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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1231–1233

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Büttner, Gerhard, u. Veit-Jakobus Dieterich

Titel/Untertitel:

Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik.

Verlag:

Göttingen: Vanden-hoeck & Ruprecht 2013. 224 S. m. 52 Abb. = UTB 3851. Kart. EUR 18,99. ISBN 978-3-8252-3851-3.

Rezensent:

Erhard Holze

Das Interesse an den Modellen der kognitiven Entwicklungspsychologie (Piaget, Kohlberg u. a.) sowie der religiösen Entwicklungspsychologie (Oser/Gmünder, Fowler) ist in der Religionspädagogik einerseits »fest etabliert«, andererseits werden dort wichtige neuere entwicklungspsychologische Theoriebildungen, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, »kaum rezipiert« (7). Auf diese eigentümliche Spannung machen Gerhard Büttner und Veit-Jakobus Dieterich in ihrem Buch aufmerksam und versuchen, diese Rezeptionslücke zu schließen, indem sie zunächst die grundlegenden Theorien zur kognitiven und zur religiösen Entwicklung in geraffter Form darstellen und der Prüfung unterziehen, »was an ihnen einerseits weiterhin als gültig gesehen werden kann und was andererseits einer Revision und Weiterentwicklung zu unterziehen ist« (11): Im Blick auf die Entwicklung von Kindern, Jugend- lichen und Erwachsenen gelten die klassischen Entwicklungs-theorien mit ihren »Stufen«-Modellen inzwischen als zu starrer Schematisierungs- bzw. Kategorisierungsversuch. Zahlreichen em­pirischen Studien zufolge verläuft die Entwicklung von Weltbildern viel individueller, unterschiedlicher und pluriformer, als es die klassischen Stufen-Modelle suggerieren. Heinz Streib (»Reli-gion as a question of style«) hatte deshalb bereits im Jahre 2003 die Metaphern der (vermeintlich logisch aufeinander aufbauenden) »Stufen« oder »Stadien« durch die Metapher der (vielen verschiedenen und nebeneinander bestehenden) »religiösen Stile« ersetzt. Und vor allem in den USA ist das bisherige klassische Paradigma (Stichwort: »stufen«-weise Entwicklung vom Konkreten zum Ab­strakten, vom Materialen zum Formalen) durch das neue Paradigma der domainspecifity abgelöst worden: Die Entwicklung des Denkens und Urteilens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lässt sich nicht (oder nur sehr begrenzt) generell beschreiben, sondern muss nach den verschiedenen Wissensdomänen differenziert werden. Ein und derselbe Mensch verfügt über Denk- und Urteilsfähigkeiten, die von einem Wissensbereich zum anderen höchst unterschiedlich sein können. Diese alltägliche Tatsache gilt nicht allein für Erwachsene, sondern bereits für Kinder und Jugendliche. Da Entwicklungen nicht uniform, sondern pluriform verlaufen, ist jeder Versuch, die Entwicklungsprozesse in einem linearen Schema mit möglichst präzisen Alterszuschreibungen zu kategorisieren, bereits fragwürdig. Von Domäne zu Domäne kann es bei jedem Individuum und in jeder Altersklasse sehr verschiedene Expertisen und Verläufe geben.
Auch die bisherigen Annahmen einer strengen binären Logik werden der Pluralität und Polyvalenz des Denkens nicht mehr gerecht: Gerade in digitalen Zeiten und virtuellen Welten ist das Denken und Urteilen nicht nur domänenspezifisch differenziert. Vor allem jüngere Menschen verfügen zudem über die pragmatische Fähigkeit, in ihrem Weltbild recht unterschiedliche Dinge und Domänen ganz mühelos gleichzeitig zu verorten, entweder in einem Nebeneinander oder sogar in einem Ineinander. Das gilt auch für die Fähigkeit zur Synthese von naturwissenschaftlichen und theologischen Denkvorstellungen (Beispiel: Am Himmel finden sich sowohl Engel als auch Flugzeuge; Verstorbene können sowohl auf dem Friedhof liegen als auch im Himmel sein). An die Stelle bisheriger Widerspruchslogik ist inzwischen vielfach ein komplementäres und hybridisierendes Denken getreten, das sich in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich artikulieren kann, ohne in Widersprüche oder Unverträglichkeiten auseinanderzubrechen. Hier sind vor allem die Forschungen von Paul Harris beispielhaft, der spanische Kinder zu ihren Vorstellungen über den Tod und ein mögliches Leben nach dem Tod befragt hatte: Wurden die Fragen in einem medizinischen Zusammenhang (»Arzt-Kontext«) vorgelegt, wurden andere Vorstellungen artikuliert als in einem religiösen Zusammenhang (»Priester-Kontext«). Die Kinder antworteten also domänenspezifisch, allerdings mit starker Tendenz, beide Domänen zu ergänzen. Büttner und Dieterich stellen fest (119): Die alte Sichtweise Piagets, wonach »sich das naturwissenschaftliche Denkmodell mit dem Heranwachsen durchsetze und ältere, etwa auch religiöse Sichtweisen ablöse, ist überholt.« Und: Das religiöse Modell kann neben dem naturwissenschaft-lichen existieren, ja mitunter »nimmt die Mitberücksichtigung supranaturalistischer Interpretationen […] mit dem Lebensalter – entgegen Piagetscher Annahmen – eher zu« (93). »Das Denken wird damit vielfältiger, mehrschichtig, reicher« (119). Denken vollzieht sich nicht allein in den Bahnen der binären Logik, sondern auch der komplexen Fuzzy-Logik.
Ähnliches gilt für die Entwicklung der Gottesbilder: Anlässlich der Ergebnisse von Anton Bucher, Jörg Biewald und Justin Barrett ist festzustellen: Das alte Paradigma der Entwicklung von anthropomorphen zu abstrakten Vorstellungen ist der Annahme gewichen, wonach Kinder keineswegs nur anthropomorph denken, sondern durchaus schon abstrakte Gottesvorstellungen haben. Um­gekehrt haben auch Erwachsene nicht selten einfachere und anthropomorphe Vorstellungen.
Büttner und Dieterich tragen eine Fülle an neuen entwicklungspsychologischen Forschungsergebnissen zusammen, vornehmlich aus dem angelsächsischen Sprachraum (vor allem von Justin L. Barrett, Paul L. Harris, Lee A. Kirkpatrick und Christine H. Legare), aber auch im Blick auf die wichtigen Studien aus Deutschland zu theologischen Teildomänen: Zum Beispiel die von Werner Ritter, Helmut Hanisch und anderen durchgeführte Studie zur Theodizee (»Leid und Tod«, 2006), wonach die Befragung von 400 Schülerinnen und Schülern aus Nürnberg und Leipzig ergeben hat, dass es für die unterschiedlichen Konzepte (Abwesenheit Gottes, Nähe Gottes usw.) keine eindeutige Alterszuschreibung gibt; oder Anna-Katharina Szaguns Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen (»Dem Sprachlosen Sprache verleihen«, 2006), in der Szagun im Kontext von Materialcollagen und Gesprächen mit Metaphern arbeitet und sich deutlich von der Methode abgrenzt, Kinder Gott malen zu lassen, da das Malen anthropomorphe Darstellungen fördere oder gar hervorrufe; oder die kindertheologisch-christologische Untersuchung von Mirjam Zimmermann (»Kindertheologie …«, 2010), die zu dem Fazit kommt: »Eine Kartographie theologischen Denkens sollte immer inhaltsbezogen sein, kann sich also nicht auf ›Denkformen‹ allein beziehen«.
Mitunter geben Büttner und Dieterich sowohl im Haupttext als auch im Literaturverzeichnis Klassiker der Entwicklungspsychologie mit Jahreszahlen an, die als Erscheinungsjahr missverstanden werden können; z. B. werden die in den 20er bis 40er Jahren erschienenen Hauptwerke Jean Piagets mit den Jahreszahlen 1980 und 1990 angegeben (156.218). Insbesondere für Studierende sind solche Zeitsprünge in geradezu halben Jahrhunderten irreführend; in den immer wieder vorkommenden Bezugnahmen auf Theorien, die schon längst besprochen worden waren, wird deutlich, dass dieses Buch nicht eigentlich als Buch geschrieben wurde, sondern das literarische Endprodukt einer Vorlesung ist, die im Sommersemes­ter 2012 gehalten worden war (7).
Abgesehen von diesen beiden eher marginalen Einschränkungen ist dieses Buch als kundig, materialreich und anregend zu würdigen. Bei allen Darstellungen und Wertungen legen Büttner und Dieterich spürbar Wert auf eine ausgewogene und glimpfliche Beurteilung: An der klassischen kognitivistischen oder religiösen Entwicklungspsychologie mit ihren Entwicklungs-»stufen« oder -»stadien« wird nicht krampfhaft festgehalten, sie wird aber auch nicht etwa zugunsten der vielen neuen Studien einfach abgetan. Ihrem Buch ist es gelungen, »die entwicklungspsychologische und die fachspezifische Entwicklungslogik zu präsentieren und, wo es mögl ich ist, sie miteinander in Verbindung zu bringen. Dass es Grenzen der Synthese gibt, liegt in der Sache selbst begründet« (209).