzeigende Band XVIII Frankfurter Vorlesungen (1930–1933). Er enthält fünf Vorlesungen des Frankfurter Ordinarius: 1. Philosophie der Religion vom Sommersemester 1930 (1–20); 2. Die Entwicklung der Philosophie von der Spätantike zur Renaissance vom Wintersemester 1930/31 (21–230); 3. Geschichte der Ethik vom Sommersemester 1931 (231–339); 4. Die Philosophie der deutschen Klassik vom Sommersemester 1932 (341–504); 5. Fragen der systematischen Philosophie vom Wintersemester 1932/33 (505–666). Bei diesen Texten handelt es sich bis auf die Vorlesung vom Wintersemester 1930/31 über Entwicklung der Philosophie von der Spätantike bis zur Renaissance um Manuskripte T.s, die unterschiedlich stark ausgearbeitet sind. Von der Vorlesung über die Entwicklung der Philosophie wird in dem Band eine Nachschrift von Gerti Siemsen und im zweiten Teil von Walter Georg Muelder mitgeteilt (XVI f.). T. selbst stützte sich bei der Vorle-sung auf ein Manuskript vom Berliner Wintersemester 1923/24 (vgl. EW XIII, 407–638) und hat lediglich die Einleitung in die Vorlesung neu verfasst. Sie ist in der Edition abgedruckt (21–25). Weiterhin präsentiert die Edition acht Beilagen: 1. Vorlesung: Griechische Philosophie, Einleitung (668–683); 2. Die innere Krisis des deutschen Idealismus in Schellings Philosophie (684–687); 3. Der Begriff des Absoluten (688 f.); 4. Das Fragen und die Fragwürdigkeit. Gedanken zur theologischen Anthropologie (690–696); 5. Der Be-griff der Phänomenologie und die phänomenologische Schule (697–699); 6. Philosophische Prüfung und Universitätsreform (700–711);7. Immanent – Transcendent (Transcendental) (712–715); 8. Blut gegen Geist – Dämonen – Das Fragen (716–720). Bei diesen Texten handelt es sich um Konzeptionen zu Seminaren, Vorlesungen, Vorlesungseinleitungen, Vorträge u. Ä. Der Band wird mit einem Editorischen Bericht (XV–XVIII) eröffnet, der die Überlieferungsträger beschreibt und die Aufbewahrungsorte der Manuskripte mitteilt. Eine prägnante Historische Einleitung (XIX–XLVIII) des Herausgebers informiert über T.s Frankfurter Vorlesungstätigkeit vom Sommersemester 1929 bis zum Wintersemester 1932/33, über dessen Wirkung im Urteil seiner Schüler, die Bemühungen des Frankfurter Ordinarius auf eine Rückkehr an die Berliner theologische Fakultät sowie schließlich seine Beurlaubung am13. April 1933. Ein Personen- (723–726) und ein Sachregister (727–734) erschließen dem Leser den Band.
Gegen Ende der 1920er Jahre formt T. seine Theologie und Religionsphilosophie um. Sichtbar wird dies an der prominenten Stellung, welche der Begriff des Seins zunehmend erhält. Er tritt neben den Sinnbegriff, und die bisherige Geistphilosophie wird auf eine anthropologische Grundlage gestellt. Während diese Umstellungen bislang lediglich aus den publizierten Aufsätzen T.s aus den 1930er Jahren greifbar war, ermöglichen nun die Frankfurter Vorlesungen einen Blick in die Entwicklung des Gedankenganges. Bereits in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 über Ge­schichtsphilosophie versteht T. Philosophie als Begegnungsana-lyse. Erkennbar wird das Interesse, den erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Gegensatz zu unterlaufen. In den in dem Band Frankfurter Vorlesungen mitgeteilten Vorlesungsmanuskripten wird dieser Ansatz weiter ausgebaut. Bereits der erste Text, das Fragment einer Vorlesung vom Sommersemester 1930 über Philosophie der Religion, lässt die Umorientierung erkennen. »Philosophie der Religion«, so heißt es nun, »ist Aufweis der Religion als konstitutives Element im Fragen, als Qualität, die der Konstitution des Fragens als solcher anhaftet.« (1) Wurde der Religionsbegriff in den 1920er Jahren intentionalitätstheoretisch als Richtung auf das Unbedingte gefasst, so erhält er jetzt eine stärkere anthropologische Fundierung. Entsprechend setzt die Vorlesung im ersten Teil mit einer »anthropologische[n] Analyse des Wesens der Religion« ein (3–8). Die Untergliederung in drei Teile, eine anthropologische, kosmologische und noologische Analyse des Wesens der Religion, folgt offensichtlich der von Martin Heidegger in Sein und Zeit ausgeführten Analyse der formalen Struktur der Frage nach dem Sein. Ähnlich wie Heidegger unterscheidet T. drei »Frage-Elemente: 1. der Fragende, 2. das Befragte, 3. das Erfragte« (2), aus denen sich die Dimensionen der Analyse des Wesens der Religion ergeben. Die anthropologische Bestimmung der Religion als Intention auf die Situation, »nicht als Funktion, auch nicht als Hinzukommendes, nicht als Apriori und nicht als Aposteriori, sondern als Lage« (8), führt den sinntheoretischen Religionsbegriff zu einer Theorie der konkreten Existenz und ihres Sich-Verstehens weiter. In einem engen Zusammenhang zu den Notaten zur Religionsphilosophievorlesung scheinen die in der Beilage mitgeteilten Überlegungen Gedanken zur theologischen Anthropologie (690–696) zu stehen. Auch sie stehen unter dem Leitgedanken Das Fragen und die Fragwürdigkeit und greifen Gedanken aus dem ersten anthropologischen Teil der Vorlesung auf.
Der Vorlesung Die Entwicklung der Philosophie von der Spätantike zur Renaissance liegt ein älteres Vorlesungsmanuskript aus der Berliner Zeit zugrunde. Der Gedanke einer Geistesgeschichte der Philosophie wird jetzt unter dem Leitbegriff Entwicklung aufgenommen. »Nicht Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, sondern Entwicklung, d. h. das, was im Griechentum Philosophie war, geht in eine Entwicklung ein, die nicht mehr eindeutig Philosophie ist.« (21) Der Gedanke einer Kontinuität der Philosophiegeschichte wird von T. aufgelöst. Im Sommersemester 1931 bot T. eine vierstündige Vorlesung Geschichte der Ethik an, und im Sommersemester 1932 las er ebenfalls vierstündig über Die Philosophie der deutschen Klassik. Während sich die Ethikvorlesung ausführlich mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles auseinandersetzt, schlägt die Vorlesung über die deutsche Klassik einen Bogen von der Aufklärung zur Klassik. Ausführlich und unter breiter Heranziehung der Quellen werden Lessing (371–416), Herder (416–488) und Schiller (488–504) von T. traktiert.
Der für die Rekonstruktion der werkgeschichtlichen Entwicklung T.s aufschlussreichste Text dürfte die letzte Frankfurter Vorlesung vom Wintersemester 1932/33 sein. Diese vierstündige Vor-lesung galt Fragen der systematischen Philosophie. In Auseinandersetzung mit Heidegger, aber auch Karl Jaspers und anderen entfaltet der Frankfurter Ordinarius die Grundzüge einer ge­schichtlichen Existenzphilosophie. Die Struktur der Frage nimmt gleichsam den Begriff des Geistes auf, so dass der Mensch als das Wesen verstanden wird, das fragen kann. In dieser geschichtlich-existentiellen Umformung der Geistphilosophie dokumentiert sich das Interesse T.s an einer nichtgegenständlichen und gleichsam vollzugsgebundenen Konzeption einer Anthropologie. Die geschichtliche Existenz, das lässt bereits die Religionsphilosophievorlesung von 1930 erkennen, wird in eine soziologische Perspek-tive gerückt, so dass der zweite Teil der Vorlesung vom Wintersemester 1932/33, der existentialgeschichtliche Strukturen expliziert (644–666), die geschichtliche Bestimmtheit des Fragenden als »Wir« erörtert. »Der Erkennende ist Einzelner; die Existenz, in der er sich selbst hat, ist eine Wir-Einheit. […] das Wir ist keine feste Substanz, sondern eine aktuelle, in Entscheidungen des Selbst sich herstellende lebendige Einheit.« (645)
Die große Bedeutung der nun vorliegenden Frankfurter Vorlesungen für die Forschung besteht darin, den Übergang von der deutschen zu der amerikanischen Zeit T.s genauer zu erschließen. Mit der anthropologischen Umformulierung der Theologie und Religionsphilosophie eröffnen diese Texte noch einmal eine neue Perspektive auf dessen Werk.