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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1324–1326

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Zerbe, Doreen

Titel/Untertitel:

Reformation der Memoria. Denkmale in der Stadtkirche Wittenberg als Zeugnisse lutherischer Memorialkultur im 16. Jahrhundert. M. e. Liste d. lateinischen Inschriften, übers. v. F. Richter.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 648 S. m. zahlr. Abb. = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 14. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-03082-8.

Rezensent:

Eberhard J. Nikitsch

Bei dieser Arbeit von Doreen Zerbe handelt es sich um ihre im Jahr 2010 von der Universität Leipzig angenommene und für den Druck geringfügig überarbeitete historische Dissertation, für die sie den Martin-Luther-Preis 2012 der Luther-Gesellschaft e. V. erhalten hat. Im Zentrum der inhaltlich weit ausholenden, die Resultate theologischer, historischer sowie kunsthistorischer Forschung berücksichtigenden Untersuchung stehen 67 zwischen 1500 und 1618 entstandene Grabdenkmäler der evangelischen Stadtkirche St. Marien in Wittenberg, der »Mutterkirche« der Reformation. Von ihnen haben sich bis heute immerhin noch 30 – wenn auch oft nur noch fragmentarisch – erhalten; ihre Vorgänger waren offenbar dem Wittenberger Kirchensturm von 1521/22 zum Opfer gefallen.
Nach einer Quellen- und Literaturübersicht sowie einer ausführlichen Einleitung in die methodischen und terminologischen Grundlagen der Arbeit (15–54) folgen drei umfangreiche, gut strukturierte Kapitel, in denen die in dieser Zuspitzung bisher noch nicht gestellte Kernfrage nach der »Reformation der Memoria« im 16. Jh. durch zahlreiche Einzelaspekte beleuchtet wird. Unter historisch-topographischen Gesichtspunkten werden zunächst Wittenberg und seine (Kloster-)Kirchen als Begräbnisstätten der das Stadtleben prägenden drei Bevölkerungsgruppen vorgestellt – kursächsische Hofgesellschaft, Universität und Bürgertum (55–173). Daraufhin folgt eine breit angelegte Analyse inhaltlicher wie formaler Aspekte spätmittelalterlicher Sepulkralkultur, die als Ausgangspunkt für die Analyse sowohl von Kontinuitäten als auch von reformatorisch bedingten Abweichungen dient (175–245). Ab­schließend werden die unterschiedlichen Grabdenkmäler im Hinblick auf ihre spezielle Funktion in der damaligen lutherischen Erinnerungskultur untersucht, wobei spezifische Bildmotive eine herausragende Rolle einnehmen (247–426). Ein Serviceteil mit Zusammenfassung, Literaturverzeichnis sowie Grundrisse mit den Standorten der Grabdenk-mäler be­schließen diesen Teil des Buches (427–470). Ohne eigene Zählung ist dem letzten Kapitel ein schwarzweiß bebilderter, chronologisch geordneter Katalog der erhaltenen Grabdenkmäler angegliedert (471–623), wobei Beschreibung und Kommentar wohl von der Vfn. stammen, die kritische Edition der Inschriften sowie die Übersetzung der lateinischen, meist gereimten Inschriften dagegen von Friedemann Richter erstellt wurden. Ein Personenregister und 16 Farbtafeln beschließen das Buch.
Bewundernswert ist die akribische Sorgfalt, mit der die Vfn. die – angesichts der reformationsgeschichtlichen Relevanz des Themas – nahezu unüberschaubare Literaturfülle (auch der Archivalien) bewältigt hat: 1570 Anmerkungen (ohne Katalog) sprechen ihre eigene Sprache. Ohne näher auf die zahlreichen interessanten konfessions- wie kunst- und kulturgeschichtlichen Einzelbeobachtungen eingehen zu können, möchte ich mich im Folgenden auf einige Ergebnisse konzentrieren, die die Kernthese der Arbeit betreffen: Folgte in der ersten Hälfte des 16. Jh.s auf die Reformation des Glaubens im Bereich des Totengedächtnisses tatsächlich auch eine Reformation der Memoria? Und wenn ja, resultierten daraus wesentliche Unterschiede zwischen der spätmittelalterlich-katholischen und reformatorisch-lutherischen Sepulkralkultur? Wie die Vfn. gut nachvollziehbar zusammenfasst, war mit der genuin lutherischen Vorstellung von der Erlösung des Menschen allein durch Gnade das mittelalterliche Konstrukt des Fegefeuers obsolet geworden, aus dem die Seelen nur mittels Fürbitte der Heiligen oder geeigneter Aktivitäten der Hinterbliebenen zu erlösen waren. Daher waren die für das Spätmittelalter so charakteristischen Almosen-, Mess- und Votivstiftungen nicht mehr notwendig. Bedingt durch diese Grundhaltung war letztendlich auch ein Begräbnis in der Kirche, die Bestattung »ad sanctos«, nicht mehr so erstrebenswert, und die in vielen reformierten Städten neu entstehenden Friedhöfe wurden (neben hygienischen Überlegungen) auch deswegen ganz bewusst außerhalb der Mauern angelegt. In­teressanterweise behielt man aber ausgerechnet in Wittenberg die (offensichtlich nicht so schnell zu beseitigende) mittelalterliche Tradition der Bestattung in der Kirche und auf dem angrenzenden Friedhof bei. Alle Protagonisten der ersten Reformatorengeneration wurden in der Schlosskirche (u. a. Luther, Maior, Melanchthon) oder der (der Schlosskirche inkorporierten) Stadtkirche (u. a. Bu-genhagen, Cruciger, Eber) begraben. Im Unterschied zur mittelalterlichen Jenseitsfürsorge steht in der lutherischen Totenfürsorge die Tröstung der Hinterbliebenen im Mittelpunkt, deren Stärkung im Glauben und in der Hoffnung auf Auferstehung: Christus gilt nun als der alleinige Mittler zwischen Gott und den Gläubigen. Infolgedessen kommt es in der lutherischen Bilderwelt zur Fokussierung auf Christus und zum Verzicht der Darstellung von Heiligen und ihrer Martyrien. Folglich werden in lutherischen Grabinschriften die traditionellen Fürbittformeln »ora pro me« oder »re­quiescat in pace« bzw. »dem Gott gnad« in der Regel von der Bitte um eine »fröhliche Auferstehung« abgelöst. Bis dahin verbleibt die Seele nach lutherischer Vorstellung unerreichbar in einer Art Ruhekammer ähnlich Abrahams Schoß, der Körper dagegen ruht im »Schlafkämmerlein« des Grabes. Die (in Wittenberg meist der Cranach-Werkstatt entstammenden) bildlichen Darstellungen waren als »sichtbare Predigt« (254) sanktioniert und bevorzugte Motive wie etwa die Taufe Christi, das letzte Abendmahl, das Geschehen in Gethsemane in Verbindung mit Kreuzigung und Auferstehung, die Bekehrung des Paulus, das Begräbnis des Jünglings zu Nain oder die Erweckung des Lazarus sollten den Glauben der Gemeinde an die lutherischen Glaubenssätze fördern und festigen. Dennoch blieb aber – im Ganzen gesehen – ein grundsätzlicher Bruch mit den mittelalterlichen Gewohnheiten aus, Grabplatte und Wanddenkmal blieben konfessionsübergreifend in Gebrauch. Auch wenn sich deutliche Änderungen sowohl im Bereich der Inschriften und auch bei der äußeren Gestaltung der Grabdenkmäler beobachten lassen: Eine fundamentale »Reformation der Memoria« im strengen Sinne hat nicht stattgefunden.
Abschließend ist kritisch nachzufragen, ob die von der Vfn. aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen getroffene terminologische Unterscheidung der Denkmäler des Totengedächtnisses in »Grab­mal (Grabplatte, Wanddenkmal, Grabdenkmal) und Ge­dächt­nismal (Inschriftenplatte, Gemäldegedächtnismal usw.)« zwingend nötig war und ob diese Definitionen angesichts der sonst üblichen Usancen (so im interakademischen Editionsunternehmen »Die Deutschen Inschriften«, vgl. etwa http://www.inschriften.net/rhein-hunsrueck- kreis/einleitung/4-die-inschriftentraeger.html) nicht eher verwirrend wirken. Ein Beispiel dafür wäre der Begriff des Epitaphs bzw. Epitaphiums, der in der Regel ein an der Wand angebrachtes Grabdenkmal bezeichnet, den sie allein für das inschriftlich ausgeführte Grabgedicht gelten lassen will.
Diese Anmerkung schmälert aber nicht die höchst anerkennungswerte Leistung der Vfn., deren fundierte theologie- wie kunstgeschichtliche Analysen für weitere vergleichende reformationsgeschichtliche Forschungen in hohem Maße anregend sind.