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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1227–1229

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zitt, Renate, u. a.

Titel/Untertitel:

Wahrnehmen. M. Beiträgen v. Th. Zippert, J. Weber, L. Müller-Alten, P. Höhmann, U. Höhmann, F. Dieck-breder, R. Zitt.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2013. 248 S. m. 4 Abb. u. 2 Tab. = Theologie und Soziale Wirklichkeit. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-022645-6.

Rezensent:

Kristin Merle

Welche Rolle spielt Wahrnehmung für soziales Handeln? Inwiefern ist Wahrnehmung konstitutives Element eines verantworteten professionellen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, diakonischen Handelns, pädagogischen Wirkens? Die Autoren und Autorinnen des Bandes – vorwiegend aus dem Kreis der Evangelischen Hochschule Darmstadt – teilen ein Plädoyer: für die »Wahrnehmung von Einzigartigkeit« (Weber, 168); denn Einzigartigkeit will von sich aus der Subsumption unter ein Allgemein-Abstraktes widerstehen und fordert den aufmerksamen Blick für den individuellen Menschen und die individuelle Situation jenseits von Vorurteilen und Systemlogiken ein. Die multiperspektivische Anlage des Buches bildet dabei die Multiperspektivität ab, mit der es professionell Handelnde in helfenden Berufen wie Klienten gleichermaßen zu tun haben. Welche Konsequenzen hat die »Entselbstverständlichung« (Blumenberg) des Blicks (vgl. Waldeck, 85) also für sozialräumliche Wahrnehmungen (Zippert), die Analyse institutioneller Strukturen (Dieckbreder/Zippert), im Verfahren sozialrechtlicher Leistungsfestsetzung (Müller-Alten), in theologischer Perspektive (Waldeck) und pädagogischer Hinsicht (Dieckbreder)?
Deutlich wird, dass in jeden Wahrnehmungsprozess einer sozialen Interaktion mindestens drei Aspekte verwoben sind: die Wahrnehmung der Klienten durch die Professionellen, die Selbstwahrnehmung der Professionellen und die Wahrnehmung des Interak-tionsrahmens, der institutionell-lebensweltlich zwar einerseits vorgegeben ist, der sich aber durch Interpretationsprozesse und Praxisvollzüge gleichzeitig immer wieder neu konstituiert. Dass der Fokus auf den diffizilen Prozess von Wahrnehmung gelegt und mit der Frage verschränkt wird, welche Konsequenzen die Wahrnehmung der Professionellen für die Klienten haben, das ist die Stärke des Aufsatzbands. Das Problem der Wahrnehmung ist damit konstitutiv auf Praxis bezogen und verbleibt nicht im Bereich epistemologischer Theorie. Inwieweit jedoch die Praxis einer Haltung epistemologischen Charakter haben kann, zeigt Weber in seinem Beitrag Wahrnehmung und Praxis unter Rekurs auf den brasilianischen Pädagogen Freire: »Wer auf epistemologische Art neugierig ist, stellt andere Fragen und lernt anders als jemand, der nicht über diese Neugier verfügt.« (Weber, 169) Irritation wird so zum lebendigen Moment der Wahrnehmung, denn: »Das, was wir kennen, nehmen wir nicht mehr bewusst wahr.« (Dieckbreder/Zippert, 125) Religiös affizierte Wahrnehmung kann hier in eine andere Perspektive einüben. Zum einen, weil sie eine ähnliche Erfahrungsqualität insofern aufweist, als das Religiöse wie die (sinnliche) Wahrnehmung wesentlich pathischen Charakter haben (vgl. Weber, 152); zum anderen kann die Annahme eines Transzendenten Kontextuierungen von Wahrnehmung leisten, die über das vermeintlich Vorfindliche hinausgehen (vgl. Waldeck, 75 ff.).
Wahrnehmen will also geübt sein, sofern sie nicht in eine interesselose und verzweckte Reproduktion vorhandener Stereotype münden möchte. Sie ist aber auch eine der Kompetenzen, deren Erwerb resp. Steigerung es in pädagogischer Absicht mit Blick auf die Klienten zu verfolgen gilt. So unternimmt es der Beitrag von Dieckbreder, Pädagogische Dimensionen der Wahrnehmung, eine Haltung des Empowerments zu skizzieren, die sich an Herbarts Diktum orientiert: »Machen, daß der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies oder nichts ist Charakterbildung.« (zit. n. Dieckbreder, 94) Empowerment als Haltung des Professionellen führt die Kunst des Aushaltens und des Vertrauens gleichermaßen mit sich, da die intendierte »wahrnehmungsbegründete Entscheidungsfreiheit« (96), nicht zuletzt bei der Klientin, intersubjektiv mit großer Wahrscheinlichkeit zu Differenzen in der Wahrnehmung wie in der Praxis führt. Die pädagogisch zu unterstützende intrinsisch motivierte Normfindung – im Unterschied zum heteronom bestimmten Normnachvollzug – ermöglicht nun zum einen die Wahrnehmung der Verschiedenheit von Erkenntnis und Interpretation, zum anderen nötigt sie wiederum, das Verschiedene als Dasselbe klassifizieren zu können – solange es um Phänomene mit überindividueller Relevanz geht, die sozial verhandelt werden wollen. Aus pädagogischer Perspektive wird hier anschaulich, wie eng Wahrnehmung, Erkenntnis und Orientierung zusammenhängen.
Nicht nur der Beitrag von Dieckbreder thematisiert die Probleme der Macht und der Verantwortung mit Blick auf Prozesse der Wahrnehmung. Unter welcher Perspektive werden Menschen gesehen, die Hilfe brauchen? Bewertende, stigmatisierende Benennungen Hilfebedürftiger (Dieckbreder/Zippert leisten in ihrem Beitrag Institutionengeleitete Aspekte von Wahrnehmung eine be-eindruckende Zusammenschau von Terminologien durch verschie­dene Zeiten hindurch) plausibilisieren unmittelbar das Machtpotential von Sprache, das (Ein-)Ordnungsbedürfnis von Institutionen, die in der Anlage asymmetrische Beziehung zwischen Helfenden und Hilfebedürftigen. Die allgemein gegebene dreistellige Relation des Wahrnehmens (etwas wird als etwas wahrgenommen; vgl. Dieckbreder/Zippert, 143) unterliegt der Gefahr, in institutionellen Abschleifungsprozessen abnehmender Aufmerksamkeit eine Reduktion zu erfahren und zu typenbezogener Handlungspraxis überzuleiten, die eben keinen Raum mehr hat für Individuelles und Besonderes, für Offenes und Entwicklungspoten-ziale. Dieckbreder/Zippert halten fest:
»An dieser Stelle zeigt sich die Tragödie institutionell geprägter Wahrnehmung in ihrer ganzen Pracht. Wenn es nämlich so ist […], dass die Profizentrierung die dominante Perspektive in Institutionen darstellt und diese so geprägt ist, dass Bedürfnisse und Lebensentwürfe der Menschen, um die es eigentlich geht, zurückstehen, dann können weder Probleme gelöst, noch, oder erst recht nicht Ideen wie Inklusion umgesetzt werden.« (137)
Das auf subsumierendem Denken basierende Urteil Professioneller ist insofern zu ersetzen durch die reflektierende Urteilskraft; diese erst bietet einerseits Raum, die Initiativität und Personalität von Menschen in die Wahrnehmung und Beurteilung einzubeziehen, sie bleibt andererseits intersubjektiv befragbar für Begründungszusammenhänge (mit entsprechenden Verweisen auf Kant und Arendt: Weber, 160 ff.). Mit Wahrnehmen, Deuten, Reflektieren, Kommunizieren, Handeln ist ein zirkulärer Prozess (vgl. Zitt, 7) beschrieben, der prinzipiell nicht endet. Systematisiert wird dieser Prozess nicht zuletzt in dem Beitrag von Höhmann/Höhmann, Wahrnehmung als Aufgabe der empirischen Sozialforschung, be­schrieben.
Der Aufsatzband eröffnet in grundständiger Weise Perspektiven auf die gewissermaßen anthropologisch grundgelegte und in entsprechender Weise wissenschaftsgeschichtlich kontinuierlich traktierte Frage: Wie interpretiere ich das, was mir als ›Wirklichkeit‹ erscheint? Vor allem Studierende Sozialer Arbeit, Diakonik und verwandter Disziplinen werden von der Multiperspektivität sowie der in vielen Beiträgen eingezeichneten Bezogenheit auf die Praxis und die Perspektive der Klienten profitieren. Die lesende Zusammenführung der Beiträge gelingt dabei allerdings nicht immer intuitiv, so dass eine ausführlichere – und damit in gewisser Weise auch das Thema grundierende – Einleitung zentrierend gewirkt hätte.