Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | November/2014 |
Spalte: | 1326–1330 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Fritz, Martin |
Titel/Untertitel: | Vom Erhabenen. Der Traktat »Peri Hypsous« und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XII, 612 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 160. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150417-4. |
Rezensent: | Walter Sparn |
Diese von Ulrich Barth betreute Dissertation von Martin Fritz genügt den hohen »Ansprüchen einer Hallenser Dogmatik-Promotion« (VI) nicht nur durch intellektuelle Brillanz, hermeneutische Präzision und großräumige Fragestellung – sie ist habilitationsäquivalent –, sondern auch durch die Beharrlichkeit, mit der sie viele, teils besonders schwierige Texte erschließt. Gleichwohl geht der späte Zeitpunkt dieser Besprechung allein zu Lasten des Rezensenten, der umso mehr zur Lektüre eines Buches auffordern möchte, als dessen Titel verbirgt, dass es im Medium der begriffs- und theoriegeschichtlichen Rekonstruktion eine vielversprechende systematische Initiative lanciert: eine religionstheoretisch relevante Ästhetik des Erhabenen.
Die »Einleitung« (1–26) formuliert die Aktualität des historischen Interesses. Der Vf. geht von der Beobachtung aus, dass nicht-metaphysische ästhetische Theorien des ausgehenden 20. Jh.s den längst obsoleten, eben weil »metaphysischen« Begriff des Erhabenen wieder aufgreifen und ihn nahe dem Religiösen und der negativen Theologie platzieren: J.-F. Lyotard und schon Th. W. Adorno. Vorbehalte demgegenüber speisen sich aus dem Verdacht falscher Versöhnung und illegitimer Säkularisierung (das Ästhetisch-Erhabene als ein Surrogat von Metaphysik bzw. von Religion), und sie unterstellen eine allzu randscharfe Trennung zwischen Ästhetik und Religion. Eine solche kennzeichne sogar R. Ottos Phänomenologie, die das Heilige und das Erhabene nur gefühlsassoziativ verbindet (17 ff.). Demgegenüber will der Vf. zeigen, dass das Erhabene für die Sphäre gerade der Interferenz von Ästhetischem und Religiösem steht, für Erfahrungen, die sich nicht alternativ als religiöse oder aber ästhetische verstehen, vielmehr für das, was seit F. Schleiermacher »Kunstreligion« heißt. Das besagt die Aufgabe, die Genese der ästhetisch und religiös engagierten Theorie des Erhabenen zu rekonstruieren; eine Genese, die seit dem ausgehenden 17. bis zur Mitte des 18. Jh.s in Frankreich, England, in der Schweiz und in Deutschland statthatte (22 f.).
Der Vf. gewichtet stark, dass diese Renaissance des Erhabenen durchweg die Renaissance des (Pseudo-)Longinschen Traktates »Peri Hypsous« war – ein Traktat, in dem der (heidnische) Anonymus des 1. Jh.s neben Homer u. a. auch Gen 1 als Beispiel erhabener Rede anführt. Die Frage, ob der neuzeitliche Erhabenheitsdiskurs wirklich religiös ambitioniert war, erfordert die Analyse auch seines Referenztextes. Das unternimmt Teil I (28–158), der den schwierigen Traktat auf seine rhetorische und literaturkritische Kategorie des Erhabenen ( hypsos) hin im Kontext der antiken Rhetorik untersucht. Als Wirkungsziel erhabenen Redens zur rechten Zeit (kairiôs) stellt er das erschütterte Hingerissensein (»Ekstase«) und den Aufschwung der Seele des Hörers heraus (34 ff.). Konstruktive Leitbegriffe sind der mehrperspektivische Begriff des pathos und der ethische Begriff der »Hochsinnigkeit« einer »großen Natur«: Ihr »Widerhall« ist ebendas Erhabene; im Vergleich mit Platon, Aristoteles und Cicero tritt die ästhetisch-religiöse Fär-bung dieses Begriffs deutlich hervor (61 ff.). Eine Grundform istdas Pathetisch-Erhabene, das Bedrohungserfahrungen als Bewährungsort heroischer Hochsinnigkeit darstellt (95 ff.) und die affektive Eruption des hochsinnigen thymos in »hoher« Sprache spiegelt (110 ff.134 ff.). Die andere Grundform ist das ohne Pathos auskommende Majestätisch-Erhabene vor allem in der Schilderung göttlicher Größe (139 ff.). Anders als die geläufige Interpretation platziert der Vf. diese psychologisch plausible Poetik des enthusiastischen Pathos »zwischen Tugendethik und Metaphysik« (149 ff.), sieht also nicht das paradoxe Zugleich von Bestürzung und Freude (»angenehmes Grauen«) als konstitutiv, sondern »den Aufschwung der hochsinnigen Seele zu einem stolzen Bewusstsein gottähnlichen Adels« in einer »Tiefenerfahrung« überweltlicher Bestimmung (155). Diese Idee eines enthusiastischen Pathos impliziert eine stark platonisch gefärbte, seinerzeit »gemeinidealistische« und »gemeinreligiöse« Alternative zur aristotelischen und stoischen Tragödientheorie (153.157).
Die ästhetisch-metaphysische Tiefenerfahrung seelischer Transzendenzorientierung scheint dem Vf. der wichtigste Grund für die neuzeitliche Wiederentdeckung des Erhabenen. Das weist Teil II (160–551), dessen stoffliche Fülle und gedankliche Dichte hier nur angedeutet werden kann, in sechs Kapiteln nach, die auch die Forschungsliteratur kritisch rezipieren. Der Vf. markiert 1. die Ausgangskonstellation in der Poetologie und der Übersetzung des Ps.-Longin durch N. Boileau-Despréaux 1674, der das je ne sais quoi du Sublime nach seiner ethischen Dimension und seiner seelenerhebend numinosen Wirkung entfaltet und sich dabei, nicht unbestritten (P.-D. Huet), auch auf das Fiat lux von Gen 1 und die Psalmen Davids bezieht (162 ff.). Es folgt die Konjunktur des Erhabenen in England (J. Dennis 1701, J. Addison 1712), seine sensualistische, dennoch religiös offene Einschränkung auf den Schrecken bei Edmund Burke (1757) und die Rolle des Erhabenen in der Poetologie und der Interpretation von John Miltons Paradise Lost durchJ. J. Bodmer und J. J. Breitinger (1727). Es zeigt sich, dass gegen die gängige Begrenzung auf das (vermeintlich autonome) Ästhetische im poetologischen Begriff des Erhabenen ästhetische, ethische und religiöse Dimension sich durchdringen – ein »dreifaches Erhabenes« (gegen D. Till, 228 f.).
Vorzüglich stellt Kapitel 2 die Geburt der Ästhetik in Halle (Saale) aus der Verschränkung von Pietismus und Aufklärung zwischen 1730 und 1750 (230 ff.) dar. Bei A. G. Baumgarten, S. G. Lange und G. F. Meier kann der Vf. die religionsästhetischen Intentionen der neuen »Wissenschaft der Versinnlichung« (248 ff.) deutlich herausstellen, umgekehrt auch die Angewiesenheit der Religion, wenn sie zur »lebendigen Erkenntnis« werden soll, auf Ästhetik (273 ff.). Mit dem Baumgarten-Schüler und Longin-Übersetzer J. I. Pyra rückt Kapitel 3 einen poetologischen Pionier religiöser Dichtung in helles Licht (284 ff.): Bei ihm fungiert das Erhabene, weit davon entfernt, ein Vehikel der Säkularisierung zu sein (H.-G. Kemper, C. Zelle), als Kategorie der Synthese ästhetischer und religiöser Motive, anthropologisch fundiert in der »Bestimmung des Menschen« zur Erneuerung und Vervollkommnung seiner Hoheit als Ebenbild Gottes. Damit wird erhabene Poesie ein Mittel der Seelsorge (306 ff.), und sie kann Verächtern der Religion fehlende Empfindungen nahebringen (Lange, Meier, 313 ff.). Besonders folgenreich wurde Pyras Einschätzung der Bibel als Muster der einfach-erhabenen Rede von göttlichen Dingen; vorgebildet von den Theologen J. F. Budde (1723) und J. J. Rambach (1735). Letzterer fixierte den bald klassischen Ausdruck »heiliger Schauer« als seelische Resonanz auf den erhabenen Autor der Bibel (324 ff.). Die ästhetische, auf die erhabene Sprachgestalt achtende Lektüre der Bibel wird, im Kontrast zur dogmatischen Lesart, gerade in ihrem Unbestimmtheitsmoment zum Medium religiöser Mitteilung (350 ff.); der von göttlichen Dingen »hoch« denkende und »hoch« redende, seelenerhebende »Bewunderung« bewirkende Dichter hat einen religiösen Beruf (356 ff.).
Der Vf. kontextualisiert Pyras religionstheoretische Lesart des Erhabenen nicht nur in seiner deutschsprachigen Umwelt (S. G. Lange, J. J. Bodmer, 369 ff.; S. J. Baumgarten, 391 f.), sondern auch mit dem zeitgleichen anglikanischen Poetologen und BischofR. Lowth (395 ff.). Lowths ästhetische Dechiffrierung des Alten Testament als heilige Dichtung der Hebräer (1753), eine ästhetikgeschichtliche Forschungslücke, wird im Gegensatz zur literaturwissenschaftlichen Auffassung, sie betreibe die Depotenzierung der Bibel als Heiliger Schrift (D. Gutzen), in ihrem genuin theologischen Beweisziel konturiert. Diesem dienen sowohl die Bestimmung der Quellen (Natur, Kunst) und der Gegenstände der Poesie (Tugend, Religion) als ein nach Stil-, Symbol- und Ausdrucksdimension differenzierter und komplexer Begriff des Sublimen, der weniger auf die Intensität der seelischen Resonanz als vielmehr auf deren religiösen Charakter abhebt (416 ff.): eine »Bibelhermeneutik im Gefolge Longins«, die resakralisierend auf das biblische Poten-tial für die Erschließung elementaren religiösen Erlebens abzielt. So wurde sie auch in Deutschland, vor allem durch J. G. Herder, rezipiert (495 ff.). Den glanzvollen Abschluss der Analysen bildet Kapitel 5 über F. G. Klopstocks »Poetik der Unsterblichkeit« (465–507). Die Pfortaer Abschiedsrede (1745) artikuliert die Transzendierungsleistung und die Offenbarungsmittlerschaft der Dichtung, die der Kopenhagener Messias-Ausgabe 1755 vorangestellte Programmschrift »Von der heiligen Poesie« stellt diese als unverzichtbare Instanz der Bibelauslegung neben die Theologie. Wie die höhere Poesie überhaupt (Homer, E. Young) hat sie »moralische [i. U. zu: natürliche] Schönheit« zu besingen und durch sie das hochsinnige Unsterblichkeitsbewusstsein der Seele wieder wachzurufen. Das Erhabene ist hier Funktion von Erbauungspoesie: Es soll den Leser zur »Andacht« der Einbildungskraft, zu »gottseligen Rührungen«, zur frommen »Entzückung« bewegen (465 ff.). Gegenüber Pyra und J. J. Spaldings »Wert der Andacht« (1755) entwickelt Klopstock ein deutlicheres Gefühl der Inkommensurabilität Gottes, so dass das letzte Ziel seiner erhabenen Poesie eine Gottinnigkeit ist, die zwischen enthusiastischer Hymnik und staunendem Verstummen changiert (495 ff.).
Kapitel 6 »Das Religiös-Erhabene und die Ästhetisierung des Christentums« (508–523) summiert und betont überzeugend, dass der Synthesecharakter des Erhabenen nicht die Auflösung von Religion (Tiefendimension) in Kunst (Erlebnisqualität), sondern beider Korrelation meint. Der Vf. begreift die Prozesse der Sakralisierung der Poesie und der Poetisierung der Religion (neben der Ethisierung) als Reflex der Transformationskrise der Religion angesichts der Abnahme der religiösen Prägekraft der zuständigen Institutionen (515 ff.). Das formuliert eine plausible Alternative zu linearen Modellen der Säkularisierung religiöser Gehalte und der Ausbildung autonomer kultureller Sphären; es provoziert allerdings die Frage, wie die verinnerlichende Poetik des Erhabenen sich zur expliziten und institutionellen Religion verhält. Der Vf. forciert diese Frage selbst, wenn er die frühmoderne Renaissance des Erhabenen als Geburtsstunde der modernen »Kunstreligion« beurteilt, eines Phänomens, das die innere Verwandtschaft von Kunst und Religion seinerseits zur Geltung bringe (520 f., mit U. Barth, W. Gräb). Um solche Affinität nicht zur fatalen Konkurrenz werden zu lassen, muss der Vf. auf elaborierte Theorien derselben ausgreifen, also auf F. Schleiermacher oder W. H. Wackenroder (»Kunstandacht«); hier wird aber nicht mehr positive Religion, sondern allgemeiner die Wahrnehmung des Unendlichen im Endlichen apostrophiert. Der Vf. denkt an ein »Balancemodell«, in dem die explizite Religion auf die Kunst darin angewiesen ist, dass diese ein vorreflexives Sensorium für das Unbedingte weckt und dass sie, wie das Bilderverbot, in ihrer Unbestimmtheit auf die letzte Unbestimmbarkeit des Unbedingten hinweist (519 ff.).
Freilich meint der Vf., dass die aktuelle religionstheoretische Plausibilität des Erhabenen sich an der Frage entscheide, ob dessen religiöse Signatur sich in der weitergehenden Theoriebildung durchgehalten habe. Der Beantwortung dieser Frage gilt ein »Systematischer Ausblick« (525–551), der die Position Hegels, speziell im Blick auf den systematischen Konnex zwischen Erhabenheitstheorie und Theorie des religiösen Symbols, als übergeordneten Standpunkt wählt, von dem aus er auf Herder und Kant zurück- sowie auf Otto und Tillich vorausblickt (529 ff.). Die so gebildeten Assoziationen lesen sich überaus anregend und erlauben die Skizze der Anforderungen für eine gegenwärtige Ästhetik des Erhabenen in religionstheoretischer Absicht (542 ff., Thesen: 550 f.). Das eröffnet aber einen neuen Diskurs, mit dessen kategorialen Problemen sich die beiden letzten Kapitel schon fast zu viel befrachtet haben und der ohne Austausch mit Kunstwissenschaften und Kulturhermeneutik nicht möglich sein dürfte. Doch führen die Verzeichnisse der Quellen und der Forschungsliteratur (553–589), ein Personen- und ein Sachregister (591–612) eindrücklich vor Augen, welch weiten religionskulturellen Horizont diese Untersuchung schon als historische ausgemessen hat.