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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

710–712

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hendel, Ronald S.

Titel/Untertitel:

The Text of Genesis 1-11. Textual Studies and Critical Edition.

Verlag:

New York: Oxford University Press 1998. XVI, 168 S. gr.8. Lw. $ 29,95. ISBN 0-19-511961-4.

Rezensent:

Martin Rösel

Mit dem anzuzeigenden Werk liegt der nunmehr zweite ausgeführte Versuch (nach P. G. Borbone, Il libro del profeta Osea, Edizione critica del testo ebraico, 1990) vor, einen kritisch-eklektischen Text eines alttestamentlichen Buches zu erstellen. Das zeigt die wachsende Bedeutung textkritischer Fragen durch die Veröffentlichung der in der judäischen Wüste gefundenen Bibeltexte. Im Unterschied zu dem von R. S. Hendel gewählten methodischen Zugang, daß der "archetype" (113) des Textes durch die Anwendung textkritischer Instrumente wiederhergestellt werden kann, werden jedoch gegenwärtig mit der "Biblia Hebraica Quinta" und der "Hebrew University Bible" zwei Textausgaben vorbereitet, die am alten Verfahren festhalten, nur den Text einer hebräischen Handschrift samt unterschiedlich umfangreichem kritischen Apparat darzubieten. Dieses Konzept erscheint durch das Buch Hendels als veraltet (vgl. 112); Grund genug, seinen Versuch einer Überprüfung zu unterziehen.

Das Buch gliedert sich in zwei unterschiedlich umfangreiche Teile: Im ersten Hauptabschnitt, "Textual Studies" überschrieben (1-105), werden in 6 Kapiteln die Grundlagen für Teil II, "Critical Edition" (107-149) erarbeitet. Bibliographie, kurze Autoren- und Stichwortindices und ein Stellenregister beschließen das Buch. Das erste Unterkapitel führt sehr kurz (3-15) in Theorie und Methode der Textkritik ein und listet die wesentlichen Zeugen auf, sofern sie für die Genesis von Bedeutung sind. Darauf folgt ein ausführlicher Vergleich von MT und LXX in Gen 1,1-2,4 (16-39), der den hohen Wert der griechischen Version für die Rekonstruktion des hebräischen Textes belegen soll. Kürzer werden dann textliche Probleme des MT in Gen 1-11 abgehandelt (40-60), wobei es zu unnötigen Wiederholungen von im vorhergehenden Kapitel getroffenen Entscheidungen kommt. Bei diesem Abschnitt handelt es sich um das Herzstück der Studie, denn hier werden die meisten der Begründungen für vom MT abweichende Lesarten gegeben, die im kritischen Text gedruckt wurden. Um so bedauerlicher ist die Kürze der Darstellung.

Darauf folgt ein ebenso langes (!) Kapitel über die Chronologien in Gen 5+11 (61-80). Hier wird m. E. eindeutig die Grenze zur Literarkritik überschritten, wenn der Vf. zu der Annahme kommt, die Probleme bei der Chronologie seien auf die Einfügung eines selbständigen "Buchs der Generationen Adams" (s. Gen 5,1) zurückzuführen, was wegen der unterschiedlichen chronologischen Angaben zu Revisionsprozessen geführt habe. Zu einer sinnvollen Erklärung der in MT, Samaritanus und LXX abweichenden Zahlen kommt H. damit allerdings nicht, statt dessen muß er chronologische Angaben auch ohne textliche Bezeugung rekonstruieren.

Im fünften Kapitel werden dann Samaritanus und LXX hinsichtlich ihrer harmonisierenden Tendenzen miteinander verglichen (81-92), das sechste Kapitel beschreibt eine kurze Textgeschichte der Genesis (93-105), die mit zwei Texttypen rechnet, deren einer sich zum MT weiterentwickelt habe. Der zweite "old Palestinian hyparchetype" habe sich in zwei weitere Typen, Samaritanus und LXX, gespalten (vgl. das Schaubild 100). Es scheint mir sehr fraglich, ob das wenige Material aus Gen 1-11 ein solches Urteil zuläßt, auf weitere Textuntersuchungen wurde leider verzichtet.

Kapitel 7 stellt dann die Kriterien vor, nach denen der im folgenden Abschnitt abgedruckte kritische Text erstellt wurde. Bei der Rekonstruktion des Textes von Gen 1-11 geht H. so vor, daß er einen punktierten Text dort bietet, wo er der masoretischen Tradition folgt. Zugrundegelegt wurde dazu der Text des Kairoer Pentateuch Codex (Siglum C 3), wobei die Abweichungen zum St. Petersburg/Leningrad-Codex marginal sind. Die Masora ist überhaupt nicht wiedergegeben worden, es fehlt zudem jegliche Diskussion über die Frage, wie die masoretischen Angaben der großen Codices zu behandeln sind.

Wenn Hendel nicht dem MT folgt, sondern einem anderen Zeugen oder einer Konjektur (so in 4,22; 10,5) den Vorzug gibt, wird dieser Text unpunktiert dargeboten. Dabei ist eine uneinheitlichen Behandlung von Ketib- und Qere-Lesungen festzustellen: In 8,17 wird das Ketib geboten und nicht punktiert, in 9,21, wo H. ebenfalls für das Ketib optiert, behält er die (Qere-)Punktation jedoch bei. Diese Beobachtung führt zu der grundsätzlichen Frage, ob man nicht bei der Erstellung eines kritischen Textes ganz auf die Punktation verzichten sollte. So, wie Hendel den Text darbietet, wird nicht recht klar, welche Stufe der Textüberlieferung er tatsächlich rekonstruiert.

Die wesentlichen, den Inhalt verändernden Voten gegen den MT seien kurz mitgeteilt: In Gen 1,9 wird der im MT fehlende Ausführungsbericht aufgrund LXX und einem winzigen Fragment aus 4Q rekonstruiert. In 2,2a liest H. mit Sam und LXX, daß Gott am 6. Tag sein Werk beendete. In 4,7 wird ohne weitere Zeugen XXXX rekonstruiert, in 4,22 XX XXX konjiziert. In 4,8 votiert H. für die Ursprünglichkeit der in LXX und Sam erhaltenen Aufforderung "laß uns auf das Feld gehen". Zu 5,19 wird ebenfalls ohne Textbeleg die Jahreszahl 900 errechnet, dies geschieht ähnlich auch in den folgenden Versen. In Gen 8,14 wird die Dauer der Sintflut auf ein Jahr verkürzt, wobei H. sich auf 4Q252 und Jub 5,31 als Zeugen stützt. Die Bezeugungen der einzelnen Lesarten werden in einem übersichtlichen Apparat auf der dem Text gegenüberliegenden Seite dargeboten, ein zweiter Apparat unter dem Text listet Abweichungen der masoretischen Tradition.

Die Souveränität, mit der H. für die Ursprünglichkeit bestimmter Texte votieren und abweichende Lesarten erklären kann, ist beeindruckend. Dennoch bleiben, ohne ins Detail gehen zu können, Fragen offen: Zum einen stellt sich die Frage, ob sich die Genesis, noch dazu dieser kleine Textausschnitt, dazu eignet, als Testfall für das Programm einer Rekonstruktion eines besseren Textes zu dienen. Da die Textüberlieferung gerade im Bereich der Tora offenbar schon sehr früh standardisiert war, ist kaum mit nennenswerten Abweichungen zu rechnen; H.s Ausgabe belegt folgerichtig die weitgehende Überlegenheit der masoretischen Überlieferung. Die Brauchbarkeit des Verfahrens für die anderen Bücher der Hebräischen Bibel läßt sich damit jedoch nicht belegen. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: Bei Büchern wie etwa Jeremia oder den Psalmen gab es ausweislich des Qumran-Befunds mehrere Ausgaben. Welche dieser Versionen soll als "Archetyp" gelten und rekonstruiert werden? Muß nicht vielmehr die Pluralität der Textformen auch heute ausgehalten werden?

Zu diesen grundsätzlicheren Fragen kommen Zweifel an der konkreten Durchführung des Programms bei H.: So werden als Textzeugen Texte gelistet, die m. E. zu hoch bewertet sind: H. wertet z. B. targumische Lesarten als ursprünglich (zu 4,22) und korrigiert den MT gar mit einem Text aus 1Chron 1,6 (142). Lesarten aus Josephus, Jubiläen oder 4Q252 werden als Textzeugen hoch bewertet, dies noch dazu in Kontexten, in denen das eigene Interesse dieser Schriften eindeutig ist (etwa Jubiläen bei der Chronologie der Flut). Die LXX wird sehr uneinheitlich behandelt. Zwar erkennt H. ihre Tendenz zur Harmonisierung, doch setzt er sich an wichtigen Stellen über die eigene Erkenntnis hinweg und akzeptiert LXX-Lesarten, auch wenn sie nur sehr schwach von anderen Zeugen unterstützt sind. Manche Rückübersetzungen von der LXX in das Hebräische sind fraglich (so in 1,9a; 7,11), hinzu kommt eine krasse Fehlübersetzung bei einem deutschen Zitat (17).

So begrüßenswert das Unternehmen auch ist, am Ende überwiegen die Zweifel. Zwar gebe ich gerne zu, daß mein eigener Standpunkt von der Beschäftigung mit der Genesis-LXX her geprägt ist, mit der in diesem Buch nicht angemessen umgegangen wird. Doch, wie angedeutet, bleiben auch in anderen Hinsichten Fragen offen. Bis ein überzeugenderer Versuch vorgelegt wird, halte ich demnach das von den BHQ und HUB-Projekten verfolgte Verfahren der Darbietung einer Handschrift für das aussichtsreichere.