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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1320–1322

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Moser, Christian

Titel/Untertitel:

Die Dignität des Ereignisses. Studien zu Heinrich Bullingers Reformationsgeschichtsschreibung. 2 Vols.

Verlag:

Leiden: Brill 2012. XIV, 1114 S. = Studies in the History of Chris­tian Traditions, 163. Geb. EUR 216,00. ISBN 978-90-04-22978-5.

Rezensent:

Daniël Timmerman

Diese Studie liefert einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Erschließung der historiographischen Werke des Zürcher Reformators Heinrich Bullinger (1504–1575). Der Wert dieser Werke erweist sich schon aus einem Blick auf das Untersuchungsgebiet. Die Bullinger-Forschung hat bereits seit langer Zeit die Bedeutung des Reformators als Geschichtsschreiber wahrgenommen und wird dabei meistens von einer theologiehistorischen Fragestellung geleitet mit einem Fokus auf z. B. die Themenkomplexe: Bund, Heilsgeschichte oder Eschatologie. Diese neue Arbeit ist aber die erste Monographie, die Bullingers Geschichtsschreibung als solche zum Gegenstand hat.
Der Autor, Christian Moser, ist als Oberassistent am Institut für schweizerische Reformationsgeschichte in Zürich tätig. Seine Arbeit wurde 2008 als Dissertation von der dortigen Theologischen Fakultät angenommen. Trotz seiner maßvollen Zielsetzung, »einen Beitrag und Baustein zu einer umfassenderen Behandlung des Themenkomplexes ›Bullinger und die Geschichte‹ zu liefern« (5), hat er mit dieser Veröffentlichung (bestehend aus 1.100 Seiten in zwei Bänden) eine beeindruckende Leistung erbracht.
Die eigentliche Untersuchung von M. findet im ersten Band statt. Im ersten Kapitel gewährt er einen Einblick in die beiden Schwerpunkte seiner Untersuchung: Geschichtstheologie und historiographische Praxis bei Bullinger in deren gegenseitiger Wechselwirkung. M. untersucht beide mit Hilfe eines speziellen Quelldokumentes, und zwar der sogenannten »Reformationsgeschichte«. Es handelt sich hierbei um eine handgeschriebene Darstellung der Kirchenreform in Zürich von 1519 bis 1532, mit der Bullinger 1567, mit Hilfe der von ihm angelegten Materialsammlungen, als Ergebnis seine jahrelange Untersuchung abrundete. M. ist sich bewusst, dass durch die Wahl der Reformationsgeschichte ein Großteil der historischen Werke Bullingers, wie beispielsweise seine Schriftstücke über die alte Schweizer Geschichte, nicht be­rücksichtigt wird. Aber gerade, weil M. die Wahl dieses Dokumentes verständlich verantwortet und zudem eine breitgefächerte Auswahl anderen (handgeschriebenen) Quellmaterials in seine Untersuchung einbezieht, ist es ihm doch gelungen, ein repräsentatives Bild von Bullinger als Historiograph zu zeichnen.
Das Quelldokument wird im zweiten, langen Kapitel ausführlich eingeführt, indem mehr als 200 Seiten Entstehungsgeschichte, Komposition, Quellennutzung, aber auch inhaltliche Tendenzen erörtert werden. Meiner Meinung nach hätte diese Erörterung an Kraft gewonnen, wenn M. hierbei die Beschreibung und die Analyse über zwei Kapitel verteilt hätte. Das dritte Kapitel, das einige »zusammenfassende Beobachtungen zur Reformationsgeschichtsschreibung Bullingers« enthält, ist dagegen sehr aufschlussreich. Das Ergebnis von M.s Analyse wird in drei Aspekte unterteilt.
Als Erstes zeigt Bullinger, nach M.s Urteil, im Vergleich zu seinen Zeitgenossen eine relativ starke Konzentration auf historische Tatsachen. Auch wenn der Reformator, der aktiv an den konfessionellen Auseinandersetzungen seines Zeitalters beteiligt war, nicht frei von kirchenpolitischen und apologetischen Tendenzen war, zeigt sein historiographisches Schaffen doch ein Streben nach einer gewissermaßen objektiven Darstellung der Geschichte. Oder, gemäß dem Haupttitel dieser Studie: Bullinger hat sich darum bemüht, »die Dignität des Ereignisses« darzustellen. Doch das führte, zweitens, nicht zu einer rein immanenten Betrachtung der Geschichte. Im Gegenteil, Bullinger ist davon überzeugt, dass gerade die objektive Wiedergabe der Tatsachen das Wirken Gottes in der Geschichte zu erhellen vermag. Die Dignität der Ereignisse besteht also darin, dass sie einen gewissen Revelationsgehalt haben, weil Gott ihnen Sinn und Wahrheit verleiht. M. sprichtin diesem Zusammenhang von einem »theistisch-providenzi-ellen Determinismus« bei Bullinger. In gewissem Sinne ist die Geschichtsauffassung Bullingers »entsakralisiert«, weil die historischen Geschehnisse ohne Nutzung der heilshistorischen oder eschatologischen Deutungsschemata interpretiert werden (293–300). Mit dieser Beobachtung bietet M. eine wichtige Ergänzung zur herkömmlichen Wahrnehmung Bullingers als Bundestheologe und heilshistorisch angehauchter Ausleger der Johannesapokalypse.
Ein drittes Ergebnis der Analyse M.s betrifft die persönlich-exis­tenzielle Dimension von Bullingers historiographischem Schaffen. Er war sich »[m]it wachsender Klarheit der zunehmenden Exzeptionalität seines Status als Reformator und Augenzeuge der wunderbaren Ereignisse der Reformationszeit« bewusst (449). Nach M. war Reformationsgeschichte also Teil des geistlichen Vermächt-nisses des Reformators, in dem er das Auftreten Gottes in seiner Lebenszeit bezeugen wollte.
Im vierten Kapitel erörtert M. die Frage nach der historiographiegeschichtlichen Einordnung Bullingers. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass dessen Reformationsgeschichte nicht ohne Weiteres in bestehende Kategorien eingeordnet werden kann. Einerseits ist es offensichtlich, dass Bullinger, vor allem in den tendenziöseren Teilen seiner Arbeit, durch apologetische und konfessionelle Motive motiviert wurde. Und doch ist M. zurückhaltend bei der Zuweisung eines Werturteils, wie beispielsweise die Instrumentalisierung der Geschichte, zurückhaltend schon darum, weil nicht bekannt ist, welchen Leserkreis Bullinger bei der Abfassung vor Augen hatte. Andererseits hat sich herausgestellt, dass der Zürcher Kirchenleiter mit dem humanistischen Umgang mit der Geschichte bekannt war, ihn aber in seiner eigenen Geschichtsschreibung nur selektiv anwendete.
Zum Schluss des ersten Bandes geht M. ziemlich ausführlich, aber ohne Anspruch auf Vollständigkeit, der Überlieferungs-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte seiner Hauptquelle nach. Ob­wohl das Manuskript Bullingers zeitlebens nicht publiziert wurde, zeigt M., dass vor allem die tendenziösen Teile der Reformationsgeschichte breit rezipiert worden sind. Inhaltlich wirksam war vor allem die sogenannte Täuferhypothese Bullingers, nach der er die Provenienz der Täuferbewegung ins ferne Sachsen, also in den Umkreis Luthers verlagern wollte. Nach Meinung M.s »verficht Bullinger in der Reformationsgeschichte – in moderater Art und Weise – auch die These von der eigenständigen Genese der Zürcher Reformation […] und damit die Priorität Zwinglis vor Luther« (267).
Band 2 enthält einen »editorischen und beschreibenden An­hang« und M. bietet daher eine Vielfalt edierter Handschriften und bibliographischer Aufzeichnungen zusammen. Zum Beispiel präsentiert und analysiert er in Anhang 13 über 240 Manuskripte der »Tigurinerchronik« und der Reformationsgeschichte. Diese Auf-listung bietet nicht nur einen Einblick in die Wirkungsgeschichte von Bullingers historiographischen Schriften, sondern auch in die wissenschaftliche Akribie M.s.
Zusammenfassend ist die Studie M.s eine gründliche und bahnbrechende Untersuchung der historiographischen Arbeit von Heinrich Bullinger. Für den Allgemeinhistoriker ist sie ein An­sporn, um die Geschichtsschreibung dieses Kirchenreformers auf deren eigene Verdienste zu beurteilen. So wird der Kirchenhistoriker herausgefordert, M.s Einsichten in eine neue Fassung von Bullingers Konzept der Heilsgeschichte zu integrieren. Letztendlich ist es wünschenswert, M.s wichtigstes Desiderat – eine moderne kritische Ausgabe von Bullingers Reformationsgeschichte – schnell zu realisieren.