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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1338–1340

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Zaunstöck, Holger, Müller-Bahlke, Thomas, u. Claus Veltmann[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700.

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz Verlag 2013. 324 S. m. 312 Abb. = Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 29. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-447-06889-5.

Rezensent:

Patrick Bahl

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Obst, Helmut: August Hermann Francke und sein Werk. Wiesbaden: Otto Harrassowitz Verlag 2013. 240 S. m 1. Porträt u. 80 Abb. Geb. EUR 15,80. ISBN 978-3-447-06903-8.


Beide Bücher, Biographie und Aufsatzband, sind zum 350. Geburtstag August Hermann Franckes 2013 erschienen.
Die Biographie des profilierten Francke-Forschers Helmut Obst beschränkt sich nicht nur auf das Leben des Stiftungsgründers, sondern bietet auch einen detaillierten Einblick in die Entstehung der Stiftungen und deren Geschichte. O. stellt in Kapitel 1 den Lebensweg Franckes von dessen Bekehrung bis zur schleichenden Ermattung angesichts der umfassenden Verpflichtungen im Alter dar, blickt sodann in Kapitel 2 hinter die Kulissen der Anstalten und deren Anfänge. Während der moderne Leser mit den Problemen ausufernder Großbauprojekte hinlänglich vertraut ist, deutet der »Skandal«, der Bauherr nehme gelegentlich auch Geld von »Calvinisten und Spiritualisten« (79), die ideologischen Konflikte um die Errichtung der Anstalten an. O. zeigt, dass die Gründungsgeschichten nicht einfach nur eine Anthologie kirchengeschichtlicher Bonmots darstellen, sondern vielmehr den Nimbus der Anstalten prägen, die ihre Entstehung und Erhaltung göttlicher Providenz zu verdanken schienen – allen Widrigkeiten zum Trotz (vgl. 82 f.). Francke als »der Theologe« bildet das Zentrum der Persönlichkeitsstudie in Kapitel 3, um das herum die anderen Aspekte seines Wirkens angeordnet sind. Etwas überzählig erscheint die Passage »der Mensch«, die – in vielen Einzelepisoden – das verschlossene Wesen Franckes nur stückweise zu erhellen vermag. In Kapitel 4 behandelt O. ausführlich die Nachfolger Franckes, was auch von dem Interesse geleitet ist, Franckes Sohn Gotthilf aus dem Schatten des Vaters hervorzuholen: Die höchste Blüte der Anstalten während Gotthilfs Direktorat – die weiten Kreise der Mission und der Hallesche Einfluss auf die evangelischen Kirchen in Nordamerika – wägt O. umsichtig gegen die Verfallserscheinungen in den Anstalten ab, die auch Ausdruck einer Glaubwürdigkeitskrise des Pietismus insgesamt gewesen sind. Kapitel 5 beschreibt eindrücklich den Wiederaufstieg der Anstalten – auch mit Hilfe des preußischen Staats. Diese immer schon bestehende Nähe der Anstalten zur Obrigkeit schlägt ab 1848/9 in eine staatliche Bevormundungspolitik um, unter deren Vorzeichen O. dann auch die Geschichte der Anstalten im 20. Jh. erzählt.
Wenn auch Fragen eines in der kirchengeschichtlichen Terminologie unsicheren Lesers nur indirekt beantwortet werden (Was ist Aufklärung? Orthodoxie? Pietismus?), dürfte der Leser, der einen Erstkontakt mit Francke sucht, von der frischen, quellennahen Darstellung mitgerissen und gut informiert werden. Für den Francke-Kenner ist vor allem die Aufarbeitung der Geschichte nach dem Übervater Francke wertvoll. Die den Text flankierenden Ab­-bildungen runden das Bild einer gelungenen Biographie ab.
Der Sammelband »Die Welt verändern« bildet gleichzeitig den Ausstellungskatalog zur Francke-Jubiläumsausstellung von 2013 in Halle und ist dementsprechend reich bebildert. Der Verdacht jubiläenbedingter Redundanz ist jedoch unbegründet, denn hier versammeln sich kurze, teils einleitende, teils vertiefende Aufsätze und Essays, die sich in mehreren Themenkreisen an Francke und die Anstalten annähern.
Im ersten Themenkreis (»Welterkenntnis und Weltveränderung im 17. Jahrhundert«) zeichnet A. Pečar die geistesgeschichtliche Situation in Halle um 1700 nach und verortet Francke und sein Netzwerk in der sich rasant verändernden, (natur-)wissenschaftlich immer aufgeklärteren Welt um 1700. M. Jakubowski-Tiessen zeigt die europäische Dimension des Pietismus im 17. und 18. Jh., seine außerdeutschen Vermittler und Rezipienten und die Strahlkraft der Stiftungen auf dem ganzen Kontinent.
In einem zweiten Themenkreis (»Franckes Glaube«) stellt W. Breul einen Vergleich des Gewissheits-Begriffs bei Luther und Francke an und geht den ­literarischen und historischen Verbindungslinien zwischen Reformator und Stiftungsgründer nach. M. Matthias beleuchtet Franckes Bekehrungsbericht hinsichtlich dessen formaler und inhaltlicher Abhängigkeiten von puritanischen Texten und Breithaupts Bußtheologie. V. Albrecht-Birkner ordnet die atheistische Krise Franckes historisch ein und geht den weiteren Krisenerfahrungen Franckes in seiner Gemeinde und in den Konflikten mit der Orthodoxie nach. Im dritten Themenkreis (»Franckes Wissenshorizonte«) befasst sich M. Gierl mit der Wissenschaftstheorie um 1700 und Franckes ambivalentem Verhältnis zu der »hungrigen Wissensgesellschaft« (122) (zwischen pietistischem Misstrauen und dem pädagogischen Interesse an Veranschaulichung und Visualisierung). D. Hornemann und C. Veltmann konkretisieren dieses Interesse anhand Franckes Sammelleidenschaft, die sich vor allem in der Naturalienkammer der Stiftungen ausdrückt. (Hier erweisen sich die Abbildungen der Exponate als Glücksfall.)
Im Themenfeld »Politische und pietistische Netzwerke« behandelt B. Klos­terberg das »Kommunikationsnetzwerk Halle«, das von einer komplexen Bürokratie mit Konferenzen, Protokollen und Gegenzeichnungen geprägt war, was sich am Archiv der Stiftungen ablesen lässt. J. Gröschels Beitrag über die Internationalität dieses Netzwerks informiert umfassend über wichtige Akteure neben Francke, vor allem Ludolf. Th. Müller-Bahlke beleuchtet differenziert die ambivalente Rolle des Adels (auch außerhalb Brandenburg-Preußens) beim Aufbau der Stiftungen. Den nächsten Themenschwerpunkt bildet Franckes Pädagogik. J. Jacobi untersucht deren Verbindungen zur »Pädagogische[n] Avantgarde um 1700« (215), vor allem zu Locke und Fénelon, sucht aber auch nach dem Spezifischen in der Pädagogik Franckes. K. Lißmann und P. Schmid illustrieren eindrucksvoll die praxis pietatis im Bannkreis Franckes anhand des Briefwechsels zwischen Francke und Sophia Maria von Stammer und anhand der Exempelgeschichten für Kinder – Spiegelerzählungen für die pietistische Individuation.
Unter der Überschrift »Portraits und die ›Marke Waisenhaus‹« versammeln sich Aufsätze zu »Franckes Imagepolitik«. M. Wiemers setzt sich mit den Bildnissen Franckes, ihrer Verwendung, ihren Auftraggebern und ihren Stand-orten auseinander. H. Zaunstöck erarbeitet die »Markenbildung« als ein Spezifikum des Hallenser Pietismus und zeigt: Marken werden damals wie heute durch umfassendes Marketing, Merchandising und eine erhabene Identifikationsfigur geprägt. Ch. Soboth wagt unter dem vergnüglichen Titel »Hallescher Pietismus – frisiert und unfrisiert« einen Seitenblick auf die pietistische Selbstinszenierung, die weit über den Besuch beim Coiffeur hinausgeht, und thematisiert die kritischen Anfragen der orthodoxen Zeitgenossen, der ihnen folgenden Aufklärer und der Religionskritiker des 18. Jh.s an die Authentizität des pietistischen Habitus. Ein Beitrag von W. Flügel zeigt anhand der Jubiläumspredigten bzw. Reden der Stiftungsdirektoren die sich wandelnden historischen Befindlichkeiten der Anstalten, die sich nicht zuletzt in der perspekti-vischen Wahrnehmung Franckes (z. B. in dessen Vereinnahmung als Vordenker und Vorkämpfer sozialistischer Bildungsideale in der DDR) widerspiegeln.
Sowohl dem Neugierigen als auch dem Francke-Spezialisten ist der Band zu empfehlen. Texte und Abbildungen sind gut aufeinander abgestimmt. Den Texten nicht zuträgliche Abbildungen werden in den Verzeichnissen nachgereicht, so dass der Lesefluss nicht gehemmt wird. Umfassende Register schließen den Katalog ab. Dem Interesse Franckes an Veranschaulichung und lebensnaher Wissensvermittlung sind die Herausgeber in jedem Fall gerecht geworden.