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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1290–1292

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Apocryphal Gospels within the Context of Early Christian Theology.

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters Pub-lish­ers 2013. XII, 804 S. = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 260. Kart. EUR 90,00. ISBN 978-90-429-2926-5.

Rezensent:

Thomas J. Kraus

Der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten den apokryphen bzw. (in Anlehnung an Dieter Lührmann) den apokryph gewordenen Evangelien zunehmend große Bedeutung für die Erforschung des frühen Christentums zuerkannt wurde, trug das 60. Colloquium Biblicum Lovaniense vom 26. bis 28. Juli 2011 Rechnung. Dessen Haupt- und Kurzvorträge sowie Beiträge zu den Seminaren liegen nun in diesem umfangreichen Band vor. Dabei lag das Haupt-augenmerk des Kolloquiums und des Buchs darauf, »einen Einblick in die vielfältigen Forschungen an etlichen dieser Texte« zu geben, wobei sich die Perspektive »auf das antike Christentum konzentriert, aber nicht darauf beschränkt« (VII), wie dies der Herausgeber, Jens Schröter, in seinem Vorwort (vgl. auch seine »Einleitung,« 1–4) programmatisch vorausschickt. Demnach darf die Leserschaft von vornherein keine vollständige Behandlung der nicht-kanonischen Evangelien erwarten, vielmehr wäre eine solche selbst auf über 800 Seiten ein Ding der Unmöglichkeit. Und ein Zweites stellt Schröter voran, das dann die Beiträge durchzieht: In dieser Art von Literatur fand ebenso »christlicher Glaube und christliches Leben Ausdruck« (VIII), was eine Beschäftigung mit ihr nicht nur rechtfertigt, sondern diese für eine angemessene Erforschung des (frühen) Chris­tentums unabdingbar macht.
Der Band bietet 14 Hauptvorträge und Seminarbeiträge und 17 offered papers, dabei sind jeweils 13 Beiträge in englischer und deutscher, fünf in französischer Sprache verfasst. Naturgemäß, also wie für einen Kongressband üblich, unterscheiden sich die Beiträge in Umfang und Qualität, wobei hinsichtlich Letzterer generell ein bemerkenswert hohes Niveau zu konstatieren ist. Zudem beinhaltet der Band die üblichen Indizes (moderne Autoren/Autorinnen und antike Quellen) sowie ein Abkürzungsverzeichnis. In einer Einleitung (1–16) ordnet Schröter Thema und Bedeutung des Kolloquiums ein, bevor er dessen Beiträge einzeln kurz inhaltlich und im Hinblick auf ihre wesentlichen Thesen vorstellt.
Das Bemühen, viele unterschiedliche außerkanonische Evangelien unter spezifischen Fragestellungen darzustellen, ist gerade im ersten Hauptteil (main papers and seminars) deutlich erkenn- und spürbar. Dennoch erhält insgesamt vor allem das Thomasevange­-lium mit sechs Beiträgen, die bereits im Titel dieses Evangelium nennen (davon fünf unter den offered papers), während in weiteren Beiträgen auch hier und da dieses als Beispielfall auftaucht (so etwa in Stephen J. Patterson, »Platonism and The Apocryphal Origins of Immortality in the Christian Imagination. Or: Why Do Christians Have Souls that Go to Heaven?«, 447–476, hier 462–469), eine klar präferierte Bedeutung. Die beiden Betrachtungen des koptischen Texts des Codex Tchacos, besser bekannt als Judasevangelium, dessen Veröffentlichung 2006 eine schiere Publikationsflut auslöste, sind möglicherweise noch Reflex auf den Sensationalismus, haben sich aber in angenehmer Weise von allzu vordergründigen und der medialen Aufmerksamkeit geschuldeten Fragestellungen entfernt, so dass in ihnen fundierte Betrachtungen dieses christlichen Texts stattfinden können. Ansonsten ist die Bandbreite groß: Die meis­ten Autoren und Autorinnen widmen sich dezidiert einem Text oder einer Textgruppe, während andere übergreifend arbeiten (z. B. Joseph Verheyden, »The Early Church and ›the Other Gospels‹«, 477–506; Veronika Burz-Tropper, »Jesus als Lehrer in apokryphen Evangelien«, 719–735).
Leider ist hier nicht der Platz für eine angemessene, profunde Würdigung der Beiträge, die allesamt eine solche aber verdient hätten. Entsprechend sei dem Rezensenten hoffentlich eine persönliche Schwerpunktsetzung aufgrund eigener Forschungsschwerpunkte und Interessen nachgesehen. Dennoch ist grundsätzlich der programmatische Aufsatz des Herausgebers, Jens Schröter, hervorgehoben (»Die apokryphen Evangelien im Kontext der frühchristlichen Theologiegeschichte«, 19–66). Trotz des Umfangs im Vergleich zu anderen Beiträgen ist hier keine Seite unwichtig oder redundant. Schröter – immerhin zusammen mit Christoph Markschies Hauptherausgeber des neuen Standardwerks Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwandtes [Tübingen: Mohr Siebeck, 2012], in Fußnote 1 auf S. 19 allerdings mit Erscheinungsjahr 2007 angeführt – gelingt ein Mehrfaches: Im Anschluss an Forschungsgeschichte und Forschungsstand diskutiert er Methodologisches (vor allem Begrifflichkeiten wie »apokryph«, »kanonisch«, »nicht-kanonisch«) und demonstriert das Ganze an geschickt gewählten Beispielen. So kommt er auch auf Agrapha, als »gnostisch« charakterisierte Texte und legendarisch Ausschmückendes zu sprechen. Damit gelingt ihm beeindruckend eine diachrone wie synchrone tour de force durch die Forschungslandschaft. Dieser Aufsatz sei allen, die sich ernsthaft mit apokryph gewordenen oder auch bewusst als apokryph abgefassten Texten befassen wollen, sehr empfohlen und ist auch ohne Vorkenntnisse ein Erkenntnisgewinn.
Gerade die von Schröter vorgezeichnete Frage nach der »Apokryphität« bzw. »Apokryphisierung« frühchristlicher Text greift Jörg Frey besonders eindrücklich auf. Natürlich stößt gerade dieser Aufsatz aufgrund seines Untersuchungsgegenstands auf besonderes Interesse des Rezensenten (»›Apokryphisierung‹ im Petrusevangelium: Überlegungen zum Ort des Petrusevangeliums in der Entwicklung der Evangelienüberlieferung«, 157–195). Frey zeigt tendenzielle Ausschmückungen, Doppelungen und Erweiterungen des Petrusevangeliums ebenso auf, wie er auf vermeintlichen Doketismus und die Ausgestaltung der Christologie dort eingeht. Für Frey ist »[d]as Petrusevangelium als ein Paradigma für ›Sekundarität‹ in der Evangelienüberlieferung« (158) zu sehen, es ist »von Anfang an als Para-Literatur konzipiert« (195). Damit liefert er eine wichtige Diskussionsgrundlage für die Standortbestimmung wie Einordnung dieses Texts in einer nahezu festgefahrenen Auseinandersetzung zwischen denen, die eine Unabhängigkeit des Petrusevangeliums propagieren, und jenen, die in diesem Evangelium einen sekundären und damit von den kanonischen Evangelien abhängigen Text sehen.
Es bleibt zu hoffen, dass die einzelnen Beiträge dieses Sammelbands adäquat wahrgenommen und rezipiert werden. Denn es wäre nicht nur schade, sondern vielmehr ein Verlust für die Forschung, wenn die intensive Auseinandersetzung mit eminent wichtigen Textzeugnissen des frühen Christentums, wie sie meist hier modellhaft erfolgt ist, nicht entsprechende Beachtung erfahren würde. Zum Abschluss sei gerade dem Herausgeber dafür gedankt, dass inhaltlich und formal ein solch qualitativ hochwertiger Band zustande kam.