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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

691–704

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Günter R. Schmidt

Titel/Untertitel:

Philippus Melanchthon - paedagogus christianus. Ein Rückblick auf das Melanchthonjahr 1997

Anläßlich von Melanchthons 500. Geburtstag haben im Jahr 1997 nicht nur zahlreiche Gedenkveranstaltungen stattgefunden, sondern es sind auch etliche Druckwerke erschienen, welche den vielseitigen Gelehrten des 16. Jh.s würdigen und bedauern, daß er seit langem zuwenig beachtet werde. Darin finden auch seine Verdienste als pädagogischer Theoretiker und Praktiker Beachtung. Natürlich ist es letztlich eine Frage der Perspektive, ob der Mensch, der Philologe, der Theologe, der Philosoph oder der praeceptor Melanchthon mehr hervorgehoben wird. Im folgenden wird zunächst kurz skizziert, wie der Pädagoge Melanchthon in Neuerscheinungen des Jubiläumsjahres gesehen wird, dann die Frage nach dem pädagogischen Grundkonzept gestellt, das sich in seinem Werk erkennen läßt und das seine zahlreichen Äußerungen zu Einzelfragen bestimmt.

Von den beiden Bänden "Melanchthon deutsch"1, hrsg. von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, reserviert der erste die Seiten 41 bis 124 für Texte zu Schule und Universität und nimmt der zweite auch die Rede über das unentbehrliche Band zwischen den Schulen und dem Predigtamt von 1543 auf.

Die abgerundetste Gesamtdarstellung des Jubilars ist die Melanchthonbiographie von Heinz Scheible. 2

Er gliedert seine Biographie nicht einfach chronologisch, sondern nach fachlichen Schwerpunkten. Dabei thematisiert er auch Kindheit und Jugend sowie pädagogische Aktivitäten seines Helden. Der frühreife und hochbegabte Philipp verlor zwar
früh seinen Vater, wuchs jedoch in einer ansonsten pädagogisch günstigen Atmosphäre auf und hatte hervorragende Lehrer. Mit Hilfe seines Hauslehrers Johannes Unger brachte er es schon als Kind soweit, einwandfrei Latein zu sprechen. In der Lateinschule in Pforzheim konnte er seine Kenntnisse unter Leitung von Georg Simler und Johannes Hiltebrant weiter vervollkommnen und, ermutigt durch seinen Verwandten Johannes Reuchlin, in die griechische Sprache eindringen. In Pforzheim tat der Zwölfjährige mit der Betreuung von Anfängern auch seine ersten pädagogischen Schritte. Mit 14 Jahren bezog er die Universität Heidelberg, wo er als eine Art Tutor adliger Studenten ebenfalls gleich pädagogisch aktiv wurde. Mit 17 Jahren konnte er 1514 in Tübingen den Magistergrad erwerben und selbst Dialektik und Rhetorik zu lehren anfangen. Nachdem er 1518 auf die Griechischprofessur in Wittenberg berufen worden war, entfaltete er seine Bildungsvorstellungen in seiner Antrittsrede De corrigendis adulescentiae studiis. Seine Loci von 1521 waren nicht nur eine theologische, sondern auch eine didaktische Meisterleistung. Als Rektor der Universität (ab 1523) förderte er nicht nur Deklamationen und Disputationen, sondern setzte auch geordnete individuelle Studienpläne durch. Für die Lateinschule verlangte Melanchthon die Aufteilung in mindestens drei Klassen. Die höhere Lateinschule in Nürnberg, für deren Errichtung Melanchthons Rat eingeholt worden war, glich einer Artistenfakultät mit den Hauptfächern Latein, Griechisch, Dialektik, Rhetorik und Mathematik.

Noch mehr ins Detail geht Scheible in der Arbeit "Melanchthon und die Reformation".3 Pädagogische Themen treten in vier der insgesamt 24 Abhandlungen hervor. Scheible vertieft sich zunächst in biographische Einzelheiten von Melanchthons Lehrern und Mitschülern in Pforzheim, sein Verwandtschaftsverhältnis zu Reuchlin und dessen Einfluß auf ihn. Eine weitere Abhandlung ist Melanchthons Bildungsprogramm gewidmet. Scheible zeigt auf, wie es sich konsequent aus dem Verständnis der christlichen Religion als Offenbarungsreligion mit einer normativen Urkunde ergibt. Das Christentum kann in seinem richtigen Verständnis nur durch Schulbildung erhalten werden. Dadurch sind sprachliche Studien unabdingbar. Der Ausbildung in den artes dicendi muß auch die elegantior literatura der Heiden dienen. Studium heißt für Melanchthon Disziplin: Deshalb richtet er als Universitätsrektor eine Art Tutorensystem ein.

Ein "Eindruck von der achtunggebietenden Vielseitigkeit" (7) Melanchthons wird durch Hans Rüdiger Schwab "Philipp Melanchthon" vermittelt.4 Der Autor will das "Klischee vom sanften langweiligen Akademiker" und vom "Mann des Kompromisses und der Konzessionen" entkräften helfen. "Ohne Skrupel" versteht Schwab Melanchthon "als den Ahnherren von Größe und Grenzen des deutschen Bildungsgedankens" (8), der die "Idee des Lernens als unabschließbare Arbeit an der eigenen Selbstwerdung" (9) hochhält. Das Buch bietet Auszüge aus Schriften Melanchthons in chronologischer Folge und dazwischen Hinweise auf biographische Zusammenhänge. Unter den zusammengestellten Texten finden sich auch spezifisch pädagogische: De corrigendis adulescentiae studiis (1518), Encomion eloquentiae (1523), Oratio in laudem novae scholae (1526), De laude vitae scholasticae (1536).

Anläßlich des 500. Geburtstags von Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997 gaben M. Beyer und G. Wartenberg den Band "Humanismus und Wittenberger Reformation" heraus.5 Unter den 19 Beiträgen zur Festschrift finden sich auch drei, die für das Verständnis von Melanchthons pädagogischem Denken wichtig sind. M. Wriedt thematisiert die "theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon". Für beide Reformatoren dient alle Wissenschaft letztlich der "Auslegung der Heiligen Schrift im Blick auf die Orientierung aller Lebensvollzüge an dem Willen und Gebot Gottes" (182). Alle Bildung ist nach dem unmittelbaren oder mittelbaren geistlichen Nutzen für den einzelnen Glaubenden und die Gesellschaft zu beurteilen.

Mit dem "Liber de anima" beschäftigt sich G. Frank. Darin wird eine Anthropologie entfaltet, welche auch die Grundlage von Melanchthons pädagogischem Denken bildet. Für Frank "vertritt Melanchthon auch in seiner Anthropologie eine deutlich optimistische Position bezüglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit" (321) und damit eben auch der Bildungsmöglichkeiten. Melanchthon nimmt Theorien verschiedener philosophischer Autoren in Dienst, um "eine Anthropologie nach den Vorgaben der Theologie zu konzipieren" (325).

Dem für das Menschenbild und damit auch die Pädagogik wichtigen Verständnis Melanchthons von den "Affekten" wendet sich K.-H. zur Mühlen zu. Schon in den Loci von 1521

nimmt der "Begriff ,affectus’ eine zentrale Rolle" ein. Akzentuiert Melanchthon in den Loci von 1521 mehr die Tatsache, daß der Mensch in seinen Affekten "sich selbst entzogen ist, entweder unter der Macht der Sünde oder der Macht der Gnade" (334), so wird ihm später auch wieder die Möglichkeit der "Triebkontrolle durch die durch den Willen vermittelte Vernunft", das heißt letztlich neben dem theologischen Anliegen das pädagogische, wichtig.

Kein eigener Beitrag zum pädagogischen Wirken Melanchthons findet sich unter den acht Arbeiten des von Jörg Haustein herausgegebenen Titels "Philipp Melanchthon".6 Es klingen jedoch verschiedentlich pädagogische Aspekte an. So hebt H. Scheible auch Melanchthons Bedeutung als Bildungsreformer hervor (14 f.). S. Rhein macht die weite Verbreitung von Melanchthons Lehrbüchern deutlich: Sie "wurden sogar in der Jesuitenuniversität im portugiesischen Evora verwendet" (61). Mehrfach finden sich Äußerungen zu den Grundgedanken von Melanchthons Theologie, welche auch die Grundlegung seiner Pädagogik betreffen: "Dem Systematiker Melanchthon mußte mehr als dem Exegeten Luther daran liegen, göttliche Allmacht und Verantwortlichkeit des Menschen, geschenktes Heil und sittliche Pflicht in eine formulierbare lehr- und lernbare Relation (Hervorhebung G. R. S.) zu bringen" (H. Scheible, 28).

Im zweiten Teil des Buches sind auch religionspädagogisch wichtige Texte Melanchthons abgedruckt (Die Zehn Gebote, Der Glaube, Das Vaterunser) und solche, welche die Grundlagen seiner Theologie und damit auch seiner Pädagogik entfalten (Unterschidt zwischen weltlicher und Christlicher Fromkeyt, 1521).

Eine Ringvorlesung, die 1997 an der theologischen Fakultät der Universität Kiel anläßlich des Melanchthon-Jahres gehalten wurde, wird in Johannes Schillings Beitrag "Melanchthons bleibende Bedeutung" veröffentlicht.7 Wie sich schon im Titel ausdrückt, geht es den Rednern darum, Melanchthon nicht nur geschichtlich zu verstehen, sondern aus seinem Werk auch Impulse für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Zwei der acht Beiträge gehen auf pädagogische Themen ein. R. Staats findet im Universitätsprogramm Melanchthons "allerlei Goldkörner ..., die beim Bedenken der kritischen Lage der deutschen Universität heutzutage auszugraben und vorzustellen von grossem Nutzen sein kann" (86). "Die Aktualität Melanchthons beginnt für uns Theologen schon mit der Tatsache, daß dieser Praeceptor die Sache der Universität noch eng mit der Sache des Christentums verbunden hatte." (87) Aus der "Christlichkeit der Universität" folgten Verpflichtungen, hinter die sie auch heute nicht zurück kann, nämlich "Wahrheit", "Konsens" und "Bescheidenheit". Speziell für das Theologiestudium scheinen Staats Melanchthons Betonung der sprachlichen Bildung und sein Drang nach einem Lektürekanon gemäß dem Prinzip: Non multa, sed multum, beherzigenswert.

Dem Zusammenhang zwischen Naturrecht und Bildungsidee geht H. Kress nach. Er bedauert, daß Melanchthon unter dem Einfluß Karl Barths oft eher dem "Niedergang von evangelischer Kirche und Theologie" zugerechnet wird. Melanchthon kommt das Verdienst zu, daß er "zumindest für den lutherischen Raum das Anliegen des Naturrechts als einer Theorie der ethischen Vernunft wachgehalten" (103) hat. "(1) Der Naturrechtsgedanke verpflichtet und behaftet alle Menschen auf ihr Gewissen und auf ihre ethische Vernunft; (2) er leitet zum ethischen Dialog an und hat damit eine friedenswahrende Funktion; (3) er regt zu einer Öffnung christlicher Ethik für außerchristliches Denken an und stellt vor die Herausforderung, sich an der rationalen Auseinandersetzung um Gegenwartsprobleme zu beteiligen." (106) Der neuzeitliche Bildungsbegriff ist von seiner Tradition her "ethischpädagogisch an der Vernunft, Individualität und Humanität eines jeden Menschen ausgerichtet" (190). In den Schulen muß wieder mehr "kulturelles und religiöses, ethisches Orientierungswissen" angestrebt werden.

In dem Sammelband "Melanchthon neu entdeckt", hrsg. von Stefan Rhein und Johannes Weiß,8 äußern sich elf Autoren zu Themen wie Melanchthons Leben und Wirken (S. Rhein), seine Vorliebe für das "Gespräch" und seine ökumenische Verständigungsbereitschaft (P. Oestreicher, K. Lehmann), sein Verhältnis zu Luther und Erasmus (W. Eisinger und W. P. Eckert) u. a. Pädagogische Impulse Melanchthons sucht Wolfgang Huber für die aktuelle Kontroverse um das Unterrichtsfach Lebenskunde-Ethik-Religion (LER) in Brandenburg fruchtbar zu machen. Er hebt unter Berufung auf Melanchthon die besondere Affinität evangelischen Christentums zur Bildung hervor und erinnert die evangelische Kirche an ihre Bildungsverantwortung. In der Schule sollen "die Schülerinnen und Schüler gelebten Überzeugungen begegnen und in dieser Begegnung zu eigenen Überzeugungen finden" (119). Die Beschäftigung mit dem Christentum darf sich nicht "auf eine vermeintlich neutrale Außenperspektive beschränken" (126). Mehrere der anderen Autoren heben Melanchthons didaktische Fähigkeit klarer Sprache und Systematisierung hervor: "Melanchthon hat die Sache der Reformation nie nur vertreten, sondern auch vertretbar formuliert und einprägsam tradiert" (W. Eisinger, 53).

Das Wirken Melanchthons in breite sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen, versucht das Buch von Gerhard Arnhardt und Gerd-Bodo Reinert "Philipp Melanchthon".9 Die Grundlagen von Melanchthons pädagogischem Denken werden nur gestreift: In Melanchthons wiederholt formulierter anthropologischer Voraussetzung, daß der Mensch aus eigener Kraft "äußerliche Werke" tun könne, sehen die Autoren die "Synthese zwischen Humanismus und Protestantismus", von der sein pädagogisches Denken ausgeht: "Das Luthertum verdankt seinen Einfluß auf die Entwicklung der pädagogischen Theorie in erster Linie Melanchthon. Die von ihm hergestellte Verbindung zwischen der rigoros verfochtenen Lehre vom ,unfreien Willen’ und dem Lebensoptimismus der Humanisten brachte bedeutendes Rüstzeug in die Schatzkammer pädagogischen Denkens." (109) Besonders von Melanchthon gehen die folgenden Impulse für die Entwicklung des Bildungswesens aus: Möglichst vielen ist die Bibel zugänglich zu machen; Staat und Kirche brauchen leitende Personen; Friede ist nur durch von klarem Denken bestimmte Kommunikation möglich. Ansonsten bietet das Buch eine Menge von
Einzelheiten zu Aufbau und Organisation des Schulwesens, zur Gestaltung des schulischen Curriculums auf den verschiedenen Stufen, zu Stellung und Ethos des Lehrers u. a.

In dem von Reinhard Golz und Wolfgang Mayrhofer herausgegebenen Band "Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas"10 sind 29 überarbeitete Vorträge von einer Tagung zusammengestellt, die 1995 im Vorblick auf die Luther- und Melanchthon-Jubiläen 1996 und 1997 an der Universität Magdeburg stattfand. Das besondere Interesse gilt der pädagogischen Wirkungsgeschichte der beiden Reformatoren; doch werden darüber hinaus auch andere historische und pädagogisch grundsätzliche Fragen angesprochen.

W. Wiater faßt die bildungsgeschichtliche Bedeutung Melanchthons in dem Satz zusammen: "Melanchthon löst die Ambivalenz der lutherischen Reformationspädagogik zugunsten eines christlichen (evangelischen) Humanismus auf." (74) Die Schule ist bei Melanchthon "eine Institution des christlich gesinnten Staates, eingerichtet zum Zwecke der Ehre Gottes und dadurch zugleich zum Zwecke des Allgemeinwohls" (86). W. Korthaase geht dem Einfluß Melanchthons in Böhmen und Mähren nach. Wichtige Kanäle waren dabei persönliche Verbindungen, tschechische Studierende in Wittenberg und vor allem seine Lehrbücher. Manchen seiner tschechischen Schüler blieb Melanchthon durch eine rege Korrespondenz verbunden. So kennt man mehr als 50 Briefe allein an seinen Schüler Matthaeus Collinus (1516-1566). Korthaase bedauert, daß in gegenwärtigen tschechischen Handbüchern zur Pädagogik und Philosophiegeschichte Melanchthon nicht ausreichend gewürdigt werde.

L. P. Lepteva zeigt auf, wie im Zuge des Einflusses des deutschen pädagogischen Schrifttums auf die russische Pädagogik im 19. Jh. daraus auch Einschätzungen Luthers und Melanchthons übernommen wurden. So hebt etwa L. N. Modraoevskij die universale Gelehrsamkeit Melanchthons hervor. Durchweg findet "Melanchthon in der russischen pädagogischen Literatur eine wesentlich geringere Aufmerksamkeit als Martin Luther" (317). Die russische pädagogische Literatur enthält "z.T. recht ausgiebige Informationen über die pädagogische Arbeit der beiden Reformatoren". Erwartungsgemäß stellt die Oktoberrevolution auch für das pädagogikhistorische Schrifttum Rußlands einen Bruch dar. Nach G. L. Karpova widmet die "kurze Geschichte der Pädagogik" von Medvedkov (1912) Luther noch etliche positive Aufmerksamkeit und erwähnt Melanchthons Aktivitäten bei der Entwicklung von Schulen. Die "Pädagogische Enzyklopädie" von 1927 stellt einerseits Melanchthons Gelehrsamkeit heraus, zeigt aber kein Verständnis dafür, daß er sich keine unchristliche Erziehung vorstellen kann. Das "Pädagogische Wörterbuch" von 1960 bezeichnet Melanchthon als hervorragenden Humanisten und würdigt seinen Beitrag zur Entwicklung des Schulwesens. Dagegen hält das Lehrbuch der "Geschichte der Pädagogik" von Konstantinov (1974/ 1982) im pädagogikhistorischen Zusammenhang weder die Reformation noch gar ihre Vertreter für erwähnenswert.

In einem Durchgang durch ausgewählte deutsche "Geschichten der Pädagogik" im 19. und 20. Jahrhundert zeigt R. Golz auf, wie sehr die Wahrnehmung Luthers und Melanchthons durch die Standorte und Interessen der Verfasser bedingt wird.

In den Beiträgen zum Jubiläumsjahr wird deutlich, wie sehr Melanchthon für die Wahrnehmung der Zeit nach der Reformation im Schatten Luthers steht, wie dieser aber nur
durch die Unterstützung Melanchthons zu so weitreichender Wirkung gelangen konnte. Durchweg stellt man das grundsätzliche Einvernehmen zwischen den beiden Wittenberger Reformatoren heraus, spielt Spannungen herunter und wendet sich vor allem gegen den Verdacht, Melanchthons Verständigungsbereitschaft habe ihn zu Zugeständnissen veranlaßt, die fast einem Verrat gleich kämen. Vermissen manche Kritiker bei dem Theologen Melanchthon im Vergleich zu Luther existentielle Tiefe und auch sich durchhaltende, mutige Entschlossenheit und sehen sie seine Verdienste eher im formalen Bereich des gelungenen Formulierens und Systematisierens als im theologisch inhaltlichen, so stimmen im Lob des Pädagogen Melanchthon alle überein. Vielfach wird darauf verwiesen, daß die Umstände und sein Pflichtbewußtsein Melanchthon weiter auf das Feld der Theologie und der Kirchenpolitik drängten, als seinen Neigungen entsprach. Er hätte sich gern mehr auf seine philologisch-pädagogischen Aktivitäten im Rahmen der Artistenfakultät beschränkt.

Das Sprachgenie Melanchthon beherrschte nicht nur wie kein anderer die drei klassischen Sprachen, sondern verfügte auch über eine einzigartige Gabe zu klarer Formulierung. Klarheit des Denkens und der Sprache hängen für ihn innerlich zusammen: "Sprachliche Ausdrucksfähigkeit und Urteilskraft hängen von Natur aus zusammen ... Klugkeit (prudentia) und Beredsamkeit (eloquentia) sind untrennbar verbunden" (M III, 49).11 Die Redeweise spiegelt deutlich die Geistesart: ... orationem esse animi rationem. Diese Erfahrung, die er an sich selbst und anderen gemacht hatte, bestimmte Ziel und Inhalt seines akademischen Wirkens. Er wollte sich in der Hauptsache als Philologe betätigen und den Studenten in der Artistenfakultät die für das Studium an höheren Fakultäten erforderliche sprachliche und sonstige Allgemeinbildung vermitteln.

Die artes teilt Melanchthon in das "logische", das "physische" und das "protreptische Genus". Gegenstand des genus logicum ist sprachliche Förderung durch das Trivium Grammatik, Dialektik und Rhetorik. Das genus physicum umfaßt das Quadrivium der artes, die sich mit der Erkenntnis der Dinge beschäftigen: Mathematik, Geometrie, Astronomie, Musik. Von besonderer Wichtigkeit ist für Melanchthon das genus protrepticum. Es umfaßt die Moralphilosophie, welche die Kriterien rechten Handelns entfaltet und begründet, sowie die Geschichte und die schöne Literatur, die anschauliche Beispiele bieten, an denen das moralische Urteil geschult werden kann. Die physischen und protreptischen Sachfächer faßt Melanchthon in seiner Wittenberger Antrittsrede von 1518 Über die Verbesserung der Studien im Jugendalter unter dem Begriff der "Philosophie" zusammen: "Unter der Bezeichnung Philosophie fasse ich Naturwissenschaft, Ethik und Beispiele sittlichen Verhaltens (scientiam naturae, morum rationes et exempla) zusammen." (M III, 39)

Melanchthon wurde nicht müde, den propädeutischen Wert sprachlicher und philosophischer Studien für die höheren Fakultäten zu betonen. Dabei war ihm weniger wichtig, ob diese Studien an der Artistenfakultät oder schon in einer höheren Lateinschule seiner Prägung durchlaufen wurden. Diese Fächer führen nicht nur zu der für das Studium der Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin notwendigen geistigen Reife, sondern haben darüber hinaus auch einen Eigenwert. Mit solchen Überlegungen kann Melanchthon als einer der frühen Theoretiker von gymnasialer Oberstufe und Hochschulreife gelten. Wer nicht klar sprechen und denken gelernt hat, kann nicht erfolgreich studieren. Klarheit ist als stilistische Qualität das Gegenteil von Jargon. Melanchthon verabscheut die Scholastik nicht zuletzt aus sprachästhetischen Gründen. Schönheit des Ausdrucks ist auch notwendig, damit die Verständigung gelingt.

"Guter Stil ist aus Notwendigkeit entstanden (Peperit elegantiam necessitas), denn alles barbarisch Ausgedrückte bleibt unklar." (M III, 48) Melanchthon beklagt eine Studienmotivation, die sich mehr auf finanzielle Vorteile als auf die Inhalte richtet und die Grundbildung vernachlässigt, weil sie sich nicht unmittelbar in klingende Münze umsetzen läßt. Die Fachstudien haben Schaden genommen, weil unzureichend Vorgebildete "in die edelsten und ernsthaftesten Fächer wie Schweine in die Rosen eingebrochen sind" (M III, 61).

In seiner De miseriis paedagogorum oratio aus der Zeit um 1533 vergleicht Melanchthon in teils ernsthaftem, teils aber auch selbstironisch amüsiertem Tonfall den Lehrer mit Sisyphus: "sich vergeblich durch ewige Sorgen und Mühen aufreiben..." (M III, 72), gegen die Motivationslosigkeit der Lernenden ankämpfen, die eigenen Frustrationen unterdrücken, Korrekturen - relegere inepte scripta -, Undank etc.

Die Rede dürfte mehr die Erfahrungen anderer als seine eigenen wiedergeben. Denn Melanchthon war nicht nur als pädagogischer Theoretiker erfolgreich, sondern auch als Praktiker. Wie andere Professoren seiner Zeit nahm er Studierende in sein Haus auf und förderte sie privat in einer Art schola domestica. Dabei gewann er Erfahrungen, die sich auch in seinen katechetischen und pädagogischen Schriften niederschlugen.

Als akademischer Lehrer hatte Melanchthon großen Zulauf. Aus seinem Unterricht gingen Lehrbücher hervor, die viele Auflagen erlebten und von denen manche noch bis ins 18. Jh. verwendet wurden. - Als Visitator im Auftrag seines Landesherrn besuchte Melanchthon zahlreiche Orte. Dabei achtete er nicht nur auf die kirchlichen, sondern auch auf die schulischen Verhältnisse, sammelte Erfahrungen und setzte diese mit solchen, die er in seiner eigenen Lehrtätigkeit gemacht hatte, in pädagogische und schulorganisatorische Anstöße um.

Zur Errichtung von Schulen und Universitäten wurde oft der Rat des Experten Melanchthon eingeholt. Als zweimaliger Rektor der Universität Wittenberg (1523/24 und 1538) sowie als Dekan der Artistenfakultät (1535/36) konnte er auch seine Reformideen unmittelbar einbringen:

Lernen darf nicht nur rezeptiv sein, sondern erfordert eigene Produktivität: "Wenn die geistige Tätigkeit nicht auch durch eigene Formulierungsversuche angeregt wird - nisi stilo excitetur animus -, erschlafft sie. Durch ein Übermaß bloßen Zuhörens und Lesens, wird die gedankliche Schärfe, soweit vorhanden, abgestumpft." (M III, 55) "Zu einem guten Lehrbetrieb gehören für Melanchthon Redeübungen und Stilübungen in Vers und Prosa" (Scheible 1996, 105). Für die Universität folgt daraus die Forderung nach Disputationen und Deklamationen.

Lernen bedarf einer sowohl durch die Struktur der Gegenstände als auch durch die geistigen Voraussetzungen des einzelnen Studenten bedingten Ordnung. Orientierungslosigkeit bedeutet Zeitverlust und mindert den Lernertrag. Deshalb trat Melanchthon für detaillierte Studienpläne ein. Sie sollen zwar individuell sein, aber dennoch strukturiert. Für die Zusammenstellung seines persönlichen Menüs überläßt Melanchthon den einzelnen Studenten nicht sich selbst oder den Ratschlägen beliebiger Kommilitonen, sondern gibt ihm einen praeceptor bei, der mit ihm ein auf ihn zugeschnittenes Programm ausarbeitet.

Melanchthon hat viele Schriften pädagogischen Fragen gewidmet, so seine Wittenberger Antrittsrede von 1518 "Über die Verbesserung der Studien", seine "Rede zum Lob der neuen Schule" bei der Eröffnung der heute Melanchthon-Gymnasium genannten höheren Lehranstalt in Nürnberg, die "Rede über die Griechischstudien" von 1549 u. a. Darüber hinaus wird seine pädagogische Motivation in fast sämtlichen Schriften erkennbar. So finden sich selbst in einer Kampfschrift wie den Responsiones ad articulos Bavaricae inquisitionis von 1558 Ausdrücke wie die folgenden eingestreut: "Ich bitte die Jugendlichen, sich von so ungeheueren Meinungen fernzuhalten" (M VI, 312). "Diese Verrücktheiten zähle ich in aller Kürze auf, weil sie den meisten Jugendlichen unbekannt sind" (M VI, 344). Bis in seine kirchenpolitisch-polemischen Aktivitäten hinein steht ihm besonders die Verantwortung für seine iuniores, iuvenes oder adolescentes vor Augen.

Auch längere spezifisch pädagogische Texte Melanchthons sind Äußerungen zu Einzelfragen. Eine systematische Darstellung seiner Pädagogik, die seinem theologischen Gesamtaufriß in den Loci praecipui theologici entsprechen würde, hat er nicht verfaßt. Grundlinien einer allgemeinen Pädagogik, die Stellungnahmen zu einzelnen Fragen erst begründet, sind jedoch in seinem Werk mühelos zu erkennen. Ein anthropologisch begründeter Erziehungsbegriff deutet sich in folgendem Zitat an: "Zwischen Mensch und Tier hat die Natur den Unterschied gesetzt, daß die Tiere sich um ihre herangewachsenen Nachkommen nicht mehr kümmern. Dem Menschen dagegen hat sie nicht nur auferlegt, seine Abkömmlinge in der frühen Kindheit zu ernähren, sondern noch mehr, in späteren Jahren ihre Sitten zum Ehrenhaften hin zu bilden".(ut mores eorum ... ad honestatem formet" M III, 69).

In dieser grundsätzlichen Äußerung zum Wesen der Erziehung zeigt sich, daß Melanchthon Erziehung primär als ethische Erziehung versteht. Deshalb kann seine Ethik Philosophiae moralis epitomes libri duo (Endfassung 1546) als einer seiner pädagogischen Grundlagentexte gelten. Geht man von der Einsicht aus, daß Pädagogik am Konvergenzpunkt von Ethik und Psychologie entsteht, dann ist der andere für Melanchthons Pädagogik grundlegende Text seine psychologische Anthropologie Liber de anima (Endfassung 1553). In beiden Texten setzt Melanchthon philosophisch-anthropologische Gedankenreihen so zu theologischen in Beziehung, daß einerseits der Primat der Theologie gewahrt wird, andererseits aber auch eine gewisse Selbständigkeit der Philosophie ihr gegenüber.

Trotz der Erbsünde ist der Mensch erziehbar, ja gerade wegen ihr hat er Erziehung (im Sinne von Moralerziehung) überhaupt nötig. Die Erziehbarkeit des vorfindlichen Menschen setzt Erkennbarkeit des Guten und Willensfreiheit voraus. Beides hebt Melanchthon im Laufe seines Lebens immer deutlicher hervor. "Die Fähigkeit, Ehrenwertes und Schändliches zu unterscheiden" (discrimen honestorum et turpium), die lex naturae als "das dem menschlichen Geist von Gott eingepflanzte Licht" (lumen divinitus insitum animis); (M III, 160; M II 1, 280 et passim). Durch die Erbsünde ist zwar die Natur des Menschen "verdorben" (vitiata), die Erkenntnis des Naturrechts "verfinstert" (obscurata) und der "Wille ... behindert" (facultas voluntatis ... impedita). Diese Prädikate bezeichnen sämtlich eine Teilminderung von einem zwar beträchtlichen Umfang, die aber nichtsdestoweniger Restbestände der ursprünglichen Ausstattung übrigläßt. Die libertas reliqua des Willens eröffnet als libertas einesteils die Möglichkeit von Erziehung, als reliqua setzt sie ihr jedoch auch Grenzen. Melanchthon findet so zu einer Position der Mitte zwischen einem Optimismus der Überschätzung pädagogischer Möglichkeiten und einem Pessimismus ihrer völligen Leugnung.

Von der Erbsünde unberührt ist der Sinn menschlichen Lebens, weil Gott an der Bestimmung des Menschen, "Gott zu erkennen, ihm zu gehorchen, seine Herrlichkeit leuchtend offenbar zu machen und um Gottes willen mit seines gleichen menschlich zusammenzuleben" (tueri societatem humanam propter deum; M III, 164), also seiner Gottebenbildlichkeit, festhält.

Unberührt ist weiterhin der Aufbau des seelischen Lebens. Durch die Erbsünde gestört sind nur die seelischen Instanzen in sich und in ihrer Wechselwirkung, nicht jedoch die Grundstruktur der Seele. Melanchthon unterscheidet die drei Seelenvermögen der Erkenntnis (potentia cognoscens, potentia rationalis, mens, intellectus, notitia), des Begehrens (potentia appetens oder auch appetitiva; voluntas, affectus) und des Handelns nach außen (potentia locomotiva). Die potentiae der menschlichen Seele verweisen auf eine mens architectatrix sapiens, nämlich Gott. Die Seele bringt nicht nur die Fähigkeit logischen Schließens - ratiocinatio - und der Selbstbeurteilung - actus reflexi - mit auf die Welt, sondern auch die principia, "die von Gott eingepflanzten Samenkörner der einzelnen Künste und Wissenschaften", so daß ihre Entfaltung pädagogisch unterstützt werden kann. Diese semina umfassen "die Kenntnis von Zahlen, Strukturen und inhaltlichen Grundwahrheiten" (notitia numerorum, ordinis et multarum propositionum). Mit letzteren sind logische Grundsätze wie der Satz vom Widerspruch gemeint, dann aber auch das Wissen um die Existenz Gottes als "ewigen, weisen, wahrhaftigen, gerechten, reinen, wohltätigen Geistes, der die Welt geschaffen hat, ihre Ordnungen erhält und Verfehlungen bestraft" (341). Am deutlichsten verweist das Wissen um die allgemeinsten ethischen Grundsätze, das discrimen honestorum et turpium, auf Gott. Es stellt "die deutlichste Spur Gottes in der Natur" dar. Jeder Mensch bringt gleichsam die Ansätze einer elementaren philosophischen Theologie und Ethik mit auf die Welt und ist so ein lebender Hinweis auf Gott. Für die Gesamtheit der einprogrammierten ethischen Grundsätze, die notitiam legis quae nobiscum nascitur, verwendet Melanchthon gelegentlich mit der Tradition auch den Ausdruck ÛÓÙÚËÛÈ. Als conscientia bezeichnet er die Anwendung auf die eigene Person in syllogismo practico. Häufiger ist jedoch bei ihm die Verwendung von conscientia im weiteren Sinn des Oberbegriffs von ÛÓÙÚËÛÈ und conscientia im engeren Sinne: "Das Gewissen ist die gesamte Überlegung, das Urteil im Geiste oder Erkenntnisvermögen, wonach wir Wohlverhalten billigen und Fehlverhalten mißbilligen" (M III, 336). Nicht jedermann einfach mitgegeben ist dagegen die Moralphilosophie, welche allgemeine ethische Grundsätze zu Handlungskriterien für die besonderen Situationen und Ordnungskriterien für die einzelnen Institutionen auskonkretisiert. Jeder bringt jedoch ihre Ansatzpunkte mit, das Wissen um die allgemeinsten ethischen Grundsätze und die Fähigkeit der ratiocinatio nach ebenfalls einprogrammierten logischen Grundmustern, so daß er moralphilosophische demonstrationes nachvollziehen kann und sie für ihn hohe Überzeugungskraft erlangen.

Zum Begehrungsvermögen zählen der Wille und die Affekte. "Der Wille ist das oberste Begehrensvermögen, das frei handelt, nachdem ihm der Verstand das entsprechende Objekt präsentiert hat" (M III, 345). Der Wille des Menschen richtet sich auf das, was er für sich selber als bonum ansieht. Ausdrücklich wendet sich Melanchthon gegen die "törichte Meinung", "der Mensch könne ein Übel wollen, ohne es für etwas Gutes zu halten" (velle posse malum nulla ratione boni; M III, 346).

Mit auffallender Ausführlichkeit kommt Melanchthon immer wieder auf die Willensfreiheit zu sprechen, so in der Apologia, den Loci praecipui, den Responsiones ad articulos Bavaricae inquisitionis, in den beiden genannten Schriften zur Moralphilosophie und zur Anthropologie. Hauptsächlich in dieser Frage treffen theologisches und pädagogisches Denken aufeinander. Melanchthon verteidigt die Freiheit des Willens einerseits gegen die Vorstellung, die praevisio Gottes oder die Erbsünde determinierten den Willen so, daß er sich nicht nach als ethisch vertretbar angesehenen Zielen richten könne, andererseits begrenzt er sie gegenüber der pelagianischen Selbstüberschätzung, als könne der Mensch sich durch Willensanstrengung mit Gott in Einklang bringen. Unter Willensfreiheit (liberum arbitrium, libertas voluntatis) versteht Melanchthon "die Fähigkeit des Willens, zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln" (M III, 349). Der intellectus präsentiert dem Willen die Objekte, die er entweder wählen und erstreben (eligere, expetere) oder zurückweisen (reicere) kann. Diese Freiheit beschränkt sich allerdings auf die äußeren Handlungen (externae actiones; locomotiva). In dieser Hinsicht kann sich der Wille gegen innere Widerstände durchsetzen und sich gegen äußere durchzusetzen versuchen. Nicht unterworfen sind ihm dagegen die seelischen Regungen (affectus). Sucht er solche zu unterdrücken, weil sie der vernünftigen Einsicht in das Gute oder den Geboten widersprechen, dann bewirkt er eher das Gegenteil. Melanchthons Definition von affectus lautet so: "Ein Affekt ist eine Regung (motus), in der ein Seelenvermögen oder der Wille etwas (der Wahrnehmung G. R. S.) Dargebotenes anstrebt oder meidet" (M III, 188).

In seinen Affekten reagiert der Mensch gefühlsmäßig auf von außen begegnende oder auf vorgestellte Objekte. Ob ein Objekt bei ihm Furcht, Begehren, Freude, Trauer, Liebe oder Haß hervorruft, kann er nicht bestimmen. Sein Wille hat weder auf das Vorhandensein noch die Stärke und die Art dieser Regungen Einfluß, sondern nur auf die Weise und das Ausmaß, wie sie auf sein Handeln wirken. Ausdrücklich wendet sich Melanchthon gegen die stoische Auffassung, alle Affekte seien als Konkurrenten der Vernunft von vornherein übel. Er unterscheidet vielmehr gute, vernunftgemäße und lebenserhaltende Affekte (Liebe zu Eltern, Ehegatten und Kindern, Hunger, Durst, Angst vor Gefahren), die von Anfang an zur menschlichen Natur gehören, von schlechten, vernunft- und gebotswidrigen. Die Erbsünde hat ihre Domäne im Bereich der Affekte. Sie besteht im Fehlen der wichtigsten guten Affekte - Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottesliebe -, im Vorhandensein böser und in der Unordnung der Affekte im Verhältnis zueinander (àÙÍ, confusio ordinis, discordia). Das Fehlen der wichtigsten guten Affekte qualifiziert auch solche Affekte negativ, die, für sich betrachtet, gut wären. Da sich bei den non renati beispielsweise die Liebe zu den eigenen Kindern oder zum Vaterland nicht der Liebe Gottes unterordnen, ist sie zwar per se gut, aber per accidens vitiosa. Zwar rechtfertigen selbst per se gute Affekte einen Sünder nicht vor Gott, deshalb sind sie aber ethisch und pädagogisch noch lange nicht belanglos. Erziehung richtet sich auf das relativ Gute, nämlich die Tugenden.

Die Gesamtheit der per se schlechten Regungen, die Verselbständigung der per se guten gegenüber dem Willen Gottes und ihre Eingefügtheit in übergreifende schlechte Motivationszusammenhänge (z. B. Wohltätigkeit aus Karrieregründen) bezeichnet Melanchthon als concupiscentia. Durch bloße Willensanstrengung kann sich der Mensch weder die durch Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe geprägte rechte Beziehung zu Gott verschaffen noch die concupiscentia ablegen, wohl aber Tugenden erlangen. Tugend definiert Melanchthon im Anschluß an Aristoteles: "Die Tugend ist eine innere Verfassung (habitus), die den Willen zum Gehorsam gegenüber der rechten Vernunfteinsicht neigen läßt" (M III, 175). Sie besteht in der Leichtigkeit, mit der sich gute Affekte gegenüber schlimmen durchsetzen und mit der sich der Wille diesen gegenüber behauptet. Habitus entstehen durch ihnen entsprechende häufige Handlungen, d. h. durch Einübung (disciplina, assuefactio, exercitatio). Eine erste Aufgabe der Erziehung besteht folglich darin, zu dieser Einübung anzuhalten. Denn jede Ausführung einer "ehrenwerten Handlung" gegen den Widerstand ihr entgegengerichteter Affekte erleichtert die Ausführung einer ähnlichen Handlung bei den folgenden Gelegenheiten. Für honestae actiones zählt Melanchthon Wirk- und Hilfsursachen auf. "Die nächstliegenden Wirkursachen sittlichen Verhaltens sind der Geist oder auch das Urteil, das man gewöhnlich einfach ,Spruch der rechten Vernunft’ (dictamen rectae rationis) nennt und der diesem Urteil gehorchende Wille" (M III, 175). Dazu kommen die drei "Hilfsursachen ... Lehre (doctrina), natürliche Antriebe (naturales impetus) und Gewöhnung oder Zucht (assuefactio seu disciplina)".

Die doctrina, in diesem Fall die ethische Unterweisung, hat die Aufgabe, die jeder mens von Anfang an eingepflanzten moralia seu practica principia bewußtzumachen und auf Lebensprobleme hin zu entfalten. Wie etwa musikalische und mathematische Unterweisung an die von Natur aus mitgegebenen speculabilia principia anknüpft, so ethische an die "moralischen oder praktischen". Melanchthon betont, daß ethische Erziehung schwieriger ist, weil sich wertwidrige Affekte dem Bewußtwerden ethischer Prinzipien und dem von ihnen ausgehenden logischen Folgern mehr widersetzen als dem entsprechenden Umgang mit spekulativen. Das praktische Urteil wird durch das eigene Interesse eher verdunkelt als das theoretische. Ethisches Lernen ist nicht nur kognitives, sondern affektives, emotionales Lernen. Je tiefer ein Aufwachsender in die Moralphilosophie eindringt, desto stärker wird sein Wille "von der Schönheit der Tugend fasziniert" (capta pulchritudine virtutis) und setzt entsprechende Motive frei. Melanchthon ist sich klar darüber, daß auch ethische Erziehung auf unterschiedliche genetische Voraussetzungen trifft. Die naturales impetus sind bei verschiedenen Individuen unterschiedlich ausgeprägt. Bei jedem lassen sie sich jedoch mindestens mediocriter entwickeln. Melanchthon klagt darüber, daß die Gewöhnung an moralisches Verhalten weniger ernstgenommen werde als die Einübung von Kunstfertigkeiten.

Größte moralpädagogische Bedeutung kommt der schönen Literatur historischer oder fiktiver Art zu, weil sie gleicherweise auf Denken und Fühlen wirkt. Sie stellt dem Aufwachsenden Personen vor Augen, deren Handeln er bewundert oder verabscheut und die so als Modelle oder Anti-Modelle auf ihn wirken, und sie liefert Beispiele, an denen das moralische Urteil eingeübt werden kann. Moralpädagogisch wirkt die schöne Literatur aber nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Sprache. Wer am Beispiel guter Autoren lernt, sich dilucide et perspicue auszudrücken, lernt auch klar zu denken. Sprachliche und ethische Bildung hängen untrennbar zusammen: mentis character est ipsa orationis forma (M III, 146). Eine geradezu moraltherapeutische Kraft schreibt Melanchthon dem Griechischen zu. Durch seinen Wohlklang und seine Formvollendetheit (suavitatem atque elegantiam) vermag es sowohl zu besänftigen als auch zu erschüttern. (M III, 141)

Moralische Erziehung als Förderung der iustitia civilis durch Stärkung der adiuvantes causae rechten Verhaltens mit Hilfe von Moralphilosophie, schöner Literatur, natürlicher Antriebe und Gewöhnung ist bei Christen und Nichtchristen gleicherweise möglich. Immer wieder warnt Melanchthon einerseits davor, den Besitz "philosophischer Tugenden", die "bürgerliche Gerechtigkeit", religiös überzubewerten und mit der "Gerechtigkeit vor Gott" zu verwechseln, andererseits wendet er sich entschieden dagegen, sie aus religiösen Gründen geringzuschätzen. "Der Vernunftgerechtigkeit (iustitiae rationis als Gegenüber der Glaubensgerechtigkeit G. R. S.) zollen wir gern das gebührende Lob. Denn diese verdorbene Natur hat kein höheres Gut. Mit Recht sagt Aristoteles: ,Weder der Abend- noch der Morgenstern ist schöner als die Gerechtigkeit.’ Gott versieht sie mit vielen weltlichen Belohnungen. Doch darf man sie nicht unter Mißachtung Christi hochhalten. Denn es trifft nicht zu, daß wir die Vergebung der Sünde durch unsere Werke verdienen." (Apol. Conf. Aug. IV)

Aus christlicher Sicht ist Moralerziehung - im weltlichen Sinne - auf der Grundlage natürlicher sittlicher Einsicht dialektisch zu bewerten. Sie trägt dazu bei, "skythische", "zyklopische" oder auch "zentaurische" Verhältnisse fernzuhalten und eine zivilisierte und befriedete Gesellschaft zu schaffen, in der theologische Studien gedeihen können und die christliche Verkündigung leichter Aufmerksamkeit findet: Gott gebietet "paedagogiam ..., damit Menschen durch äußere Zucht gebändigt und an ehrenhafte Sitten gewöhnt werden" (M III, 159). Leicht entsteht jedoch eine Tendenz, Moralpädagogik zu überschätzen, als könne sie den Menschen in den Einklang mit Gott bringen, zu dem er bestimmt ist und in welchem sein Heil besteht. Deshalb betont Melanchthon an vielen Stellen eine klare Unterscheidung: "Die Philosophie sagt nichts über den Willen Gottes. Sie lehrt nichts über Gottesfurcht und Gottvertrauen. All dies gehört ausschließlich zum Evangelium". (M III, 85)

Das Evangelium ist zwar nicht um der bürgerlichen Gerechtigkeit willen, hat jedoch moralische Auswirkungen. Deshalb fügt Melanchthon den "Hilfsursachen" moralischen Verhaltens, die auch in den non renati zur Wirkung kommen können, für die Christen zwei weitere hinzu: "die Kenntnis des Evangeliums und der Heilige Geist, der die menschlichen Kräfte unterstützt und antreibt. Wenn wir uns vor Augen halten, wie schwach die menschlichen Kräfte sind, verstehen wir, was der Philosophie fehlt und lieben umso mehr die christliche Lehre, die in all dieser Ohnmacht Hilfe aufzeigt". (M III, 278) Nur in dem Maße, wie sich der Mensch vom Evangelium durchdringen läßt, entstehen in ihm Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottesliebe mit den daraus resultierenden menschenfreundlichen Einstellungen, welche die schlechten Affekte absterben lassen. Moralpädagogik kann die schlimmen Affekte nur zügeln und die guten stärken. So unterscheidet sich das Evangelium zwar grundsätzlich von Moralpädagogik, zeitigt jedoch moralpädagogisch relevante Wirkungen.

Moralische Erziehung ist auch für Christen notwendig: Denn aus dem Glauben entsteht - erstens - zwar Motivation, das Gute zu tun, nicht aber ohne weiteres auch die Einsicht, was die jeweilige Situation fordert. Glaube ersetzt nicht ethisches Denken. Zweitens verschwindet die concupiscentia in diesem Leben beim Glaubenden nicht völlig, so daß die guten Affekte auch bei den Christen durch exercitatio oder disciplina gestärkt und die schlimmen repressione niedergehalten werden müssen.

Die wichtigsten noch heute gültigen pädagogischen Einsichten Melanchthons lassen sich so zusammenfassen:

Stellenwert und Reichweite des Pädagogischen sind theologisch zu bestimmen. Wo überhaupt theologisch gedacht wird, ist Pädagogik der Theologie nicht gleichzustellen, sondern unterzuordnen.

Erziehung ist im Kern ethische Erziehung. Sie zielt auf die Zivilisierung des Menschen, auf seine Ausstattung mit Kenntnissen und Einstellungen, die ein friedliches Zusammenleben gewährleisten.

Der Glaube hat zwar ethische Wirkungen, doch ist die Glaubensbotschaft kein Mittel zur Ethisierung des Menschen. Dieser dient vielmehr die Erziehung.

Erziehung kann nicht für den Sinn menschlichen Lebens aufkommen. Sie kann nicht die Beziehung des Menschen zu Gott in Ordnung bringen. Das kann nur Gott selbst durch das Evangelium. Dem Menschen bleibt nur, die Einwirkung Gottes durch Wort und Sakrament an sich geschehen zu lassen. Erziehung kann ihn allerdings dorthin führen, wo das Wort laut wird- deducere ad verbum.

Erziehung kann das Verstehen der Glaubensbotschaft und die Aufmerksamkeit darauf fördern. Sie kann aber nicht den Glauben bewirken.

Summary

The 500. anniversary of Melanchthon’s birth 1997 saw a number of publications that also mention educational aspects of his thinking. Melanchthon’s ideas on education gained considerable influence. He was often consulted as an expert, many of his former students became schoolmen, and his books spread all over Europe. Most of his remarks on educational matters are concerned with special issues. His views on the general foundations of education can be found mainly in his Philosophiae moralis epitomes libri duo and in his Liber de anima. In its centre education is moral education. Melanchthon elaborates its possibility and its limitation. It can produce "civil justice" but not "justice before God". The Christian faith has civilizing effects, but it is not to be seen as a means to the end of producing them. Education can promote the understanding of Christian belief, but it cannot produce faith.

Fussnoten:

1) Beyer, Michael, Rhein, Stefan, u. Günther Wartenberg [Hrsg.]: Melanchthon deutsch, 1 u. 2. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1997. 324 S. u. 311 S. 8. Kart. DM 29,50. ISBN 3-374-01636-7.

2) Scheible, Heinz: Melanchthon. Eine Biographie. München: Beck 1997. 294 S. 8. Lw. DM 68,-. ISBN 3-406-42223-3.

3) Scheible, Heinz: Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. Mainz: von Zabern 1996. 578 S. 8 = Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 41. Lw. DM 98,-. ISBN 3-8053-1935-0.

4) Schwab, Hans-Rüdiger: Philipp Melanchthon. Der Lehrer Deutschlands. Ein biographisches Lesebuch. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1997. 283 S. = dtv 2415. Kart. DM 19,90. ISBN 3-423-02415-1.

5) [Junghans, Helmar:] Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. Hrsg. von M. Beyer u. G. Wartenberg unter Mitwirk. von H.-P. Hasse. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1996. 444 S. m. Abb. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-374-01623-5.

6) Haustein, Jörg [Hrsg.]: Philipp Melanchthon. Ein Wegbereiter für die Ökumene. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 253 S. m. Abb. 8 = Bensheimer Hefte, 82. ISBN 3-525-87171-6.

7) Schilling, Johannes [Hrsg.]: Melanchthons bleibende Bedeutung. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zum Melanchthon-Jahr 1997. Kiel: Theologische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität 1998. 150 S., 1 Abb. 8. ISBN 3-928794-22-1.

8) Rhein, Stefan, u. Johannes Weiß [Hrsg.]: Melanchthon neu entdeckt. Stuttgart: Quell 1997. 243 S. m. Abb. 8. Kart. DM 29,80. ISBN 3-7918-1720-5.

9) Arnhardt, Gerhard, u. Gerd-Bodo Reinert: Philipp Melanchthon. Architekt des neuzeitlich-christlichen deutschen Schulsystems. Studienbuch. Donauwörth: Auer 1997. 248 S. m. Abb. gr.8 = Reihe Geschichte und Reflexion. Kart. DM 39,80. ISBN 3-403-02817-8.

10) Golz, Reinhard, u. Wolfgang Mayrhofer [Hrsg.]: Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas. Münster: LIT 1996. 387 S. 8 = Texte zur Theorie und Geschichte der Bildung, 8. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-3280-5.

11) Melanchthons Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Hans Engelland, Gerhard Ebeling, Richard Nürnberger und Hans Volz hrsg.