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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1192–1194

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lang, Stefan, u. Lars-Thade Ulrichs[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. X, 406 S. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-026100-4.

Rezensent:

Roberto Vinco

Der von Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs anlässlich des 65. Ge­burtstags von Jürgen Stolzenberg herausgegebene Sammelband stellt einen Beitrag zum Thema »praktische Subjektivität« im Kontext der klassischen deutschen Philosophie dar. Wie der Titel ankündigt, gibt die Relation zwischen Subjektivität und Autonomie die Grundrichtung der Untersuchung an. Diese Relation verweist aber (und damit lässt sich auch der Untertitel erklären) auf den Selbstverhältnischarakter des Subjektes. Denn ein Subjekt ist, dem Wortsinn entsprechend, deshalb auto-nom, weil es sich selbst nach seinen eigenen Gesetzen bestimmt.
Nach einer Einführung der Herausgeber in das Grundthema beginnt die Reihe der Aufsätze mit einem Beitrag von Konrad Cramer, der den Titel »Das philosophische Interesse an der Geschichte der Philosophie« trägt. Eine solche Ouvertüre mag zunächst überraschen, denn hier wird eine Thematik angesprochen, die mit dem Anliegen des Bandes nichts zu tun zu haben scheint. Die Wahl dieses Anfangsaufsatzes (übrigens einer der ergiebigsten des Bandes) ist aber nicht zufällig und durchaus opportun. Hier wird nämlich eine Grundperspektive des Buches zum Ausdruck gebracht: die These, dass die Geschichte der Philosophie nicht nur eine dokumentarische und philologische, sondern auch eine systematische Relevanz besitzt. Der Band versteht sich somit, auch dank seiner historisch geprägten Aufsätze, als ein philosophischer Beitrag zur Thematik der praktischen Subjektivität und der praktischen Philosophie im Allgemeinen.
Die darauf folgenden Aufsätze sind gemäß ihren historischen Bezugspunkten lose chronologisch angeordnet und setzen sich mit Themen einesteils der kantischen, andernteils der nachkantischen Philosophie auseinander. Innerhalb dieses zweiten Teils werden, wiederum in chronologischer Ordnung, zunächst Themen und Autoren der unmittelbar nachkantischen Philosophie (vor allem idealistischer Prägung) behandelt und abschließend einige Motive von Hauptgestalten der späteren klassischen deutschen Philosophie vorgestellt. Der Band endet mit einer Coda von Volker Gerhardt, die, ähnlich wie beim Anfangsaufsatz, einer allgemeineren Thematik gewidmet ist, hier dem Verhältnis von Freiheit und Leben.
Im ersten, kantischen Teil kommt der systematische Ansatz des Bandes am stärksten zum Ausdruck. Neben Aufsätzen, die zentrale Begriffe der kantischen Perspektive (wie Selbstbewusstsein oder sittliches Gemeinwesen) explizieren, und Aufsätzen, die die Relation zwischen Kant und seinen Vorgängern sowie die Auswirkung der Ideen und Probleme der Philosophie Kants auf seine Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger ausloten, finden wir auch eine Gruppe von Beiträgen, welche die Relevanz des kantischen Ansatzes im Kontext der neueren Debatten über Menschenrechte sowie über theoretische und praktische Autonomie hervorheben.
Der Beitrag von Birgit Sandkaulen markiert die Schnittstelle zwischen dem ersten Teil des Bandes und dem zweiten, der sich direkt mit der nachkantischen Philosophie befasst. Hier sind die Aufsätze durch einen stärker exegetisch-interpretierenden Charakter gekennzeichnet. Das heißt aber nicht, dass das sachliche Interesse dabei verloren ginge. Klassische deutsche Autoren werden nämlich (vor allem in den Aufsätzen zu den unmittelbaren Nachfolgern Kants) stets auf der Basis von allgemeineren Themen und Problemen (Würde, Anerkennung etc.) untersucht und oft mit den Perspektiven anderer Philosophen (Spinoza, Rousseau etc.) verglichen. Ein gutes und interessantes Beispiel ist in diesem Sinne der Beitrag von Günter Zöller, der die strukturelle Verwandtschaft zwischen der Philosophie Spinozas und Fichtes (vor allem in Bezug auf die Strebens-, Trieb- und Affektenlehre) nachzeichnet.
Der den Band abschließende Aufsatz von Volker Gerhardt thematisiert nicht nur eines der für diesen Sammelband zentralen Themen, nämlich die Freiheit, sondern fungiert auch als eine ab­schließende systematisierende Zusammenfassung wichtiger Begriffe. Gerhardt plädiert nämlich für eine Konzeption der Freiheit als Selbstorganisation nach eigenen Gesetzen und zeigt, wie diese Konzeption an eine soziale Dimension gebunden sei und wie sie sich schon durch das Phänomen des Lebens in der Natur keimhaft manifestiere.
Zum Schluss zwei kurze Bemerkungen allgemeiner Natur: Die Beiträge des Bandes bewegen sich im Rahmen der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Cassirer. Die in diesem Band vermittelte Grundkonzeption dieser weitgespannten Epoche des Denkens zeigt eine starke Orientierung an Kant. Nicht nur befasst sich fast die Hälfte der Aufsätze direkt oder indirekt mit Kant oder kantischen Themen, sondern andere Philosophen und Theorieangebote werden oft, sei es im Sinne einer Fortsetzung oder einer Absetzung, als eine Art »Reaktion« auf die kantische Philosophie interpretiert. Diese Herangehensweise hat zwar den Vorteil, den Eindruck einer gewissen strukturellen Einheit der deutschen Philosophie zu vermitteln, läuft aber Gefahr, ein wenig einseitig zu sein. Denn einerseits bleiben auch große Vertreter der klassischen deutschen Tradition etwas am Rande (Hegel z. B. ist nur in einem Aufsatz wirklich prominent). Andererseits werden andere Quellen, die diese Tradition geprägt haben (man denke z. B. an die Wichtigkeit der klassischen griechischen Tradition für Hegel und Heidegger), wenig thematisiert.
Das zentrale Thema dieses Buches ist, wie schon erwähnt, die Beziehung zwischen Subjektivität und Autonomie. Diese Thematik wird nun nicht nur mit anderen Motiven der praktischen Philosophie, sondern auch mit verschiedenen Aspekten der theoretischen Philosophie in Verbindung gebracht. Das macht sicherlich die Zentralität dieses Themas deutlich und ist ein weiteres Zeichen für den genuin philosophischen Charakter vieler Aufsätze. Manchmal bleibt aber die Rückbindung einiger behandelter Motive an das Grundthema implizit, und dies beeinträchtigt ein wenig die inhaltliche Kontinuität.
Der Band bietet insgesamt eine lesenswerte Lektüre, weil er die Lebendigkeit der klassischen deutschen Philosophie und gleichzeitig – und das ist auch ein bedeutsames Merkmal dieser Tradition – das fruchtbare Wechselspiel zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte aufzeigt.