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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1306–1307

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Benjamin Schließer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Theologie des Paulus in der Diskussion. Reflexionen im Anschluss an Michael Wolters Grundriss

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2013. 294 S. = Biblisch-Theologische Studien, 140. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2705-5.

Rezensent:

Ondrej Prostredník

Als »Markstein der Paulusinterpretation, den alle künftige gelehrte Arbeit aufmerksam zu beachten hat«, bezeichnet Eduard Lohse das Paulus-Buch von Michael Wolter in seiner Besprechung für die ThLZ 137 (2012), 936. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben den ersten wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen. Die Sammlung ist Produkt einer Diskussion, die zu Wolters Buch im Rahmen der Fachgruppe Neues Testament der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im Juni 2012 stattgefunden hat, und beinhaltet eine »auffällig große Bandbreite von Beiträgen«, wie Jörg Frey in seinem Vorwort schreibt. Von Würdigung bis zu scharfer Kritik reichen die Arbeiten zu unterschiedlichen Themen aus Wolters Paulus-Buch. Die Reaktion von Michael Wolter bleibt nicht aus und gibt dem Band ein Merkmal der wissenschaftlichen Ehrlichkeit.
Um Wolters Buch in die aktuelle Paulus-Forschung einzuordnen, unternimmt Benjamin Schließer einen methodisch interessanten und durchaus gelungenen Schritt, indem er drei bedeutsame Paulustheologien der letzten 25 Jahre (Becker, Dunn, Schnelle) mit Wolter vergleicht. Anhand von drei Fragestellungen (Programmatik, religiös-kulturelle Umwelt, Einheit der Paulustheologie) bestätigt Schließer Wolters herausfordernde These, dass Paulustheologien trotz allem Bemühen nie für eine Rekonstruktion, sondern immer eher für eine Konstruktion der paulinischen Theologie gehalten werden können. Diese These wird in einem detaillierten Aufsatz von Stefan Alkier aufgearbeitet. In seinem Beitrag »Konstruktionen des Glaubens« diskutiert er sehr sorgfältig terminologische, philosophische und theologische Aspekte in Wolters Konzept des Glaubens als Wirklichkeit. Diesen Glauben hält er aber für eine Konstruktion, die sich in einer darauf aufbauenden Rede vom Identitätsmanagement des Paulus von den paulinischen Briefen entfernt. Was ein Leitbegriff in Wolters Buch zu sein scheint, nämlich die Identität, das unterwirft Alkier einer scharfen, aber auch durchaus gut begründeten Kritik. So zeigt er zum Beispiel einen Widerspruch in Wolters Ansicht auf, dass es so etwas wie ein vom Judentum unterschiedenes Christentum zu Paulus’ Zeiten noch nicht gab, er aber doch von einem »Juden Paulus« und einem »Christen Paulus« spricht.
Da das diskutierte Buch von Wolter die »New Perspective on Paul« nicht explizit behandelt, scheint der Beitrag von Simon Gath­ercole nicht ganz in das Konzept der Herausgeber zu passen. Jedoch ist es sehr nützlich, eine qualifizierte Sicht von außen auf die deutschen Erwiderungen zu lesen. Obwohl Wolters Sicht nur ganz kurz am Ende zu Wort kommt, wird sein Beitrag gewürdigt– vor allem die sorgfältige historische Ausführung dessen, was man als Antizipation der »New Perspective« in der deutschen Theologie bezeichnen kann. Berechtigt aber scheint Gathercoles Frage zu Wolters Verortung der Rechtfertigungslehre in der Ekklesiologie zu sein. So ist es wohl nur der Titel des Beitrages, der täuschen mag.
Mit einem provozierenden Titel, »Ist Paulus wirklich gescheitert?«, nimmt Michael Theobald Wolters Ausführungen über Paulus und Israel auf. Dabei arbeitet Theobald vor allem mit dem Römerbrief, den er, Wolters Terminologie gebrauchend, einfallsreich die »letzte Momentaufnahme« der paulinischen Theologie nennt. Was Wolter als offenes Eingeständnis von Paulus’ Scheitern an der Israel-Frage versteht, das versucht Theobald durch sorgfältige und exegetisch wertvolle Diskussion von relevanten Paulus-Begriffen zu hinterfragen.
Das Stichwort »Konstruktion« wird wieder von Wolfgang Stegemann in seiner Ausführung zu der für manche provozierenden Frage aufgenommen: »Wie wörtlich müssen wir die Worte des Apostel Paulus nehmen?« Dabei schätzt er Wolters sympathische und nicht falsche oder gespielte Bescheidenheit bei seinem Vorhaben, eine sachgerechte Wiedergabe des inhaltlichen Profils der paulinischen Theologie darzulegen. Um seine Frage zu beantworten, diskutiert Stegemann wichtige Punkte in Wolters Buch wie zum Beispiel den Ansatz, den Sinn der Paulustheologie nicht in einer für die Dog-matik üblichen Struktur zu suchen, sondern ihn eher aus den uns bekannten Lebensdaten des Paulus zu entwickeln. Der Platz der Rechtfertigungslehre, die Syntagmen pistis Christou und en Christo sowie die Identität des Paulus werden von Stegemann auf dem Hintergrund von Wolters Buch untersucht, jedoch lässt er die so verlockende Frage des Titels offen.
Eine ökumenisch bereichernde Perspektive bringt der Beitrag des orthodoxen Neutestamentlers Athanasios Despotis in die Diskussion ein. Er will Wolters Vorhaben auf dem Hintergrund der spezifisch orthodoxen Paulusinterpretation besprechen. Das tut er, indem er mit Wolters These, das Christentum hinter den Paulusbriefen sei vor allem als Bekehrungsreligion zu verstehen, ins Gespräch kommt. Anhand von mehreren Zitaten von Johannes Chrysostomos und Theodor von Mopsuestia plädiert er für eine Kompatibilität von Wolters Thesen mit der orthodoxen Sichtweise. Sympathisch für einen der griechischen Sprache nicht mächtigen Leser werden die mitaufgeführten deutschen Übersetzungen der ausführlichen griechischen Zitate sein.
Die Diskussion wird mit einem kritischen Beitrag von Ruben Zimmermann abgeschlossen, in dem das Festhalten Wolters am Ethikschema Indikativ-Imperativ hinterfragt wird. Nach einer Zusammenfassung der bisherigen Kritik des von Bultmann ausgehenden Indikativ-Imperativ-Modells unternimmt Zimmermann eine sachliche Besprechung der Anwendung dieses Schemas in Wolters Grundriss der Paulustheologie. So kommt er zum Schluss, dass das »simplifizierende Indikativ-Imperativ-Modell« hier »keineswegs befriedigen« kann.
Mit Dankbarkeit, aber doch in einer rasanten Weise nutzt Michael Wolter seine Gelegenheit, auf die einzelnen Beiträge zu reagieren. Das macht diesen Sammelband zu einem wertvollen Beitrag der an Tempo und Breite zunehmenden Paulus-Diskussion der letzten Jahre. Ein Sach- und Stellenregister tragen dazu bei, dass das Buch längerfristig als zuverlässige Orientierungshilfe in der spannenden und umfangreichen Diskussion zu Paulus genutzt werden kann.