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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1310–1311

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pokorny, Petr

Titel/Untertitel:

From the Gospel to the Gospels. History, Theol­ogy and Impact of the Biblical Term ›euangelion‹

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. X, 237 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 195. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-030054-3.

Rezensent:

Dirk Frickenschmidt

In dieser Monographie hat Petr Pokorný Ergebnisse seiner Lehrtätigkeit an der Karls-Universität in Prag und eines Forschungs-aufenthaltes in Heidelberg 2010 verarbeitet. Er unternimmt den Versuch, die verschiedenen Bedeutungsebenen des neutestamentlichen Begriffs »Evangelium« als Etappen einer schlüssigen Entwicklungsgeschichte von einem postulierten »Oster-Evangelium« aus zu verstehen.
In Kapitel 1 kennzeichnet P. die Mehrdeutigkeit des Begriffs als a) Botschaft, die Jesus verkündet hat (Mk 1,14 f.), b) nachösterliche Verkündigung des christlichen Glaubens und c) literarische Form der Evangelien. P. nimmt an, dass der Autor des Mk bewusst alle drei Ebenen verbinden und dabei vorösterliche Jesustraditionen als komplementäre Ergänzung eines bereits existierenden »Oster-Evangeliums« erscheinen lassen wollte (3).
In Kapitel 2 erschließt P. dies »Oster-Evangelium« aus drei als »vorpaulinische Evangeliums-Formeln« bezeichneten Texten in den Paulusbriefen (1Thess 1,5.9b–10; 1Kor 15,3b–5 und Röm 1,3 f.), in denen der Begriff Evangelium jeweils mit einer kurzen Glaubensumschreibung verbunden ist (5). Trotz der Kürze der Texte zeigt P.s Übersicht (11) signifikante Unterschiede, die er mit einem Ursprung in verschiedenen christlichen Gruppen und verschiedenen Funktionen in Liturgie und Lehrtätigkeit erklärt (12). Dieses »Oster-Evangelium« habe dem apokalyptisch geprägten Selbst-verständnis der frühen Christen eine positive Verwurzelung in einem mythischen Gesamtbild der Wirklichkeit ermöglicht, in dem die Geschichte Jesu mit seiner Auferweckung auf die allgemeine Auferweckung und die Rettung im letzten Gericht hinausläuft (24 ff.).
Kapitel 3 thematisiert den Unterschied zwischen der Botschaft Jesu vom nahen Gottesreich (mit Rückgriff auf prophetische Texte wie Jes 61,1 ff.) und dem »Oster-Evangelium«, das Jesu Geschick selbst zum Inhalt hatte. Der Unterschied lässt nach einer überbrückenden Entwicklung fragen.
Zur Klärung dieser Entwicklung bespricht P. zunächst in Kapitel 4, wie Paulus aus seiner Sicht mit dem »Oster-Evangelium« und geschichtlichen Traditionen über Jesus umgegangen sei. P. geht davon aus, dass Paulus es aus bestimmten Gründen (64 f.) weit-gehend vermied, ihm bekannte vorösterliche Jesus-Traditionen zu verwenden. Stattdessen habe er die verschiedenen Prägungen des »Osterevangeliums« im Rahmen eigener Theologie prägnant gebündelt. Dort habe die Erhöhung des Auferweckten durch Gott neben der Konzentration auf den eschatologischen Horizont und eine Ethik des Liebesgebots für ihn mehr Bedeutung als Einzelheiten aus der Lebensgeschichte des Erhöhten gehabt (75).
Kapitel 5 thematisiert Jesus-Traditionen vor Mk, wie sie laut P. als kleine Einheiten (mit explizitem Bezug auf Vertreter der Älteren Formgeschichte, 83 f.) ebenso wie eine vor-markinische Passionsgeschichte (97) und Q-Texte (103) zunächst in der Liturgie und Lehrtätigkeit der frühen Christen bewahrt worden seien.
Mit Kapitel 6 kommt P. zum Hauptpunkt seiner Sichtweise: der Schlüsselstellung des Mk bei der Integration der verschiedenen Bedeutungsebenen von »Evangelium«. Mk nimmt laut P. als biographische Schrift (108 ff.) trotz des kurzen Schlusses oder offenen Endes (mit Mk 16,8) vorösterliche Jesus-Traditionen durchgehend im Horizont des stets mitgedachten »Osterevangeliums« auf (dem sich laut P. die gesamte Struktur des Mk verdankt, 196). Er tue das auch in bewusster Anlehnung an paulinische Kreuzestheologie (118 f.). Mk 1,1 wird in diesem Zusammenhang von P. nicht als Bezeichnung des Beginns einer Erzählung oder eines Erzählabschnittes, sondern als Verweis auf den Beginn des »Oster-Evangeliums« (121 f.) interpretiert.
Kapitel 7 kennzeichnet die anderen synoptischen Evangelien als Schriften, in denen nach Bedarf christlicher Gemeinden weitere Aspekte (wie z. B. weisheitliche) in die biographische Form integriert wurden. Kapitel 8 schließt mit einem Ausblick auf die Entwicklung des Begriffs Evangelium in anderer frühchristlicher Literatur, und Kapitel 9 fasst die Ergebnisse zusammen.
P.s Buch ist klar und übersichtlich geschrieben. Wie alle vereinheitlichenden Hypothesen hat auch diese ihren Charme, stellt sie doch in Aussicht, die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Evangelium nicht mehr nur nebeneinander zu stellen, sondern im Rahmen einer Entwicklungsgeschichte als Teile eines in sich schlüssigen Ganzen zu deuten. Allerdings ergeben sich so auch gravierende Fragen und Einwände.
Das aus Paulusbriefen erschlossene »Oster-Evangelium« als Basis des Gesamtbildes ist eine fragwürdige Größe. Die drei Texte, die der Hypothese zugrunde liegen, sind disparat und durch Paulus ganz verschieden kontextualisiert. Zudem ist strittig, ob und in welchem Umfang jeweils bereits geprägte (!) vorpaulinische Tradition vorliegt. Für Annahmen dieser Art konnten Exegeten sich bisher weder auf Wortlaut noch auf Abgrenzung einigen. Frühchristliche Jesus-Traditionen waren auch nicht generell nur mit nachträglichem Blick auf Ostern denkbar, wie bereits an Q deutlich wird. Und wie verträgt sich die angeblich zentrale Bedeutung des postulierten »Oster-Evangeliums« für Mk mit der Eigenständigkeit einer biographischen Erzählung, die die Oster-Botschaft am Schluss gar nicht intensiv entfaltet und die statt wiederkehrender Oster-Rekurse im Aufbau die Identität, Eigenart und Vollmacht Jesu als Gottes Sohn an Schlüsselstellen der Biographie ins Spiel bringt und narrativ entfaltet? Obwohl P. die biographische Eigenart des Mk bejaht, geht er nicht auf verbreitete Eigenarten antiker Biographien ein und interpretiert Mk stattdessen aus einer Perspektive, die an vielen Stellen an Prämissen der Älteren Formgeschichte erinnert (zentrales Kerygma als Nukleus jeder Entwicklung, »Liturgie« als vorrangiger Sitz im Leben etc.). So bleibt offen, wie Mk biographisch Theologie entfaltet.
Trotz dieser Einwände ist es anregend, das Buch zu lesen. Denn selbst da, wo Leser zu anderen Schlüssen kommen, ergeben sich quer durch das Buch interessante Blicke auf wechselseitige Bezüge und Zusammenhänge in der Bedeutungsvielfalt von »Evangelium« und »Evangelien«.