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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1280–1283

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Weingardt, Markus A.

Titel/Untertitel:

Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten. M. e. Geleitwort v. D. Senghaas u. H. Küng.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag; Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2007. 480 S. = Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, 1083. Kart. ISBN 978-3-17-019881-4.

Rezensent:

Wolfgang Lienemann

Die Literatur zum Thema »Religionen und Gewalt« ist Legion. Schon vor dem 11. September 2001 hatte das Thema Konjunktur, vielfach veranlasst durch die Diskussion der Thesen von Samuel Huntington zum »Clash of Civilizations« – in der ersten Fassung in »Foreign Affairs« (1993) noch mit einem Fragezeichen versehen, aus dem in der populären Rezeption alsbald ein Ausrufezeichen wurde. Nach den New Yorker Anschlägen wuchs die Literatur zur Lawine an, vielfach fokussiert auf die Frage nach den (möglichen) religiösen Ursachen des neueren Terrorismus.
Trotz der wichtigen Pionierrolle der »World Conference of Religions for Peace« (zu den Vorläufern siehe Dorothea Lüddeckens, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jh., Berlin/New York: De Gruyter 2002) und der Entfaltung religiös orientierter Friedensethiken ist dagegen die Frage nach einem spezifischen »Friedenspotential« der organisierten Religionen weithin zu kurz gekommen. Die konkrete und vielfältige Friedensarbeit von Religionsgemeinschaften wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. In der politologischen Friedens- und Konfliktforschung spielen Religionsgemeinschaften nur eine marginale Rolle, wenn sie überhaupt vorkommen. Markus Weingardts Ausgangsthese wird man schwerlich widersprechen können: »Es herrscht allenthalben ein großes Unwissen über religiöse Friedensarbeit in politischen Gewaltkonflikten.« (14)
Das Buch, das, obwohl schon 2007 veröffentlicht, nach wie vor aktuell ist, will diesem Defizit abhelfen. Es umfasst drei Teile: In der Einführung wird ein primär politologisches Konfliktmodell zum Verhalten von Religionsgemeinschaften erörtert, im umfangreichen Hauptteil werden Fallstudien und Fallbeispiele präsentiert, während der dritte Teil »Zusammenfassung und Analyse« bietet, die in konkrete Empfehlungen und die Diskussion weiteren Forschungsbedarfs ausmünden. W. hat diese Studien im Rahmen seiner Tätigkeiten bei der Stiftung Weltethos in Tübingen und in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg ausgearbeitet.
Drei Leitfragen liegen den Fallstudien zugrunde: 1. Leisten »religionsbasierte Akteure« (RBA) Beiträge zur Verhinderung von Konflikten oder zur Gewaltminimierung? 2. Wie sehen die konkreten friedensfördernden Interventionen aus? 3. Welches sind die Erfolgsbedingungen für gewaltmindernde Interventionen (15)? Im Zentrum stehen Kriege, Bürgerkriege und Widerstandshandlungen gegen unterdrückerische Regime. Dabei konzentriert sich W. auf Formen gewaltförmiger Konfliktaustragung und legt einen bewusst eng gefassten Gewaltbegriff zugrunde, den das Merkmal physischer Gewalt gegen Leib und Leben einschließlich der Androhung entsprechender Handlungen auszeichnet (17). Natürlich ist dabei im Blick, dass es komplexe Ursachen von Gewalthandlungen gibt, aber die Extension eines Gewaltbegriffs auf alle möglichen kritisierbaren Strukturen und Prozesse (»strukturelle Gewalt«) lässt die für jede konkrete Friedensarbeit unerlässliche klare Problemerfassung im Ungefähren verschwimmen.
Im Zentrum aller Fallstudien stehen die sogenannten »religionsbasierten Akteure«. Darunter versteht W. individuelle und kollektive Akteure, »deren Friedensarbeit ausdrücklich und umfassend auf religiösen Grundlagen basiert«, die aber nicht formal an religiöse Institutionen gebunden sind (19), also ausdrücklich nicht einfach die Mitglieder von Kirchen oder die Gesamtheit der Anhänger einer Religionsgemeinschaft, sondern Vertreterinnen und Vertreter freier Gruppen wie des Internationalen Versöhnungsbundes, der katholischen Laienbewegung »Sant’ Egidio«, der muslimischen »Diener Gottes« oder der buddhistischen Initiative »Sarvodaya Shramadana«. »Religionsbasiert« ist indes bewusst abgehoben von »faith-based-communities« – in den USA gibt es sei G. W. Bush das »White House Office of Faith-Based and Community Initiatives« (OFBCI) sowie ein gleichnamiges Office im State Department –, um den konstitutiven Bezug des jeweiligen Friedenshandelns auf Leben und Lehre einer konkreten Religionsgemeinschaft herauszustellen (19 f.).
Das Buch enthält in seinem Hauptteil sechs eingehende Fallstudien über 1. den argentinisch-chilenischen Konflikt um den Beagle-Kanal, den dort umstrittenen Grenzverlauf und die erfolgreiche Vermittlung durch hochrangige Vertreter des Vatikan, 2. die Rolle der evangelischen Kirche bei der »Wende« in der DDR 1989, 3. die von dem Muslim Khan Abdul Ghaffar Khan im damaligen Britisch-Ostindien, der North West Frontier Province im heutigen Pakistan, angeführte gewaltfreie Bewegung der muslimischen »Diener Gottes«, 4. die Friedensarbeit von Maha Ghosanada, einem buddhistischen Mönch, der nach dem Ende der Schreckensherrschaft von Pol Pot in Kambodscha mit seinen jährlichen Friedensmärschen (»Pilgerweg der Wahrheit«) Entscheidendes zu Wiederaufbau und Versöhnung in dem zerstörten Land beigetragen hat, 5. die Rolle der römischen Gemeinschaft von »Sant’ Egidio« für den Friedensprozess in Mosambik in den 1980/90er Jahren sowie 6. die Bedeutung der katholischen Kirche für die »People Power Revolu-tion« auf den Philippinen und das Ende des Marcos-Regimes. Alle Fallstudien sind gründlich recherchiert, beziehen sich auf eine Fülle einschlägiger Literatur (in den europäischen Sprachen), haben eine informative historische Tiefendimension, sind im Blick auf vergleichende Analysen klug gewählt und fassen die wichtigsten Untersuchungsergebnisse übersichtlich zusammen. Die ergänzenden 34 Fallbeispiele von Albanien bis Zimbabwe, die jeweils in kurzen, prägnanten Grundzügen vorgestellt werden, sind geeignet, die empirische Basis für eine vergleichende Auswertung zu erweitern. Insgesamt entsteht so ein überaus differenziertes, stringentes Bild der Voraussetzungen, Handlungsbedingungen und Wirkungen gewaltfreier Konfliktlösungsstrategien individueller und kollektiver Akteure, die aufgrund ihrer unterschiedlichen religiösen Orientierungen friedliche gesellschaftliche Transformationsprozesse erfolgreich angestoßen und ein Stück weit realisiert haben.
Im Schlussteil werden die wichtigsten Ergebnisse der einzelnen Analysen systematisch zusammengefasst. Allgemein gilt: »Keine Religion kann generell als gewaltgeneigter oder gewaltanfälliger ausgemacht werden.« (374) Ob die RBA erfolgreich sind, hängt natürlich nicht nur von ihnen selbst ab: (Welt-)politische Entwicklungen müssen ihnen, wie im Falle des Endes des südafrikanischen Apartheidregimes und der Implosion der einstigen Sowjetunion, entgegenkommen. Wichtig sind kombinierte Strategien, die Elemente wie utilitaristische Erwägungen, vorsichtigen (symbolischen) Druck und die Freisetzung neuer Erkenntnisse und moralischer Überzeugungen umfassen (378). Entscheidend ist, dass bei gewaltfreien Vermittlungsaktionen die Friedensgruppen das begründete und belastbare Vertrauen aller Konfliktparteien genießen, die lauteren Motive der RBA keinem Zweifel unterliegen und diese selbst keine eigenen Vorteile erstreben. Insofern gilt bei allen Fallstudien und -beispielen, dass »in keinem Fall […] (versteckte) missionarische Absichten eines RBA im Sinne von Konversionsbemühungen oder Ausweitung des eigenen religiösen Einflußbereichs festgestellt« werden können (381).
Methodisch hat W. mit der Kombination von detaillierten Fallstudien und den zahlreichen ergänzenden Fallbeispielen, mit der Explikation eines säkular-politologischen Bezugsrahmens und entsprechenden überprüfbaren Hypothesen sowie einem insgesamt komparatistischen Ansatz einen glänzenden Mittelweg zwischen exemplarischer Darstellung und allgemeinen, empirisch abgesicherten Beobachtungen, Folgerungen und Empfehlungen gefunden. Man wird deshalb nicht sagen können, dass die Beispiele gewaltfreier Konfliktlösung durch RBA einer Idealisierung oder einem Wunschdenken entsprungen sind, auch nicht, dass die erfolgreichen Strategien sich letztlich einer positiven Überdetermination verdanken. Allerdings räumt W. selbst ein, dass die langfristigen Erfolge der Aktivitäten der RBA – hier kann und muss man wirklich von »humanitären Interventionen« sprechen – einer nachhaltigen »Konfliktnachsorge« und der Unterstützung durch internationale politische Akteure bedürfen (406 f.).
Das Buch ist geeignet für eine vielfache praktische Nutzung. In Schulen und Universitäten kann man die dargestellten Fallbeispiele in Auswahl aktuell weiter bis in die Gegenwart verfolgen und wird dann auf unvollendete, oft prekäre Transformationsprozesse stoßen (z. B. Kongo, Zimbabwe). Die eingehenden Fallstudien könnten auch einen guten Einstieg für Historiker von Konfliktparteien geben, die versuchen, nach Art von Wahrheitskommissionen Licht in die historischen Schuldverhältnisse zu bringen, sie könnten in den behandelten Ländern auch Gegenstand von Veranstaltungen dortiger Goethe-Institute o. Ä. sein. Kurzum: Das Aufklärungspotential dieses Buches ist groß, zumal es nicht die Ambivalenzen und das gelegentliche Scheitern von Friedensstrategien der RBA ignoriert (379.402). Einzig einen nicht ganz unwichtigen Aspekt habe ich vermisst: Auch RBA brauchen eine »Exitstrategie«, d. h. ein Konzept zur rechtzeitigen Beendigung ihrer Interven-tionen.