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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1233–1235

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Haas, Daniela

Titel/Untertitel:

Das Phänomen Scham. Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2013. 220 S. m. 4 Abb. = Religionspädagogik innovativ, 4. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-022949-5.

Rezensent:

Katharina Kammeyer

Die Nürnberger Doktorarbeit von Daniela Haas (bei Manfred Pirner) befasst sich mit einem in Pädagogik und Theologie eher vernachlässigten Thema und zeigt daher in erhellender Weise neue Blickwinkel auf wichtige anthropologische und theologische sowie pädagogische Zusammenhänge auf. Sie verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen ist es ihr Anliegen, das Phänomen Scham genauer zu beschreiben und zu verstehen, was mit Hilfe von alltagsanalytischen, sprachanalytischen, psychologischen, soziolo-gischen, kulturanthropologischen, bibelwissenschaftlichen sowie systematisch-theologischen Beiträgen quasi im Stil eines Kompendiums überaus informativ geschieht. Zum anderen will die Studie die (religions-)pädagogische Relevanz von Schamgefühlen reflektieren und Kriterien aufstellen, um sensibel mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht umzugehen. Die Ausführungen zu beidem erfolgen übersichtlich gegliedert durch zahlreiche Zwischenzusammenfassungen und ein kritisches Fazit am Schluss.
Interessant ist dabei nicht nur die grundsätzliche Unterscheidung von konstruktiver Scham, die schützend wirkt, und von destruktiver Scham, die als öffentlich werdende Diskrepanzerfahrung mit bestimmten Werten und Bedürfnissen verstanden wird. Letztere spitzt sich im individualisiert orientierten westeuropäischen Kulturkreis zu, wenn eine »Scham aufgrund von Scham« erfahren wird, da dieses unerwünschte Gefühl dem Anspruch von ungehinderter Selbstverwirklichung entgegensteht und so selbst Anlass für Schamempfinden darstellt. Theologisch nimmt H. Interpretationen der Adam und Eva-Erzählung sowie der von Kain und Abel vor, in denen der Mensch Scham wegen Gebotsüberschreitungen erlebt bzw. in denen Gott sich den beschämten Menschen zuwendet. Sie betrachtet den schamvollen Kreuzestod Jesu im Kontext einer Gesellschaft, die am Erhalt der eigenen Ehre orientiert war. Die Angewiesenheit des Menschen auf andere und insbesondere auf den bedingungslos liebenden Zuspruch Gottes angesichts der Scham davor, Vergebung zu erbitten bzw. zu empfangen, werden herausgestellt.
Im zweiten Teil werden Schule und Unterricht im Blick auf a) strukturelle Bedingungen, b) Lehrer-Schüler-Beziehungen und c) Schüler-Schüler-Beziehungen sowie d) die Lehrerrolle daraufhin untersucht, für welche Formen von Beschämungen diese anfällig sind. Sichtbar wird: Individuelle Schampotentiale verstärken sich durch Erfahrungen von Selektion im leistungsbezogenen Schul-system sowie durch Verletzungen von Bedürfnissen wie Selbstakzeptanz, sozialer Einbettung und sinnvoller Leistungserbringung. Die Asymmetrie von Wissenskompetenz und Machtverteilung zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern sowie Rollenkonflikte zwischen den Lernenden und fehlende Handlungs- und Bewältigungsstrategien von Lehrkräften gegenüber Beleidigungen von Schülerinnen und Schülern werden hier mit Verweis auf zahlreiche Studien beschrieben. H. appelliert auf diese Anzeigen hin mit Handlungskriterien, die Achtung und Wertschätzung der Lernenden einfordern, was auch durch Diagnostik und Förderung im Unterricht umgesetzt werden kann. Emotionale Rücksichtnahme sowie Unterstützungen »bei der konstruktiven Bewältigung von unvermeidlichen Schamerfahrungen« (201) werden postuliert. Zugleich sollen Lehrpersonen eigene Schamerfahrungen reflektieren und auch professionelle Erfahrungen des Scheiterns nicht verschweigen, um auf dieser Basis der »Weitergabe von Scham« be­wusst vorzubeugen (201).
Besonders erhellend werden Ausführungen, die konkret aufzeigen, welche Interventionen angesichts von Schamerfahrungen wie z. B. Mobbingsituationen sinnvoll sind oder wie ein konstruktiver Umgang mit Fehlern gelingt (109 ff.): in Verbindung von einem positiven Klassenklima und einer Lernorientierung, in der Fehler weder (aus guter Absicht) bagatellisiert, noch beschämend herausgestellt werden. Ähnliche konstruktive Handlungsweisen wie z. B. der Gebrauch von Gewaltfreier Kommunikation, die die Postulate ausgestalten würden, ließen sich an die Arbeit anschließen. Etwas kurz kommen zudem Handlungsoptionen, mit denen Menschen Zuschreibungen anderer zurückweisen können und so also Beschämungen verhindern bzw. mit vorhandenen Beschämungen aktiv umgehen können (in Ansätzen 48 f.).
Das religionspädagogische Kapitel zeigt fachspezifisches Scham­potential im Unterricht auf: Die Rede von der Unfehlbarkeit, Omnipräsenz und Allwissenheit Gottes beinhalte »die Gefahr der Idealitäts- und Intimitätsscham« (202) – demgegenüber steht die Aufgabe der Entwicklung eines differenzierten Gottesbildes. Empfundene Scham, überhaupt persönliche Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu kommunizieren, steht in einer Spannung dazu, dass gerade dies eine durch Religionsunterricht zu fördernde Kompetenz darstellt. Die Stärke des sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts in der bewussten Orientierung an personalen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen sowie die Stärke des symboldidaktischen Ansatzes der indirekten Sprachhilfen werden hier lösungsorientiert in Erinnerung gerufen. Hinsichtlich des interreligiösen Lernens zeigt H. Potential zum respektvollen statt schamvollen Begegnungslernen auf und macht zugleich auf die Notwendigkeit aufmerksam, nicht wohlmeinend neue beschämende Situationen hervorzurufen, etwa wenn Kinder als Experten für ihre Religion angesprochen werden. Im Lichte der differenzierten Begrifflichkeit dieser Studie lassen sich »Kompetenzscham durch Überforderung« und »existentielle Scham durch ungleiche Aufmerksamkeitsverteilung« (203 f.) beschreiben. Ähnlich gilt es, in der Arbeit mit performativen didaktischen Ansätzen Distanzierungen und Reflexionen einzuräumen, um »Kompetenzscham durch Verhaltensunsicherheit oder Idealitätsscham durch Abweichungen von der Gruppennorm« vorzubeugen (204).
Insgesamt beleuchtet diese Arbeit viele vermeintlich bekannte Details in Schule und Unterricht neu. Die Angst von Menschen vor sozialer Ausgrenzung gegenüber dem Wunsch, an Gemeinschaften, aber auch an Wissen, Organisationen und Wohlstand teilzuhaben, wird als konkrete Schamquelle sichtbar (60). Dieser Zusammenhang wird als ernsthaftes Risiko in Bildungsbemühungen oftmals ignoriert. Im Kontext des pädagogischen Inklusionsdiskurses und seiner praktischen Gestaltung lesen sich die Ausführungen daher als wichtige Hinweise. Das Zusammenleben von Menschen in Verschiedenheit kann nur dann zu einem Miteinanderleben in Vielfalt werden, wenn entsprechend anerkennende Strukturen, wertschätzende Interaktionen und Kommunikationen über Konflikte eine Gestalt gewinnen. Dass dies alles andere als selbstverständlich ist und Spannungen mit sich bringt, die nicht immer aufzulösen sind, zeigt H. sorgfältig auf. Das Verhältnis von einer Orientierung am (hier ausführlich beschriebenen) Ideal und der Notwendigkeit, in kleinen Schritten eigenen pädagogischen Handlungsweisen nachzugehen bzw. in der konzeptionellen Diskussion Schwerpunkte zu setzen, wird in der Studie deutlich transportiert. Insofern regt sie an, Strukturen und Kommunikationsformen in Schule und Unterricht zu prüfen und Veränderungen zu gestalten. Zukünftige empirische Studien finden in diesen Klärungen eine hervorragende Basis, um bestehende Unterrichtspraxis zu untersuchen bzw. im Rahmen von Interventionsstudien Weiterentwicklungen zu dokumentieren.