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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1209–1212

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kodalle, Klaus-Michael

Titel/Untertitel:

Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse.

Verlag:

Paderborn u. a.: Wilhelm Fink Verlag 2013. 487 S. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-7705-5632-8.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

In einer Gesellschaft, die überwiegend in ökonomischen Kategorien einer Maximierung oder Optimierung von Leistung, Erfolg und Effektivität denkt und in der die (mediale) Selbstinszenierung als Voraussetzung von Aufmerksamkeit und Anerkennung erwartet wird (11), gerät das intersubjektiv sensible Phänomen der Verzeihung – sowohl das um Verzeihung bitten als auch das Verzeihung gewähren – mehr und mehr aus dem Blick. Alltagssprachlich ist das Verzeihen zwar noch, wenn auch nur floskelhaft, präsent – z. B. als Entschuldigung für eine kleine Vordrängelei in einer überfüllten U-Bahn –, aber ohne persönlichen Tiefgang oder soziale Relevanz wechselseitiger Selbstüberwindung. Bezeichnenderweise bitten wir auch nicht andere um Entschuldigung für ein bestimmtes Fehlverhalten oder von uns verursachte Unannehmlichkeiten, sondern wir entschuldigen uns selbst, um auch hier noch überlegen und selbstbestimmt, selbstgerecht und hybrid die Fäden in der Hand zu halten. Insofern sagt eine (nicht weiter wahrgenommene) Praxis der Verzeihung sehr viel über unser Bild vom Menschsein aus, das hier auf dem Spiel steht: Halten wir uns für im Prinzip fehlerlose autonome Zentren der Welt und unseres Daseins, oder für letztlich passiv oder intersubjektiv konstituierte, aufeinander angewiesene, immer wieder uns verfehlende Beziehungswesen? Vor allem Karl Jaspers (78 ff.) und Albert Schweitzer (88 ff.) haben vor diesem Hintergrund immer wieder eine unvermeidliche, mit dem Menschsein gegebene metaphysische Schuld – im Unterschied zu einem christlich-religiös interpretierten peccatum originale mit der möglichen Tendenz zur Propagierung einer »billigen Gnade« (D. Bonhoeffer) oder einer »selbstgefälligen Nächstenliebe« (90) – zur Sprache gebracht, die jegliche Ausflucht in Strategien schaler Unschuldsbeteuerungen, wie sie heutzutage leider immer wieder stereotyp vor allem in politischen Talkshows gehört werden können, unmöglich macht. Verzeihen, dieser »wunderbarste Akt menschlicher Kommunikation« (K. Jaspers, 79), setzt daher immer die Anerkennung von Unrecht auf beiden Seiten voraus.
Mit dem Verzeihen ist uns anscheinend das Humane abhanden gekommen – und umgekehrt. Wohl nicht deswegen, weil wir »gnadenlos« (181 ff.), sondern weil wir in der meist geschäftigen Borniertheit unseres gesellschaftlichen Treibens uns selbst und anderen gegenüber schlicht gleichgültig und stumpf dem Wesenlosen verfallen sind und kaum noch ein Sensorium dafür haben, wie sehr Schuld und damit Verzeihungsbedürftigkeit zur conditio humana gehört (11). Allerdings zeigt die Fähigkeit und Praxis des Verzeihens, die es ja nach wie vor vereinzelt gibt, dass Menschen so gesehen auch einen »Hang zum Guten« (12) haben (können) und nicht alles verdorben und verloren ist – es sei denn, das Verzeihen wird wiederum als Ausdruck stolzer Selbstgenügsamkeit und Ressentiment-freier Generosität zur Immunisierung eigener Schuldverfallenheit gepriesen, wie es F. Nietzsche zur Profilierung seines Übermenschen getan hat (233 ff.).
Daher ist es tatsächlich an der Zeit, dem »verkannten« (marginalisierten, instrumentalisierten oder unbeachteten) Phänomen des Verzeihens in seiner existenzialen Relevanz nachzudenken, wie es Klaus-Michael Kodalle, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Jena, mit seinem quantitativ wie qualitativ gewichtigen Buch mit deutlich spürbarem persönlichen Engagement getan hat. Dabei ist sich K. sehr wohl darüber im Klaren, dass es hier nicht der unabschließbare Prozess des Denkens ist, auf den es zum Zweck systematischer Belehrung und historischer Information ankommt (29), sondern vielmehr auf das »Verzeihung leben«, wie es im umfangreichen Anhang seines Buches heißt (391–466). Hier hilft weniger geistesgeschichtliches Wissen, sondern im Grunde nur noch die eindrückliche Dokumentation persönlicher Zeugnisse, die K. vor allem zum Problem des Umgangs mit Verbrechern des Nationalsozialismus zusammengestellt hat. So will das Buch insgesamt für die Etablierung eines »Geistes der Verzeihung« als »Grundlage humaner Verhältnisse« in unserer Gesellschaft werben – wohl wissend, dass es bei aller gerade im Zuge reformatorischer Theologie nahezulegenden Unterscheidung von Person und Tat (25.293 f.) auch »Unverzeihliches« gibt (17 f.). Gerade deswegen ist es aber fraglich, ob Verzeihung zur »Mitte der Ethik« werden kann (10), zumal ja Ethik eine Theorie (der menschlich guten Lebensführung) ist und nicht das gelebte Leben selbst. K. spricht daher – sich selbst korrigierend – dann auch lieber vom Verzeihen als der »Mitte des Ethos« (10). Denn Existenzialien wie das Verzeihen (108) können als solche nicht zu ethischen Prinzipien – schon gar nicht im Rahmen einer Pflichtethik (19) – werden, so dass Verzeihung gewähren immer oder doch zumeist geboten und erwartbar wäre. Vielmehr sind solche Existenzialien anthropologische Voraussetzungen, Haltungen und Dispositionen einer möglichen (Situations-)Ethik (25), auf die aufmerksam zu machen sich allerdings gerade um der Ethik willen lohnt, auch und gerade dann, wenn das Verzeihen um seiner selbst willen, als »spontane Daseinsäußerung« (K. E. Løgstrup, 85 ff.), immer nur die Ausnahme sein kann. Auf dieses aufmerksam gemacht zu haben und Hinweise zu geben, wie das Verzeihen phänomengerecht und terminologisch von einer Entschuldigung oder der Nachsichtigkeit unterschieden werden kann, darin besteht K.s großes Verdienst. Vielleicht – das bleibt zu hoffen – entfaltet sich so eine »gewinnende Kraft des Guten« (W. Härle), wobei den literarischen Werken wie z. B. der Erzählung »Der Fall« von A. Camus, mit der K. seine retrospektiven Betrachtungen im Ausgang von markanten Positionen des 20. Jh.s (nachdenkenswert: W. Benjamin – er­staunlich nichtssagend: M. Heidegger) bis zu den Anfängen des Christentums und der jesuanischen Praxis bedingungsloser Verzeihung sowie klassischer Positionen antiker Philosophie beginnt, mehr zugetraut werden kann als nur ein »Auftakt« zu sein (31).
In der sehr instruktiven, vorangestellten »Einleitung« zum »Geist der Verzeihung« (9–29) führt K. umsichtig und facettenreich in die Thematik ein, wobei nach den bereits erwähnten Problemen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus nicht zuletzt auch die moralische Aufarbeitung des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung hier ein weitreichendes Motiv ist (9). Doch der beeindru-ckend lehrreiche philosophie- und theologiegeschichtliche Rundblick in den umfangreichen Kapiteln I bis IV zeigt, dass eine ausgearbeitete Theorie der Verzeihung letztlich immer noch ein Desiderat ist oder noch in den Anfängen steckt (26).
Weiterführend sind allerdings schon Überlegungen insbesondere von Hannah Arendt und Karl Jaspers, dann aber auch und mit besonderer Vorliebe solche von F. H. Jacobi, G. W. F. Hegel und S. Kierkegaard, an die K. anknüpfen kann. Mit Blick auf christliche Traditionen könnte man nicht nur auf die durchaus ambivalente Beicht- und Bußpraxis (320 ff.), sondern auch noch auf die eschatologische Perspektive einer Allversöhnung zu sprechen kommen, die immer wieder von Einzelnen entwickelt worden ist und auch noch z. B. das Denken des in dieser Hinsicht gar nicht »gnadenlosen« Schelling prägt (181 ff.). Denn hier wird deutlich, dass die menschlich-moralische Praxis der Verzeihung einschließlich ihrer Grenzen des für uns Unverzeihlichen nochmals aufgehoben und getragen ist in einer religiösen Vorstellung von einer uns nicht möglichen, aber doch zumindest in unserem Handeln bei aller Abständigkeit gleichnishaft darstellbaren Versöhnung, die in Demut Liebe und Gerechtigkeit verbindet, um mit Blick auch wieder auf Kierkegaard zu sprechen (224). Die auf Jesus von Nazareth zurückzuführende Aufforderung, Buße ( metanoia) zu tun, weil das Himmelreich nahe herbeigekommen sei (Mk 1,15), aber auch der philosophische Appell zur Abkehr von den wesenlosen Schatten in der platonischen Höhle als Hinwendung zur lichten Wahrheit der Ideenwelt (periagoge), weist auf eine vielleicht spezifische Voraussetzung des Menschseins im Unterschied zu allem anderen Seienden als Voraussetzung für eine menschliche Praxis der Verzeihung hin. Diese besteht nämlich in der Möglichkeit, einen bereits eingeschlagenen Weg, der ins Heillose führt, zu überdenken und zum Wesentlichen umzukehren, Vergangenes in Reue zu verarbeiten und einen bereinigten Neuanfang zu wagen.
Für eine umfassende Theorie der verbalen wie nonverbalen, auch und gerade lautlosen und unauffälligen Verzeihung (91) sind aber nicht nur Anregungen und Vorarbeiten aus der Geschichte abendländischer Theologie und Philosophie zu bedenken, sondern auch Einsichten und Ergebnisse der Psychoanalyse und der Psychotherapie zu berücksichtigen. Solche nimmt K. im vergleichsweise kurzen 5. Kapitel seines Buches wenigstens ansatzweise auf (361–373), ebenso wie juristische Aspekte des Verzeihens im ab­schließenden Kapitel VI, das sich mit dem durchaus heiklen Thema »Gnade im Rechtsstaat« befasst (375–389), wobei die wenigen Überlegungen zur »Konkurrenz von kirchlichem und säkularen Recht« (386–389) – gemeint ist das römisch-katholische Kirchenrecht – wieder auf die eingangs erörterte Frage der gegenwärtigen Relevanz des Themas zurücklenken. Denn nicht zuletzt fordern be­kannt gewordene Fälle von sexuellem Missbrauch und Geldverschwendung nicht nur seitens politischer, sondern auch seitens kirchlicher Amts- und Funktionsträger dringend dazu auf, über Reichweite und Grenzen des Verzeihens für eine humane, sowohl moralisch als auch rechtlich geregelte Praxis des Miteinanders in unserer Gesellschaft nachzudenken und – nach K. noch wichtiger: Verzeihung zu leben.