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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1219–1221

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lämmlin, Georg

Titel/Untertitel:

Protestantische Religionspraxis in der post-säkularen Gesellschaft. Studien zur Zukunft der Volkskirche.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 280 S. = Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie, 19. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-12058-8.

Rezensent:

Teresa Schall

Wie muss eine protestantische Religionspraxis in der post-säkularen Gesellschaft aussehen, in der sich die Voraussetzungen für die religiöse Kommunikation elementar gewandelt haben? Und wie können in dieser Gesellschaft Bedürfnisse, Erwartungen und Fragen der Menschen erreicht werden? Auf jene Fragen möchte Georg Lämmlin, Privatdozent für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg, im Rahmen seiner Rekonstruktion dessen, was er als »Volkskirche in einer post-säkularen Gesellschaft« bezeichnet, überzeugende Antworten finden.
»Volkskirche« – hierunter versteht L. in einer theologischen Perspektive die »soziokulturelle Realisierung des Protestantismus, die einem anspruchsvollen Begriff von christlicher Freiheit entspricht, daher die theologisch adäquate soziale Organisationsform des christlichen Glaubens darstellt« (18) und in einer soziologischen Perspektive als »einer der reflexiven, post-säkularen Gesellschaftsformation angemessene Realisierung der Institution Religion in der Gesellschaft, d. h. sie bildet die spezifische und konkrete Rea-lisierung von sozialer (und individueller Religionspraxis) in der Moderne bzw. der Post-Moderne« (18). Im Anschluss an die erste Kirchenmitgliedschaftsstudie 1972 wird die Volkskirche als »Kasualienkirche« verstanden.
Die Aufsätze, die zum Teil schon an anderer Stelle veröffentlicht wurden, gehen auf eine persönliche Weise der Frage nach, wie die zentralen Begriffe der protestantischen Religionspraxis Mission, Bildung, Spiritualität und Engagement (Werteorientierung) in der post-säkularen Gesellschaft neu wirksam werden und damit zu einer Strukturierung der Kommunikation des Evangeliums in der Volkskirche dienen können.
Nach einer einleitenden Problembestimmung zur Volkskirche in der post-säkularen Gesellschaft beschäftigt sich L. im zweiten Kapitel »Mission« mit einer »lebenszyklisch orientierten Kommunikationspraxis« (259) der Kasualien Taufe, Trauung und Bestattung. Taufe als Grundlage der Kasualpraxis und Ursakrament, Trauung als Passageritus und Bestattung zwischen Tradition und Individualität dienen als Beispiele zur Darstellung von Mission als »Plausibilisierung der christlichen Lebens- und Wirklichkeitsdeutung in den lebensweltlichen Kernvollzügen« (35). Für die künftige Praktische Theologie und die folgende Gestaltung der Kasualpraxis in der post- säkularen Gesellschaft bedeute das, dass ein Konzept nötig sein werde, »das die ›Heiligung‹ und ›Rechtfertigung‹ im Kontext von lebensgeschichtlichen Deutungs- und Gestaltungsaufgaben tatsächlich auf der Basis und im Horizont des Symbolraums der Taufe zur Geltung bringt, und das in den Segensvollzügen präsent hält, dass die materielle Basis dieses Segens im Getauftsein der Einzelnen liegt« (68). Daher fordert L. »eine verstärkte Wahrnehmung der Kasualpraxis im Studium im Verhältnis zur homiletischen und liturgischen Fokussierung auf den sonntäglichen Gottesdienst, auch im Sinne einer verstärkten Kasualisierung des Sonntagsgottesdienstes« (68). Das dritte Kapitel befasst sich unter der Überschrift »Bildung« mit interreligiöser Kommunikation sowohl im Religionsunterricht als auch im Kontext der Gemeindearbeit und medialer Gewaltdarstellung. Interreligiöse Kommunikation solle nicht auf die Didaktik beschränkt bleiben, sondern ihr müsse »eine spirituelle, eine symbolische und rituelle Dimension« gegeben werden, »etwa am Ort des liturgischen Handelns« (131). L. sieht so die Spielräume der protestantischen Kommunikationspraxis sowohl erweitert als auch gestärkt, im Gegensatz zu einer konfessionellen Instrumentalisierung und konfessionellen Inklusion.
Die »liturgischen Ausdrucks- und Gestaltungsformen von Spiritualität« (259) werden im vierten Kapitel, unter Einbeziehung der medialen Kommunikations- und Kulturmuster, nicht nur auf die Kirche bezogen, sondern auf »die symbolisch vermittelte, kulturelle Kommunikationspraxis und Sinnstiftung« (259) angewandt. Was bedeutet es, in der Mediengesellschaft der Gegenwart zu predigen? Und welche homiletischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Auch dies wird am Beispiel von massenmedialen Inszenierungsformen durchgespielt. In Kapitel 5 macht L. am Beispiel des protes­-tantischen Elitendiskurses fest, wie Werte-Orientierung im Engagement für die Kommunikation des Evangeliums im Handeln der Glaubenden zum Ausdruck kommt.
Nach der Rede von Jürgen Habermas (Habermas, Jürgen. Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001, in: Ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt 2003, 249–262) 2001 im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels machte der Begriff »postsäkular« Karriere und wurde seitdem vielfach nicht nur in der soziologischen Literatur verwendet. »Postsäkular« ist für Habermas eine Gesellschaft, »die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt«. Damit ist der Säkularisierung weder ein Ende noch eine Wende beschieden. Zugleich legt der Begriff das Verständnis eines Epochenwandels nahe.
L. beschreibt die religiöse Gegenwart so, dass die Bindungskräfte der kirchlichen Institution aufgrund stärker werdender Individualisierung abnehmen und dass sich im Rahmen der Pluralisierung auch die religiösen Praxen weiter ausdifferenzieren. Andererseits seien aber auch Tendenzen einer »stärkeren Rückbindung an Halt gebende und Sicherheit vermittelnde Institutionen« (10) zu beobachten, einhergehend mit einer Form von aktiver öffentlicher Ausübung privater Religion. Leider bestimmt L. sein Verständnis von »post-säkular« nicht deutlich, sondern nimmt den Begriff als selbstverständlich, so dass offen bleibt, ob er sich Habermas anschließt oder sich eher in der Nähe von Peter L. Berger sieht, der einen Niedergang der Säkularisierungstheorie (Peter Berger/Pollack, Detlef [Hrsg.], Nach dem Niedergang der Säkularisierungstheorie. Mit Kommentaren von Detlef Pollack, Thomas Großbölting, Thomas Gutmann, Marianne Heimbach-Steins, Astrid Reuter und Ulrich Willems sowie einer Replik von Peter L. Berger, Münster 2013) postuliert. Hervorzuheben ist, dass L. von einer »Dialektik der Säkularisierung« (9) spricht, wobei die »Rückkehr der Religion« ebenso miteinbezogen werden müsse wie die fortschreitende Säkularisierung und deren Dekonstruktion.
Eine ähnliche Sorgfalt wäre wünschenswert gewesen bei der Verwendung anderer Großbegriffe wie »Säkularisierung«, »Mission« oder »Elite«, die momentan Konjunktur haben, wie auch der Einordnung der Begriffe in einen übergeordneten Forschungskontext. Positionen und Problemstellungen, die in der post-säkularen Gesellschaft auftauchen, werden häufig unter dem Aspekt vorgestellt, in welcher Weise L. sie in seiner pastoralen Praxis erlebte. An bildreich geschilderten Beispielen aus Film, Malerei und den eigenen Erfahrungen erläutert L. ausführlich seine Thesen, die über ihren illustrativen Wert hinaus aber keine verallgemeinerbare Grundlage bilden. Umständliche historische Ausführungen werden in den meisten Aufsätzen den nachfolgenden Erläuterungen zugrunde gelegt. Unerfreulich und zudem den Lesefluss störend ist die gehäufte Anzahl an Rechtschreib- und Flüchtigkeitsfehlern.
Zum Verdienst des Bandes zählt der »Ausblick« (259–261), in dem der Vf. die Aufgaben für die Praktische Theologie für die Zukunft, nenne man sie nun post-säkular oder nicht, der Volkskirche bündelt: Entscheidend sei die Bereitschaft der kirchlichen Organisation, auf die sich ihr bietenden Veränderungen in der Religionspraxis einzugehen.