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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1214–1216

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schallenberg, Peter, u. Arnd Küppers [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Interdisziplinarität der christlichen Sozialethik. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 481 S. m 8. Abb. u. 2 Tab. = Christliche Sozialethik im Diskurs, 4. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-506-77782-9.

Rezensent:

Georg Kalinna

Der vorzustellende Sammelband bietet aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach (KSZ) ein weites Spektrum an Fragestellungen aus allen wichtigen sozialethischen Bereichen. Die Interdisziplinarität christlicher Sozialethik ist hierbei das verbindende Element.
Zunächst gibt es verschiedene fundamentalethisch argumentierende Beiträge. Nach einem für Nicht-Kenner der KSZ hilfreichen Beitrag von Norbert Trippen über die Geschichte der Gründung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (23–39) folgt eine programmatische Einführung der Herausgeber Peter Schallenberg und Arnd Küppers (41–54). Schallenberg und Küppers reflektieren Aufgabe und Zweck einer christlichen Sozialethik ausgehend von Niklas Luhmanns Infragestellung der Sinnhaftigkeit einer Ethik als Reflexionstheorie von Moral. Sie versuchen, plausibel zu machen, dass christliche Sozialethik entgegen Luhmanns Anfrage ein sinnvolles Unterfangen darstellt. Trotz der spezifischen Rationalitäten verschiedener Funktionsbereiche sei es, gegen Luhmann, nicht so, dass es eine »fein-säuberliche Trennung« (45) zwischen diesen Funktionsbereichen geben könne. Stattdessen gebe es »Berührungspunkte, Schnittmengen und auch fließende Übergänge« (46). Von Luhmann sei jedoch zu lernen, dass Ethik sowohl eine »kritische Distanz zu ihrem Gegenstand« bewahren (46) als auch die »spezifische Rationalität ihres Gegenstandes« beachten müsse (47). Dem Rezensenten erscheint die programmatische Auseinandersetzung mit Luhmann in der Tat wichtig, da hier nicht nur die Verbindung von Religion und Moral zur Dis- position steht, sondern – noch tiefgreifender – die Funktion von ethischer Reflexion überhaupt. Lässt man sich jedoch auf Luhmanns Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung autopoetischer Systeme ein, bedeutet das gerade nicht, wie von den Verfassern dargestellt, dass eine angewandte Ethik »sich auf die jeweilige spezifische Rationalität ihres Gegenstandes einlassen muss« (43), sondern dass angewandte Ethik dies gar nicht kann. Insofern wäre kritisch zu fragen, ob die Radikalität von Luhmanns Anfrage hier ernst genug genommen wird oder ob Luhmann lediglich zu einem Stichwortgeber für ›kritische Distanz‹ und ›Beachtung verschiedener Systemlogiken‹ wird. In einem weiteren Beitrag des Herausgebers Arnd Küppers befasst sich dieser mit dem Phänomen des postmodernen Pluralismus und dessen Verhältnis zur theologischen Ethik (181–197). Im Anschluss an Gedanken Nelson Goodmans und Jean-François Lyotards sieht Küppers in der Postmoderne den für das Christentum anschlussfähigen Versuch, »die kulturelle Abhängigkeit und damit Relativität auch basaler Wertvorstellungen anzuerkennen, ohne in den Relativismus abzurutschen« (196). Als Gegenentwurf hierzu ließe sich Holger Zaborowskis Beitrag lesen, der sich im Anschluss an Gedankengänge Jürgen Habermas’ dezidiert kritisch mit postmodernen Entwürfen auseinandersetzt (453–471). Aufgabe der Theologie sei es, die normativen Gehalte der christlichen Tradition zu übersetzen (462), aber auch ›übervernünftige‹ Aspekte der christlichen Tradition als ›übersetzungsresis­tent‹ auszuweisen und die Grenzen zwischen Übersetzbarem und Unübersetzbarem zu bestimmen. Darüber hinaus müsse die Theologie darauf bestehen, die Säkularisierung als ein »Moment der Wahrheit des Christentums selbst« (466) anzuerkennen. In Markus Vogts Beitrag über das »Verhältnis von Fakten, Werten und Normen« wendet sich Vogt gegen ein naturalistisches Ethikverständnis und stellt demgegenüber die Notwendigkeit einer »kreativ deutenden Stellungsnahme [sic] der sittlichen Vernunft« (416) dar. Man dürfe Normen nicht leichtfertig den Stellenwert von Naturgesetzen beimessen, zumal die Natur als solche deutungsoffen sei. Die zentrale interdisziplinäre Aufgabe der Theologie bestehe demzufolge darin, den Naturbegriff schöpfungstheologisch so zu reflek tieren, dass Schöpfungslehre und letztlich Anthropologie ein »hermeneutische[r] Rahmen für die Gesprächsfähigkeit zwischen Theologie und den empirisch forschenden Wissenschaften« (421) werden könne. Theologie und Empirie hätten eine wechselseitige »Wächterfunktion« gegenüber dem Menschen als zentralem Be­zugspunkt.
Wirtschaftsethische Beiträge stammen von Jörg Althammer/ Giuseppe Franco, Marco Bonacker, Christoph Krauss, Christian Müller und Joachim Wiemeyer. Hervorzuheben ist besonders der Beitrag Christian Müllers, in dem er »Ähnlichkeiten des Freiburger ordnungsökonomischen Ansatzes mit wesentlichen Forderungen der Katholischen Soziallehre« (306) feststellt (291–310).
Neben einem medizinethischen Beitrag von Giovanni Maio finden sich einige Beiträge zur politischen Ethik: Ludger Kühnhardt plädiert in seinem Beitrag »Baugesetze der Europäischen Gesellschaft« (167–180) dafür, über Europa wieder vermehrt »ordnungspolitisch« zu diskutieren statt »technisch«, um die EU »aus der aktuellen Krisenpathologie« herauszuholen (174). Hierbei gibt er selbst Vorschläge für konkrete identitätsstiftende Maßnahmen für eine zukunftsweisende Europäische Union. Jürgen Aretz fordert in seinem Beitrag »Christ sein und deutsche Politik – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Thema« (55–67) ein für den protestan-tischen Rezensenten irritierend konservatives »christliches« Engagement in der Politik. Aufgabe der primär antimodern bestimmten Religion sei es, gegenüber »den sich wandelnden Konventionen und Gewohnheiten« zu bestehen (56); andernfalls handele es sich um »weltanschauliche[n] Etikettenschwindel« (58). Ob z. B. Christen aufgrund der Tatsache, dass »die Kinderzahl bei praktizierenden Christen signifikant höher ist als in kirchenfernen Vergleichs gruppen«, eine »besondere Kompetenz« in familienpolitischen Fragen hätten, sei dahingestellt. Differenzierter fallen zu­mindest die Beiträge von Hans-Joachim Lauth und Antonius Liedhegener aus. Lauth befasst sich aus politikwissenschaftlicher Sicht mit der Frage, wie die römisch-katholische Amtskirche zu Demokratisierungsprozessen stand und steht (217–232). Antonius Liedhegener untersucht das Verhältnis von Kirchlichkeit und Demokratiefä-higkeit anhand des Einflusses der Religion auf parteipolitisches Engagement und kommt zu dem Ergebnis, dass Religion einen »wichtigen Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Verankerung der bundesdeutschen Parteien« (262) liefere (241–267).
Insgesamt zeigt der Band einen auch für den nicht-römisch-katholischen Leser interessanten Einblick in den modernen Sozialkatholizismus und die Arbeit der Katholischen Sozialstelle. Aufgrund der oben angesprochenen Anzahl an Autoren, unter denen sich erfreulicherweise nicht nur Theologen finden, sowie aufgrund der unterschiedlichen Themenbereiche fallen die Beiträge naturgemäß sachlich wie qualitativ unterschiedlich aus. Besonders in­teressant erscheinen dem Rezensenten die Beiträge, die sich aus einer dezidierten Metaperspektive mit dem Thema der Interdisziplinarität christlicher Sozialethik auseinandersetzen. Statt einer alphabetischen Anordnung der Beiträge anhand der Autorennamen (?) wäre womöglich eine thematische Gliederung der Beiträge hilfreicher gewesen.