Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1312–1314

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Seewann, Maria-Irma

Titel/Untertitel:

»Tag des Herrn« und »Parusie«. 2 Thess 2 in der Kontroverse.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2013. 500 S. = Forschung zur Bibel, 130. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-03646-1.

Rezensent:

Paul Metzger

Die Arbeit von Maria-Irma Seewald versteht sich als Vorarbeit zu einem Kommentar zu den beiden Thessalonicherbriefen des Paulus, der in der Reihe »Paulus neu gelesen« für März 2014 angekündigt ist. – Neu wird der 2Thess in der Tat gelesen. Dazu beschreitet S. einen Sonderweg, den sie über weite Strecken der Arbeit geht und somit bewusst dazu einlädt, über das 2. Kapitel des 2. Thessalonicherbriefs neu nachzudenken.
Obwohl S. meint, dass sich die Aussageabsicht des Textes unabhängig davon erheben lässt, wer den Brief geschrieben hat, verknüpft sie doch die Frage nach der Authentie des Briefs von Anfang mit ihrer Arbeit und referiert deshalb im Eingangsteil ausgewählte Positionen der Forschungsgeschichte. Sie erkennt das Hauptargument gegen die Echtheit in der unterschiedlichen Eschatologie der beiden Thessalonicherbriefe, obwohl sie selbst im Rahmen des Referats der Forschungsposition W. Trillings dessen Erkenntnis aufführt, wonach gerade nicht die Eschatologie das Problem darstellt, sondern das Verhältnis des 2Thess speziell zum 1Thess und darüber hinaus zum ganzen Corpus Paulinum. Ihre Annahme, »ein wesentlich anderer Literalsinn von Kapitel 2« könnte »zum Schlüsseltext für die Deutung des ganzen Briefes, seiner Zuordnung zu 1Thess und für die Echtheitsfrage werden« (10), ist deshalb eine Unterbestimmung des Problems.
Angesichts des Einstiegs mit dem Echtheitsproblem verblüfft dann ihre Aussage, dass es in der Arbeit eigentlich »nicht um die Echtheitsdebatte« gehen soll, »sondern darum, die inhaltliche Deutung neu aufzugreifen.« (13) Dies versucht sie, indem sie sich dem Text über die Bestimmung seiner Worte nähert. Durchweg hat man deshalb den Eindruck, ein Puzzle zu spielen. S. isoliert wich-tige – aber eigentlich in der konkreten Exegese des Briefs entgegen ihrer Aussage kaum umstrittene – Begriffe und ordnet sie zunächst einzeln an, um daraus ein Bild zu gewinnen.
Begriffe wie »Parusie«, »Tag des Herrn«, »Epiphanie«, »Katechon« werden lexikalisch untersucht und durch die verschiedenen Belegstellen, die eine – soweit ich sehe – nicht näher bezeichnete »CD Rom« (z. B. 17 f.136) liefert, durch verschiedene Texte des 2. Jh.s v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. verfolgt. Im Anschluss folgt eine grammatikalische Analyse von 2Thess 2,1–12.
Der gewählte Ansatz führt dazu, dass sich die Arbeit streckenweise wie ein Lexikonartikel in einem theologischen Wörterbuch liest. Mit einem Raster, das sich mir nicht erschlossen hat, untersucht sie immens viel Material aus ganz verschiedenen Kontexten und stellt mit der großen Variationsbreite der verschiedenen Begriffe fest, dass sich eindeutige semantische Gehalte nicht aus dem Wort selbst ergeben, sondern durch den jeweiligen Kontext bedingt sind. Trotz dieser nicht neuen Erkenntnis will sie doch immer dem Wortsinn den Vorrang geben, der nach ihrer Statistik der Wortbedeutungen jeweils die Mehrheit aufweist. Das heißt in der Konsequenz, dass z. B. der Begriff »Parusie« nicht in erster Linie »das Kommen Jesu in Herrlichkeit« (48) meint, also kein Terminus technicus für die Wiederkunft Christi ist. Diese Erkenntnis führt sie dazu, selbst in Texten, die m. E. klar davon sprechen (wie z. B. 1Thess 4,13–18), Parusie als »geistliche Erfahrung der Gegenwart Jesu« (49) zu denken bzw. abstrakt als »Gegenwart Gottes« (54). Diese Deutung liegt für sie im ganzen Neuen Testament vor, so dass »Parusie« insgesamt lediglich »die Anwesenheit Gottes oder Christi, aber niemals die Ankunft« (71) meint. Ähnliche Schlussfolgerungen zieht sie für die weiteren Begriffe: »Tag des Herrn« sei kein inhaltlich geprägter Begriff, selbst 2Petr 3,10.12 oder Apk 16,14 sprächen nicht vom Gericht, sondern seien eher »ethisch-existentiell« zu verstehen oder beschrieben »eher abstrakt das Eingreifen Gottes« (118), also keine konkrete Erwartung, weshalb es auch eine neuzeitliche Erfindung sei, »Paulus und der Urkirche eine Naherwartung zu unterstellen« (123).
Mit dieser Schlussfolgerung geht S. ihren Sonderweg weiter und kommt auf diesem auch dazu, aus der lexikalischen Betrachtung des Katechon-Begriffs Erkenntnisse für die Interpretation des Textes gewinnen zu wollen. Dieser Weg wurde spätestens 1936 von Willi Böld bereits als Sackgasse erwiesen, in die schon geraume Zeit niemand mehr lief. S. will aber aus ihrer Analyse die Bedeutung »bedecken« erschließen und fügt so ihrer Interpretation ein weiteres Puzzleteil hinzu.
Schließlich kommt S. zu einer durchaus originellen Interpretation des Kapitels. Laut ihrer Analyse geht es im Brief nicht um das Jüngste Gericht, sondern um das »Aufscheinen Gottes in der Geschichte« (331). Es geht um eine »tiefere Anbindung« (332) an Christus in der Gegenwart. Paulus, den S. am Ende der Untersuchung als Autor des Briefs erkennt, will, dass die Thessalonicher »die jeweilige Anwesenheit Christi richtig wahrnehmen« (332). Er habe Nachricht davon, dass ein »Pseudoprophet« die Gemeinde verwirrt. Dieser Prophet erhebe den Anspruch, dass »sich in seiner Person und Mitteilung Offenbarung Gottes ereignet habe« (334). Der Begriff »Tag des Herrn« bezeichne also seine Anwesenheit in der Gemeinde. Paulus deckt den Betrug des Propheten auf und schließt daran eine »grundsätzliche Lehre« (337) an. Es geht also nicht – wie das Gros der bisherigen Forschung annahm – um die Parusie von »Wider-Gott« und Christus und die Frage, warum diese noch nicht stattgefunden hat, sondern lediglich darum, »ein geistliches Grundgesetz« (339) im Anschluss an eine konkrete Situation vorzulegen. Dass nämlich »jener Scharlatan in Thessaloniki« (338) wirken kann, ist dem Teufel selbst anzukreiden. Denn dieser ist der »Bedecker« (Katechon) des Pseudopropheten. Der Teufel »deckt« seinen Propheten (340), wird aber von Paulus entlarvt.
Von einem apokalyptischen Fahrplan oder einem eschatologischen Szenario nimmt S. damit Abschied. Mit der »Parusie Christi« ist demnach auch nicht das Kommen Jesu gemeint, sondern dessen grundsätzliche, »unsichtbare, aber doch wahrnehmbare Anwesenheit in der Gemeinde« (342), die die Macht des Bösen in der Gegenwart bricht. Eine Übersetzung des Textes, die S. bietet, ist zum Verständnis der Interpretation sehr hilfreich, zeigt aber durch die in Klammer gesetzten Parenthesen, dass die einfache Übersetzung ihre Sicht der Dinge kaum tragen kann. S. bemerkt wohl, dass ihre Auslegung der ganzen Tradition widerspricht, sieht sich aber durch ihre »semantischen und syntaktischen Untersuchungen« dazu gezwungen (382) und kommt somit zum Ergebnis, dass 2Thess 2 »nicht vom Jüngsten Tag spreche, sondern von einem Unterscheidungsprozeß in der Gemeinde.« (382)
Neben der bereits geäußerten Skepsis muss erstens die Auswahl ihrer exegetischen Gesprächspartner kritisch angemerkt werden. Die Auswahl der Forschungspositionen erschließt sich nicht. Viele wichtige Arbeiten zum Thema (z. B. N. Wendebourg; Y. Redalié) werden nicht erwähnt.
Zweitens – und das ist der sachlich schwerwiegendere Kritikpunkt – überzeugt die Methode nicht. Ein Text ist mehr als die Summe seiner Teile. Isoliert lässt sich über jedes Ergebnis von S. diskutieren, das Zusammenspiel der Begriffe lässt aber ihre semantischen Annahmen für jeden einzelnen Begriff wiederum unwahrscheinlich wirken.
Mag S.s Auslegung durch eine spezielle und deshalb keineswegs zwingende Auswahl von »Wortbedeutungen her die Möglichkeit einer solchen Interpretation« (382) auch rechtfertigen, ist doch der Weg von der Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit nicht stichhaltig geboten – und der Schluss, aufgrund dieser Interpretation den ganzen Brief als echten Paulusbrief erwiesen zu haben, dementsprechend auch nicht (383). Insgesamt wirkt die Interpretation S.s deshalb wie ein Puzzle, bei dem die einzelnen Teile neu zurechtgeschnitten wurden, damit sie zueinander passen. Es bleibt die Herausforderung, ein anderes Bild zu legen, ohne die Teile zu beschneiden.