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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1203–1204

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sass, Hartmut von [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wahrhaft Neues. Zu einer Grundfigur christlichen Glaubens.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 224 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 28. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03150-4.

Rezensent:

Doris Hiller

Noch nie dagewesen, alt bekannt, ambivalent und prekär – in diesem Spannungsfeld begrifflicher Analyse, hermeneutischer Klärung und theologischer Interpretation stehen die hier vereinten Aufsätze. Sie gehen auf Vorträge einer Tagung am Collegium Helveticum in Zürich zurück. Nachgegangen wird der biblischen Grundbewegung radikaler Veränderung. Angeregt wird ein Diskurs um Neues aufs Neue. Dies geschieht im Austausch von alttestamentlichen, neutestamentlichen, dogmatischen, religionsphilosophischen und praktisch-theologischen Impulsen zum Thema. Der Band reiht sich ein in das gewohnt anspruchsvolle Niveau der Zürcher fundamentaltheologisch-hermeneutischen Schule.
Die vom Herausgeber verfasste Einleitung bietet eine eigenständige Position zum Thema und eröffnet so den Diskurs. Im Feld der Bezugsgrößen des Wirklichen, des Möglichen, des Zeitlichen, des Sprachlichen und des Ereignishaften umreißt Hartmut von Sass den Fragenhorizont. In diese Perspektivkomplexität des grammatischen Bezugsfelds hinein spielen die vielschichtigen Übergänge von Alt und Neu. Im Ergebnis erweist sich Neues nicht als abstrakte Kategorie. Vielmehr nötigt die Mehrdimensionalität des Neuen dazu, das Bezugsfeld jeweils theologisch zu konkretisieren. Wahrhaft Neues ist konkret Neues. Dem entspricht ein theologischer Zugang, der im Neuen die »dogmatisch zugespitzte Fassung einer Grundfigur des christlichen Glaubens« (40) versteht. Inwiefern Glaube und Theologie nicht ohne das wahrhaft Neue auskommen können, erläutern die weiteren Beiträge in der geforderten Konkretion des Komplexen.
Konrad Schmid stellt dem Neuen die Antithese des Kohelet entgegen. Nichts Neues unter der Sonne und doch bleibt die Hoffnung in exilisch-nachexilischer Zeit nicht nur auf einen neuen Exodus, sondern auf eine neue Schöpfung. Die prophetische Kategorie des Neuen und die weisheitliche Replik erinnern im Alten an Gottes schöpferisches, d. h. erneuerndes Handeln. Die Durchsetzung des göttlichen Heilswillens bricht die Depression des Alten auf, insofern die »exklusive Kreativität des Neuen« (60) alles bisher Dagewesene überbietet.
Hans Weder bedenkt das Neue aus neutestamentlicher Perspektive und sucht darin die Würde des Alten zu wahren. Dem Alten verdankt das Neue seine Bezeugung und befördert jene neue Erkenntnis, wonach der Mensch in der »kreativen Energie Gottes« (83) als neue Kreatur wahrnehmbar wird. Die Umkehr alter Denkmuster zeigt sich auch im johanneischen Neuverstehen der Gebote. Chris­tologisch qualifiziert sind sie als Orientierung am Gegebensein des Lebens in der Realität göttlicher Liebe. Die kreative Attraktivität des Neuen ist es schließlich, die sich im MkEv mit dem Thema der Nachfolge als Offenheit für das Kommende verbindet.
Die anthropologischen Konsequenzen in der Rede vom wirklich neuen Menschen kommentiert Andrea Anker im Anschluss an Karl Barth. Das in Christus zentrierte Ja Gottes zum Menschen, das in seinem Schöpfungs- und Versöhnungshandeln Gestalt gewinnt, nötigt zur Abgrenzung vom Mythos des neuen Menschen. In Chris­tus ist der neue Mensch als wahrer Mensch wirklich. Anthropologisch wirksam ist diese Wirklichkeit im Stellvertretungsmotiv, das Barth anders als Hegel und auch anders als – für Barths Denken ebenfalls nicht ohne Einfluss – Charlotte von Kirschbaum exklusiv nicht als Freihalten, sondern als Schaffen von Lebensmöglichkeit versteht.
Die Forderung Paul Tillichs nach einer Philosophie des Neuen wird von Christian Danz reflektiert. Er arbeitet das Neue als Schlüsselbegriff im Werk Tillichs heraus bezogen auf dessen Christologie und Eschatologie und verbunden mit einer Bestimmung des Ge­schichtsbegriffs vom Neuen her. Das wahrhaft Neue zeigt sich als sinntheoretische Erfüllungskategorie. Allerdings ermöglichen nur die »sinnsetzenden Akte des Geistes« (146) ein Verständnis vom Neuen, das nicht bereits das Alternde in sich trägt. Darin realisiert sich die christologisch bestimmte »Durchbrechung des Seienden zum Sinn« (147).
Inwiefern sich ein schöpfungstheologisches Verständnis des Neuen mit einem theologischen Naturalismus auseinanderzusetzen hat, kommentiert Günter Thomas. In einer Religion der Lebensbegleitung als einer Reduktionsgestalt des Christentums ist die eschatologisch-soteriologische Grundfigur des radikalen und wahrhaft Neuen ausgeklammert. Insofern jenen religiösen Strömungen das Neue nur als Transformation zur Vollendung zugänglich scheint, bietet sich ein Gespräch mit dem amerikanischen Theologen Arthur Peacocke und seinem evolutionistisch-naturalistischen Ansatz an. Im Ergebnis allerdings kehrt Thomas zu den biblischen Impulsen zurück, denn »die in der Auferweckung Jesu Christi angezeigte und von Paulus erhoffte Überwindung des Todes überschreitet den Möglichkeitsraum des emergent Neuen« (182). Aufgabe der Theologie bleibt es deshalb, im Festhalten am radikal Neuen ein schöpferisches Entwicklungsdenken zu irritieren.
Dem Praktischen Theologen Ralph Kunz bleibt die Aufgabe, eine homiletische Orientierung zu bieten, damit dem Originellen und Radikalen des Neuen in der Predigtsprache Aktualität zukommt. Predigen versteht sich als ein Geschehen, das nicht das Bisherige einfach neu im Licht eines biblischen Textes interpretiert, sondern in der Eigenbewegung eines biblischen Textes das unerhört und unsagbar Neue des Evangeliums verstehbar macht. Nicht im kreativen Erzeugen, sondern im Bezeugen des göttlich Kreativen spielt Predigt dieses Neue in die Wirklichkeit des Alten ein.
Der Band zeigt die fundamentaltheologische Weite der Kategorie des Neuen und fordert zu materialtheologischer Konkretion heraus. Benannt ist aber auch die Gefahr einer Ideologisierung des Neuen, z. B. in totalitären Vorstellungen vom neuen Menschen. Ein ethischer Beitrag hätte hier die Diskussion bereichern können. Insgesamt aber ist es dem Thema zu wünschen, dass die Beiträge einer vergangenen Tagung gegenwärtig aufs Neue und auf Neues hin diskutiert werden.