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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1347–1349

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sommer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Frömmigkeit und Weltoffenheit im deutschen Luthertum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 426 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reforma-tion und der Lutherischen Orthodoxie, 19. Geb. EUR 48,00. ISBN978-3-374-03624-0.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Das bevorstehende Reformationsjubiläum wird, da Jubiläums-feiern der Selbstvergewisserung dienen, die verschiedenen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentümer, also Luthertum, Calvinismus, Täufertum und Freikirchentum, dazu bringen, über ihre Eigenart und Bedeutung für die moderne Welt Rechenschaft abzugeben. Der vorliegende Band gilt der historischen Selbstvergewisserung des Luthertums. Er will das Bild eines obrigkeitshörigen und politisch passiven Luthertums, das von Max Weber und Ernst Troeltsch her bis zur Gegenwart das allgemeine Bewusstsein ge­prägt hat und dem Calvinismus eine größere Offenheit für die Welt beimisst, im Gefolge weiterer neuerer Forschungen korrigieren. Wolfgang Sommer, lange Jahre an der Theologischen Akademie in Celle und zuletzt an der Augustana Hochschule Neuendettelsau Kirchengeschichte lehrend, ist Vorsitzender der Historischen Kommission des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB). Man kann diesen Band als einen Beitrag des deutschen Luthertums zum bevorstehenden Reformationsjubi-läum ansehen.
Der stattliche, über 400 Seiten zählende Band vereinigt 17 Beiträge, die bis auf zwei, die Wilhelm von Pechmann und Friedrich Veit gewidmet sind, sich sämtlich mit der Lutherischen Orthodoxie befassen. Der Band erscheint in einer Reihe der Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie. Wenn die Reformation die Wurzel des Baums des Luthertums ist, dann ist in der Frühen Neuzeit die Orthodoxie der Stamm dieser Konfessionsbildung. Während sich die Geschichte der Reformation in jüngster Zeit von der Erforschung von Leben und Werk Luthers auch anderen Themen zugewandt hat, ist die Erforschung der nachreformatorischen Zeit des 17. Jh.s in den herkömmlichen Bahnen geblieben. In den großen Systemen der Dogmatik findet man den Stoff für die Erforschung der Orthodoxie. Die Prinzipienlehre der Systematischen Theologie, die Lehrbildung der einzelnen theologischen Loci und die konfessionellen Lehrstreitigkeiten sind der Gegenstand der Forschung. Für die Erforschung der Ortho-doxie werden die akademischen Universitätstheologen des 17. Jh.s untersucht und diese Forschung wird überwiegend von Repräsentanten der Systematischen Theologie betrieben, die sich ihre akademischen Sporen mit Arbeiten über die lutherische Orthodoxie erwerben. Die großen Systematiker Johann Gerhard, Johann Conrad Dannhauer, Johann Andreas Quenstedt, Johann Friedrich Kö­nig und Abraham Calov gelten als die Klassiker der Orthodoxie. Es erregte Überraschung und weithin Befremden, als 1962 in der Reihe »Klassiker des Protestantismus« ein Band Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts erschien, in dem keiner der bekannten Dogmatiker aufgenommen wurde. Der Herausgeber Winfried Zeller betrachtete das 17. Jh. nicht in der Perspektive der Theologie-, sondern der Frömmigkeitsgeschichte. Zeller zählte eine Reihe Erbauungsschriftsteller und Liederdichter, auch Randgestalten wie William Penn und George Fox zu den Klassikern. Doch Zeller blieb Außenseiter. Weiterhin blieb die Erforschung der Orthodoxie an die akademische Theologie des 17. Jh.s gebunden, wie die bisher in der Reihe der Leucorea-Studien erschienenen Bände zeigen, etwa der Band 2 »Zur Rechtfertigungslehre in der Lutherischen Orthodoxie«.
Ein Vierteljahrhundert nach Zeller verließ S. 1986 in seiner Göttinger Habilitationsschrift »Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der Orthodoxie« (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 41) die Orientierung an der Theologiegeschichte. Angeregt durch die Wiederentdeckung der Regentenpredigt des Wolfenbütteler Hofpredigers Joachim Lütkemann, in der nach dem Dreißigjährigen Krieg scharfe Kritik an der sich an der machiavellistischen Idee der Staatsräson orientieren-den lutherischen Obrigkeit geübt wurde, machte S. die politische Predigt der Hofprediger zum Mittelpunkt seiner Forschungen. Er konnte zeigen, dass im Luthertum anders als im calvinistischen Raum, in dem Rudolf von Thadden das Wirken der reformierten Hofprediger in Brandenburg-Preußen untersucht, als sich der Herrschaft anpassend gemalt und die Geschichte der Hofprediger im 17. und 18. Jh. als konfliktlos dargestellt hatte, die Geschichte der lutherischen Hofprediger im älteren Luthertum weithin eine Konfliktgeschichte war. Die Predigt der Hofprediger als Modell für das Verhältnis von Kirche und Staat im Zeitalter des Absolutismus benutzend zeichnete S. für das ältere Luthertum ein spannungs-reiches Bild. Ausgehend von Luthers Obrigkeitsverständnis nach seiner Auslegung des 101. Psalms als Regentenpsalm Davids und seiner Obrigkeitskritik auf der Basis der Lehre von den zwei Regimenten, konnte S. zeigen, dass unter dem zunehmenden Einfluss Johann Arndts die Orientierung an Luthers Lehre von den zwei Regimenten verloren ging. Obrigkeitskritik endete in einer am weltlichen Leben der Obrigkeit Kritik übenden Beichtstuhlseelsorge, wie in dem bekanntesten Fall lutherischer Obrigkeitskritik im älteren Luthertum, dem Konflikt zwischen Spener und dem kursächsischen Kurfürsten. Doch blieb im Luthertum die Geschichte der Hofprediger eine Geschichte nicht des Obrigkeitsgehorsams, sondern der Obrigkeitskritik. Die eingehende Untersuchung der Regentenpredigt Lütkemanns bildet den Abschluss einer ausführlichen Geschichte der politischen Predigt des 17. Jh.s, in der zuvor das Wirken der kursächsischen Hofprediger Nikolaus Selnecker und Polykarp Leyser, des Celler Generalsuperintendenten Arndt und des Wolfenbütteler Hofpredigers Basilius Sattler dargestellt wurde. So ergab sich, dass das von Troeltsch gemalte Bild vom Luthertum als einer obrigkeitshörigen, den Konflikt mit der Obrigkeit scheuenden Form des Protestantismus für das ältere Luthertum revisionsbedürftig ist.
Der vorliegende auf das deutsche Luthertum beschränkte Band zeigt, dass S. mit seiner Ausrichtung auf die Frömmigkeitsforschung kein Außenseiter mehr ist, sondern in der Theologie und vor allem in der interdisziplinären Erforschung der Frühen Neuzeit breite Zustimmung findet. Der Band schließt inhaltlich an S.s frühere Forschungen an, variiert sie und bezieht sie auf die neuere Pietismusforschung. Er beginnt mit Aufsätzen zu dem in der Pietismusforschung zunehmend als bedeutendste Gestalt des 17. Jh.s erkannten Johann Arndt. S. kritisiert an der rege angewachsenen Arndtforschung, dass sie sich einseitig an seinem literarisch so erfolgreichen Erbauungsbuch »Wahres Christentum« orientiert, und versteht Arndt von seinem immensen Predigtwerk her, den Psalterpredigten, der Evangelienpostille und den Katechismuspredigten sowie von seinem Wirken als leitender Theologe einer großen lutherischen Landeskirche Norddeutschlands. So ist Arndt als Repräsentant der lutherischen Orthodoxie zu verstehen und nicht als Einbruch des Spiritualismus in die lutherische Orthodoxie, wie es Berndt Hamm und Martin Brecht tun. In einem Beitrag über das Wirken von Johann Michael Dilherr wird die weltoffene, kulturelle Prägekraft des Luthertums in der Mitte des 17. Jh.s an dem führenden lutherischen Theologen der Reichsstadt Nürnberg deutlich gemacht. Johann Caspar Haferung in Wittenberg, der einzige orthodoxe Theologieprofessor in diesem Band, wird wegen seiner Nähe zu Arndt und Spener der Vergessenheit entrissen.
Mehrere Beiträge gelten dem Wirken Speners als Hofprediger in Dresden, wobei seine Prägung durch Johann Arndt durch eine Analyse von Speners Predigten über Arndts »Wahres Christentum« und die den Konflikt mit der Obrigkeit nivellierenden Gespräche zwischen Arndt und Spener im Reich der Toten, die aus dem sächsischen Pietismus stammen, untersucht werden. S. begrüßt das am Paradigma der Konfessionalisierung entstandene erfreuliche Interesse an der Frömmigkeitsgeschichte, das man in den an der Sozial- und Mentalitätsgeschichte ausgerichteten Geschichtswissenschaften zur Frühen Neuzeit wahrnimmt. Im Gefolge von Luise Schorn-Schüttes »Prediger an protestantischen Höfen der Frühen Neuzeit« (1985) entstanden in der der religiösen Dimension sich öffnenden Geschichtswissenschaft zahlreiche von S. beeinflusste Studien. Der Beitrag Frömmigkeitsgeschichte im Spiegel von Theologie und Ge­schichtswissenschaften zeigt, wie stark die von S. betriebene Frömmigkeitsgeschichte aus der Disziplin der wissenschaftlichen Theologie in die interdisziplinäre Frühneuzeitforschung, in der das Interesse an Johann Arndt als dem meistgelesenen lutherischen Autor groß ist, eingewandert ist. S. hält an den traditionellen Be­griffen der Orthodoxie und des Pietismus fest, möchte sie aber in der Theologie methodisch von der Frömmigkeitsforschung untersucht haben. Doch droht mit einem Paradigmenwechsel von der Theologiegeschichte zur Frömmigkeitsgeschichte eine neue Einseitigkeit.
Für bahnbrechende neuere Studien wie Andreas Stegmanns Arbeit über den Rostocker Systematiker Johann Friedrich König ist in einer auf die Frömmigkeitsgeschichte ausgerichteten Erforschung der Orthodoxie kein Platz. Mit S. darin einig, dass das Luthertum des 17. Jh.s frömmigkeitsgeschichtlich von dem im­mensen Einfluss Johann Arndts her verstanden werden muss, unterscheide ich mich von ihm darin, dass ich das bei Spener Neue und ihn von Arndt Unterscheidende stärker beachte: die Idee der Sammlung der Frommen (Collegia pietatis), die aus der altprotes­tantischen Enderwartung herausführende Hoffnung besserer Zeiten, das von den antijüdischen Spätschriften Luthers zu dessen Frühschrift von 1523 zurückkehrende veränderte Verhältnis zu den Juden (der Toleranzgedanke), schließlich Speners Unverständnis des vierten Buches des »Wahren Christentums« und seine Aufgeschlossenheit zur modernen Naturwissenschaft. Diese Differenzpunkte zwischen Arndt und Spener spielen für S.s frömmigkeitsgeschichtliche Perspektive keine Rolle. Während ich, der ich Arndt erst in die Geschichte des Pietismus hereingeholt habe, ihn als Be­gründer des pietistischen Frömmigkeitsstrebens im weiteren Sinn zum Pietismus zähle, im Übrigen aber in der Orthodoxie belasse, bleibt es aus S.s an der Frömmigkeit orientierter Sicht schwer verständlich, dass, was ich nicht kritisiere, sondern im Gegenteil begrüße, ein wesentlich Arndt in den Mittelpunkt stellender Band in einer Reihe erscheint, die der Geschichte der Lutherischen Orthodoxie bestimmt ist.