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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1343–1345

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kratzert, Lucius

Titel/Untertitel:

Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche. Zur nationalen Prägung von Gesellschaftslehren deutscher und schweizerischer Theologen im 20. Jh.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 372 S. = Christentum und Kultur, 14. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-290-17715-7.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Es ist nicht leicht, Neues zur gut erforschten Theologie im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Zeit zu sagen, insbesondere zu den vielfach monographisch bearbeiteten Theologien Karl Barths (1886–1968) und Friedrich Gogartens (1887–1967). Darin aber besteht das ehrgeizige Ziel dieser von Georg Pfleiderer betreuten Baseler Dissertation von Lucius Kratzert. Ihre These besagt, »dass sich in den […] Theoriebildungen protestantischer Theologen solche Elemente […] ausfindig machen lassen […], in denen die spezifische Prägung durch ein bestimmtes nationales Gepräge ansichtig wird. Differenzen in den Lehrbildungen sind dann nicht allein durch die Herkunft aus unterschiedlichen theologischen Traditionslinien zu erklären, sondern auch aus einer unterschiedlichen nationalen Herkunft.« (18) Dieses Ergebnis wird durch dreifache Neuperspektivierung erreicht.
Die erste Perspektive ist mit der leitenden Forschungsfrage verknüpft, nämlich der Re-Lektüre der Theologien vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit. Um für diesen Zweck zu spezifischen Aussagen zu kommen, wird, zweitens, mit Martin Werner (1887–1964) ein Theologe herangezogen, der ausschließlich in der Schweiz gewirkt hat, während Gogarten als typischer Vertreter der deutschen lutherischen Theologie gelten kann und Barth als mehrfacher Grenzgänger mit der deutschen und schweizerischen Mentalität vertraut war, was ihm von theologischen und politischen Gegnern in den 30er Jahren auch zum Vorwurf gemacht wurde. Durch den transnationalen Vergleich kommt eine neue, in der bisherigen Theologiegeschichtsschreibung noch nicht berücksichtigte Perspektive hinzu. Schließlich thematisiert K. die Theologien Barths, Gogartens und Werners vor dem Hintergrund der sich erheblich wandelnden Kontexte, nämlich der Krisenerfahrung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (»II: Theologie im Angesicht der Krise«), der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland (»III. Theologie im Angesicht des Totalitarismus«) und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch Demokratisierung, beginnenden Wohlstand und den Ost-West-Konflikt gekennzeichnet ist (»IV. Theologie in der pluralen Gesellschaft«). Diese materialen Teile werden durch eine Einleitung (»I. Die Voraussetzungen des Denkens«) und eine Bündelung der Ergebnisse (»V. Die mentale Prägung theologischer Arbeit. Ein Ausblick«) gerahmt. Zu den Vorzügen dieser Mono-graphie gehört ihr klarer Aufbau. In jedem materialen Kapitel werden zunächst die gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Rahmenbedingungen skizziert und anschließend die relevanten Aspekte der Theologien Barths, Gogartens und Werners präsentiert, bevor in einem »zusammenfassenden Vergleich« die Ergebnisse festgehalten werden.
Der Erfolg der Untersuchung hängt an der differenzierten Beschreibung der die Theologen prägenden nationalen Mentalitäten. K. knüpft an Peter Dinzelbachers Arbeiten an und setzt voraus, dass es sich bei Mentalitäten um Denk- und Verhaltensmuster handelt, die den Einzelnen weitestgehend vorreflexiv prägen, weil sie zu den dauerhaften, vornehmlich unproblematisierten kulturellen Bedingungen gehören, die die Gedanken und das Handeln des Einzelnen dauerhaft prädisponieren (vgl. 21 f.). Angesichts der vielfältigen kulturellen Überlappungen zwischen Deutschland und der Schweiz liegen die unterschiedlichen Mentalitäten in diesem Fall gar nicht auf der Hand. K. deutet sie einleitend an und nennt die unterschiedliche konfessionelle Prägung und die aristokratische bzw. oligarchische Herrschaftsform in Deutschland, während sich die Schweiz bereits seit 1948 entschlossen der neuzeitlichen Demokratie zugewendet hat. In den Denktraditionen der beiden Länder hat die reich verwendete Autoritätssemantik eine unterschiedliche Reichweite und es ist das Staatsverständnis, das die Mentalitäten trennt. Während Luthertum und Staatsfrömmigkeit in Deutschland ineinanderliegen, wird in der eidgenössischen Tradition der Staat in der Verfügungsmacht der ­Bürger gesehen.
Trotz einzelner Unschärfen bei der Beschreibung der drei mentalitätsgeschichtlichen Konstellationen in Gesellschaft, Politik und Kirche gelingen K. eindrucksvolle Durchblicke in das theologische Schaffen seiner drei Gewährsautoren. Er knüpft dabei am jeweiligen Forschungsstand an, allerdings hätten die Ergebnisse der 2012 publizierten Studie von Andreas Holzbauer (Nation und Identität. Die politische Theologie von Emanuel Hirsch, Friedrich Gogarten und Werner Elert in postmoderner Perspektive) für die Drucklegung berücksichtigt werden können. Insbesondere die theologischen Ansätze von Barth und Gogarten, die sich ja – zumindest in den Anfangsjahren – gegen jede externe Kontextualisierung sperren wollen, werden durch die Rekonstruktion ihrer mentalen Prägung in ihren Grundanliegen und Umstellungen transparenter und verständlicher, als dies bisher der Fall war. Überzeugend kann K. darlegen, warum Martin Werners liberale Individualtheorie in der Schweiz auf große Resonanz stieß, während sein Versuch, das philosophisch-ethische Denken Albert Schweitzers religionstheoretisch und theologisch aufzubereiten, »in Deutschland nur in den liberalsten Kreisen Beachtung und Zuspruch« (347) fand. Überdies kann K. deutlich machen, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur für Gogarten, sondern auch für Barth eine Zäsur bedeutete, die auch theologisch verarbeitet wurde. Nach 1945 ging es nicht einfach bloß um die Vollendung der theologischen Systeme. Ob die Transformationen, die K. jeweils freilegt, allerdings aufgrund von mentaler Prägung oder nicht doch auf der Basis eigener Einsichten und bewusster Diagnosen zustande gekommen sind, das wird in der Darstellung nicht immer deutlich. Bei Barth konzentriert sich K. vor allem auf KD IV. Hätte man Barths Offene Briefe, mit denen er sich vielfach in die politischen Diskurse nach 1945 eingemischt hat, intensiver und kontextdichter ausgewertet, wäre das hohe Maß an Barths (kirchenpolitischem) Opportunismus deutlich geworden. Das würde wieder die These K.s bestätigen, dass Barth in politicis der verhandlungsdemokratischen Politik-Realität der Schweiz viel stärker verhaftet war, als seine bis heute geküns-telt wirkenden und prinzipiellen Charakter vortäuschenden Ausführungen zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürger-gemeinde vermuten lassen.
Zu bedauern ist, dass K. im abschließenden Kapitel V seine wichtigen Forschungsergebnisse zu Barth, Gogarten und Werner am Beispiel des Rhein-Laufes stilisiert, und nicht, was der Leser erwarten würde, die Leistungsfähigkeit seiner historiographischen Leitthese extrapoliert. Denn die Vermutung liegt nahe, dass die sich zuspitzende Pluralisierung der protestantischen Theologie, die in den hier fokussierten Epochen sichtbar wird und mit Hilfe von K.s Ansatz erklärt werden kann, auch darin begründet ist, dass sich seit den späten 60er Jahren die geprägten nationalen Mentalitäten auflösen. Die evangelische Theologie zerfällt nun in eine Vielzahl von nationalübergreifenden Milieutheologien und das Interesse, diesen Vorgang selbst reflexiv einzuholen, ist deshalb gering ausgeprägt, weil sich Fragen der gesellschaftlichen Praxis in den Vordergrund geschoben haben. Die Reflexionslast obliegt nun mehr denn je der Theologiegeschichtsschreibung. Einen guten Anfang zu ihrer Bewältigung hat K. mit seiner Monographie vorgelegt.