Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1314–1317

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Snyder, Glenn E.

Titel/Untertitel:

Acts of Paul. The Formation of a Pauline Corpus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XII, 317 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 352. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152773-9.

Rezensent:

Thomas J. Kraus

In seinem wichtigen Übersichtswerk Apokryphe Apostelakten bietet Hans-Josef Klauck mehr, als der Untertitel Eine Einführung (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2005) suggeriert: Durch präzise und kompakte Präsentation aller relevanten Daten und Fragen ermöglicht er sowohl Fachleuten als auch einer interessierten Leserschaft mit rudimentärem Vorwissen einen jeweils individuellen Zugang zu einer speziellen Literatur des Christentums der ersten Jahrhunderte. Diese wurde und wird als populär, oberflächlich, rein legendarisch, sekundär und damit vernachlässigbar eingestuft. Und wer sich selbst einmal auf eine Lesereise hinein in die Welt der sogenannten apokryphen Apostelakten begeben hat, kann die Faszination verstehen, die von diesen Apostelgeschichten ausgeht. So ist es nur natürlich, dass sich die Forschung auch mehr dieser Texte annimmt und sich auf bestimmte Facetten konzentriert oder die Gattungsfrage stets neu stellt.
Hier reiht sich nun Glenn E. Snyder ein. Seine 2010 mit dem Titel Remembering the Acts of Paul von der Harvard University als Dissertation angenommene Arbeit (bei François Bovon, unter weiterer Beteiligung von Karen L. King und Dale B. Martin, beide Yale) liegt nun unter verändertem Titel und einem eigenen Kapitel über ActPaul vor. Grundsätzlich gibt sich S. selbst programmatisch vor, dass er sich der Genese und Ausgestaltung der ActPaul widmen möchte, dabei stets unter Berücksichtigung von deren Relation zu der kanonisch gewordenen Apostelgeschichte, und die griechischen, lateinischen und koptischen Textzeugnisse des 2.–6. Jh.s dieser apokryph gewordenen Apostelgeschichte untersuchen werde.
Das Buch bietet – wie üblich – Vorwort, ein Literaturverzeichnis (265–283; es fehlt aber beispielsweise Klaucks Apokryphe Apostel-akten), ausführliche Indizes. Der Hauptteil in insgesamt sieben Kapiteln ist dem Untersuchungsgegenstand ActPaul gewidmet. Dazu kommen noch eine Einleitung und ein knapper Abschnitt mit Schlussfolgerungen sowie ein Appendix mit einer Übersicht (Parallelen zwischen ActPaul und Apg nach geographischen Orten) und einem Schaubild (eine Art Stemma der Einzelüberlieferungen und Sammlungen zueinander vor P.Heid.).
In seiner Einleitung (1–21) bietet S. einen Forschungsüberblick mit den gängigen und zentralen Thesen und Theorien: Es ist wichtig, sich von Beginn an der Differenzierung bewusst zu sein, dass es sich bei der Bezeichnung ActPaul um (a) eine Gruppe frühchristlicher Texte (auf der Basis einer breiten und diffusen Manuskripttradition) und (b) eine Kategorisierung ebendieser Texte handelt. Gerade (b) wird vielfach in der Forschung als Ausgangspunkt für die Betrachtung von ActPaul gewählt, eben dann die Perspektive, dass diese auf einen Autor des späten 2. Jh.s in Asia Minor zurückzuführen sind, also die einzelnen Texte selbst zu einem kohärenten Ganzen gehören. Auch Editionsprojekte verfahren entsprechend, so dass S. mit Fug und Recht bereits an dieser frühen Stelle seiner Monographie unterschiedliche Manuskripte und Traditionen, die unter dem Titel Paulusakten in unterschiedlichen Sprachen firmieren (2–3), anspricht.
S.s Anmerkung in Fußnote 2 (2), dass sogar nicht-christliche Acta Pauli (et Antonini) existierten, mahnt zur Vorsicht vor einer vorschnellen Annahme einer homogenen Bezeugungs- und Überlieferungsgeschichte. Anhand der zwei wichtigen Handschriften P.Hamb. und P.Heid. stellt S. Überlappungen und Eigengut der Handschriften visuell in einer tabellarischen Übersicht dar (4–5). Mit Recht hält er fest, dass bei einer Untersuchung von ActPaul und Apg auch immer zugleich die komplexe Bezeugungs- und Überlieferungslage berücksichtigt werden muss, was häufig entweder nur für Apg oder ActPaul der Fall war. In diesem Zusammenhang geht er auf die unterschiedlichen potentiellen Texttypen von Apg ein. Die nächsten Seiten (16–21) sind dann der Anlage der eigenen Arbeit (plan of study) gewidmet: S.s grundlegendes Ziel ist (16) »a critical and historical study of the composition and reception of the traditions abstractly ascribed to the ›Acts of Paul‹.« Er möchte aus einer historischen Perspektive die Fragen beantworten, warum und wie unterschiedliche Erzählungen über Paulus entstanden sind, und auch deren Unterschiedlichkeit individuell beleuchten. Für S. gibt es (zumindest) drei zu differenzierende Kompositionsstränge.
Entsprechend beginnt die eigentliche Untersuchung der ActPaul mit dem Martyrium des Paulus = ActPaul 14 (24–65), ein Teil der Sammlung der ActPaul (vgl. P.Hamb. und P.Heid.), der auch unabhängig davon bezeugt ist. S. betrachtet vor allem, wie das Martyrium in die größere Sammlung eingebunden wurde. Die Überlieferung der (auch liturgischen) Erinnerung an die Exekution des Paulus während der Zeit Neros in Rom spielte offensichtlich eine wichtige Rolle, so dass wiederum eine Verhältnisbestimmung dieser Tradition zu anderen christlichen Martyriumstexten wichtig wird, welche S. mit Hilfe von Referenzstellen (1Clem 5,1–7) und auch archäologischen Zeugnissen vornimmt. Ob bereits hier Ausführungen über die Stellung des Paulus unter den Aposteln bzw. der ActPaul unter den anderen apokryphen Apostelakten sinnvoll erscheinen und sich homogen in das Kapitel über ActPaul 14 ein-fügen, ist m. E. eine Anfrage an S. für eine intensivere Beschäftigung mit den zentralen apokryphen Apostelakten an sich (Paulus, Petrus, Andreas, Johannes und Thomas) und der zu diesen gehörenden ActPaul.
Analog wendet sich S. dann (66–99) der Ephesus-Geschichte (the Ephesus Act, i. e., ActPaul 9) zu, einer Tradition, die auch unabhängig (z. B. P.Bodm. 41) zirkulierte und mit den anderen Paulusakten überliefert ist (P.Hamb.). Beide genannten Textzeugen werden ausführlich behandelt, wobei gerade das koptische Bodmer-Manuskript aus dem 4. Jh. eine Art Ergänzung von P.Hamb. darstellt, vor allem an dessen Anfang, wo Seiten fehlen. Zu Recht konstatiert S. abschließend, dass die Darstellung bzw. Charakterisierung des Paulus eine deutlich andere Person ergibt als etwa im Martyrium, wo Paulus als General der Christusarmee im Kampf gegen Nero gezeichnet ist.
Auf ganz besonderes Interesse wird sicherlich die Behandlung der – auch in der Forschung – populären Paulus- und Thekla-Akten (ActPaul 3–4) stoßen (100–147). Auch diese zirkulierten vollständig unabhängig und gleichzeitig als Teil der Sammlung. Bei der Zeichnung der Bekanntheit und Beliebtheit der Heiligen bleibt aber S. oberflächlich: Neben Belegstellen, wichtigen Studien und dem Reisebericht der Egeria konstatiert er zwar noch die beeindruckende geographische Verbreitung des Thekla-Kults gegen Ende des 5. Jh.s. Wie dieser Kult und dessen Verbreitung aber aussahen und worin sich diese äußerten, bleibt er dann schuldig. Gleiches gilt für die Behandlung von Handschriften, unter denen mit P.Ant. I 13 und P.Oxy. I 6 bemerkenswerte Fragmente von zwei Miniaturkodizes sind. Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang die besondere, teilweise unabhängige Entwicklung, welche die syrischen und vor allem die armenischen ActPaulThkl nahmen (zu Letzteren insbesondere die Arbeiten von Valentina Calzolari Bouvier). Forschungssituation und die Bedeutung von Genre und Gattung – vor allem mit dem (antiken) Roman als Vergleichsgröße – sind begrüßenswert dargestellt. Wichtig ist auch S.s nachfolgende Betrachtung der ActPaulThkl als hagiographischer Text.
Dann (148–189) geht es um 3Kor (ActPaul 10 = apokrypher dritter Korintherbrief). Meist wird 3Kor als spätere Ergänzung der ActPaul angesehen. Hier widmet S. nun auch Stil und Vokabular größere Aufmerksamkeit, so dass er schlüssig zu einer historischen Ein-ordnung (im Rahmen des 1.–3. christlichen Jh.s) und spekulativ zu der Annahme einer fortdauernden Weiterentwicklung von 3Kor kommen kann (186–189).
Schließlich (190–216) widmet sich S. den beiden Sammlungen der ActPaul, also – wieder – P.Hamb. (griechisch) und P.Heid. (koptisch). Beide belegen die Passion des Paulus (ActPaul 12-14), unterscheiden sich aber auch klar in anderen Abschnitten. Dem »wie« und »warum« dieser Unterschiede wendet sich S. dann im letzten Hauptkapitel zu (217–256). Summa summarum sieht er den Schlüssel in der zweistrangig erhaltenen Überlieferung: Wie schon zuvor mehrfach attestiert – und S. sammelt nun noch Aussage um Aussage der vorangehenden Kapitel –, sind etliche essentielle Abschnitte der ActPaul eigenständig erhalten und dürften so auch unabhängig von anderen zirkuliert sein. Dennoch sind diese immer auch Teil von Sammlungen (wie dies durch P.Hamb. und P.Heid. belegt ist). Das »wann« und »wo« versucht S. spekulativ zu umschreiben. Durch die Anführung weiterer Zeugen der ActPaul möchte er seine vorher getätigten Aussagen mit weiteren Indizien untermauern. In seinen Schlussfolgerungen (257–259) fasst er nochmals thesenhaft zusammen.
S. gelingt eine beeindruckende Studie der ActPaul, präziser formuliert: Er legt mehrere Einzelstudien vor, die er dennoch lose zu einer Gesamtbetrachtung wesentlicher, da fundamentaler Fragestellungen in Bezug auf die unter der Bezeichnung Paulus-Akten firmierenden Traditionen und Sammlungen verbinden kann.
Manche kritische Nachfrage und Anmerkung in dieser Rezen-sion ist der eigenen Beschäftigung mit einigen wenigen Detailaspekten der apokryphen Apostelakten geschuldet, auf die in einer solchen Arbeit meist nur am Rande eingegangen werden kann. S. ist vielmehr zu danken, dass auf der Basis der individuellen Be­trachtung bestimmter Abschnitte der ActPaul eine intensive und tiefgehende Diskussion über die Paulus-Akten im Speziellen und die Apostel-akten im Allgemeinen neu einsetzen kann. Diesen Funken Hoffnung entfacht S. mit seiner Arbeit.