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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1188–1191

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jaeschke, Walter, u. Andreas Arndt

Titel/Untertitel:

Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. 1785–1845.

Verlag:

München: Beck 2012. 749 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-406-63046-0.

Rezensent:

Jure Zovko

Dieses systematische Werk gibt einen reichhaltigen, sachlichen Überblick über die Erträge und Errungenschaften der nachkantischen Philosophie, die mit der Dichte und dem Reichtum der klassischen athenischen Philosophie vergleichbar ist. Die Komplexität der Texte wird durch die genetische Erklärung der Gedankenentwicklung verdeutlicht. Beachtenswert ist, dass zum ersten Mal als integrativer Bestandteil der klassischen deutschen Philosophie auch die Vertreter der Jenaer Frühromantik (Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Friedrich D. E. Schleiermacher) zugeordnet wurden. Die Autoren Walter Jaeschke und Andreas Arndt beginnen ihr Opus magnum mit der Analyse der Rezeption und Transformation der Kantischen Transzendentalphilosophie, aber verfolgen auch die unterirdische Strömung der Rezeption von Spinozas Lehre im damaligen philosophischen Diskurs (F. H. Jacobi, Schelling, F. Schlegel). Im zweiten Teil des Buches werden als chthonische Mächte unterschiedliche Formen der Sehnsucht nach der positiven Philosophie namentlich bei F. Schlegel und Schelling ergründet, die sensu stricto wesentlich zur Aufhebung der Vernunftphilosophie beigetragen hat. Leider wird ein in diesem Zusammenhang sehr wichtiger romantischer Philosoph, Franz von Baader, der mit seiner Idee der positiven Philosophie F. Schlegel und Schelling enorm beeinflusst hat, in diesem Buch nicht thematisiert.
Das Werk bietet auch einen Aufschluss über die Bedeutung der wichtigsten Philosopheme der klassischen deutschen Philosophie, wie beispielsweise Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Subjektivität, Dialektik, Anerkennung, Ironie, Hermeneutik, und macht ihren geschichtlichen Kontext plausibel. Am Fall der Dialektik wird exemplifiziert, wie ein Philosophem, das bei Kant eklatant dubiose Bedeutung hat, zum Zentral- und Schlüsselbegriff der Hegelschen spekulativen Philosophie bzw. zum Leitmotiv der hermeneu-tischen Kritik (F. Schlegel) transformiert werden kann. Ähnliches passiert mit der Neubewertung vom Begriff »Geist« in Hegels Philosophie. Beachtlich ist, dass die Verfasser das gewöhnlich ge­bräuchliche, missverständliche Syntagma »Deutscher Idealismus« bewusst gemieden haben, weil damit mehr Verwirrung gestiftet als Klärung gebracht wird. Hegels Denken ist beispielweise angemessener als ein ontologischer bzw. epistemologischer Realismus zu beurteilen als irgendein Idealismus, weil die Existenz einer vom Bewusstsein unabhängigen Welt die Voraussetzung dafür ist, dass diese zum Bewusstseinsinhalt werden kann.
Die postkantische deutsche Philosophie stand im Zeichen einer offensichtlichen Präponderanz des Allgemeinen und Notwendigen über das Besondere und Zufällige, bzw. der Identität über die Differenz. Gleichzeitig kann man bei den Frühromantikern eine His­torisierung und Detranszendentalisierung des Kantischen Subjekts und des Fichteschen absoluten Ichs verfolgen, die freilich durch ein empirisches Bewusstsein ersetzt werden, welches in der Welt als eine Entität unter vielen auftritt. Fichtes praktische Philosophie hat das Kernthema der postkantischen Philosophie zur Kontroverse gebracht, wie nämlich die geschichtliche Welt unter Bedingungen der verbindlichen Vernunft zu deuten ist, vor allem, weil das transzendentale Ich seit Kant auch als ein autonom handelndes Subjekt gedacht wird. In der 1796 veröffentlichten Schrift Grundlage des Naturrechtes nach Principien der Wissenschaftslehre sprengt Fichte den monologischen Rahmen seiner früheren Wissenschaftslehre und vollzieht somit eine Wende zur Intersubjektivität. Es wird dabei nachgewiesen, dass das Selbstbewusstsein nun vom »äußeren Anstoß« abhängt, welcher wiederum als empirischer Kommunikationsakt verstanden wird. Fichtes Wende von der traditionellen Ontologie zur Subjektivität ermöglicht auch das Verhältnis zwischen der theoretischen Reflexion und der konkreten Lebenspraxis tiefgründiger zu erfassen. Im gewissen Sinne wiederholt er den Platonischen Schritt der Flucht in die Logoi, wodurch die Einheit des Begriffs als Bedingung für die Erfassung der Einheit der Physis gedacht wird.
F. Schlegel hat im ersten Band der Zeitschrift Europa die neuere deutsche Philosophie »als die wesentliche Bedingung sine qua non, als Erhaltungsmittel und Grundlage unserer neuen Literatur« gedeutet (KFSA 3, 7). Mit der lobenden Anerkennung der neuen kritischen Philosophie wird bei den Frühromantikern zugleich das Verlangen nach der emendierenden Vervollständigung derselben geäußert, weil ohne die gründliche Transformation des Kantisch-Fichteschen Konzepts der abstrakten Reflexion die Philosophie ihre endgültige Aufgabe nicht bewältigen kann: das Leben selbst in seiner Ursprünglichkeit, Kreativität und der vielfältigen Deutungsmöglichkeit zu ergründen (242 f.). Anderseits hat auch Fichte gehofft, dass es ihm gelungen ist, den Menschen von den »Fesseln der Dinge« zu befreien und durch seine Wissenschaftslehre »ein System der Freiheit« auszuarbeiten, wie er im Brief an den Dichter Jens Baggesen im April 1795 geschrieben hat (34). Schlegels Einwand unmittelbar nach Veröffentlichung der Wissenschaftslehre, dass man in ihr außer den abgeleiteten, logischen Prinzipien ebenfalls »Gesellschaft, Bildung, Witz, Kunst usw.« (KFSA 18, 32 f., Nr. 143) deduzieren müsste, blieb ausschlaggebend bis zum Ausklang der Epoche der deutschen klassischen Philosophie. Im Unterschied zu seinen frühromantischen Kritikern hat Fichte bei der Explikation der Realisierung der Freiheit in der Sphäre der Endlichkeit nicht den transzendentalen Stand- und Ausgangspunkt seines Philosophierens preisgegeben.
Auch Schelling hat sich bemüht, Fichtes »bloße Reflexion« vom Standpunkt der Produktion aus zu transformieren und ihr eine Identitätsphilosophie entgegenzusetzen, die eine Gleichsetzung von Geist und Natur, Subjekt und Objekt voraussetzt. Die Metamorphosen der Identitätsphilosophie und ihre Abgrenzung zu Hegel werden ausführlich recherchiert (362–402). Es bleibt nämlich umstritten, wie der Denkweg zum »absoluten Indifferenzpunkt«, der gedachten Einheit von Subjekt und Objekt, zu finden ist. Hegel hat bekanntlich in der Phänomenologie des Geistes das durch die intellektuelle Anschauung erfasste Absolute metaphorisch als Nacht, in der »alle Kühe schwarz« sind, charakterisiert. Schelling neigt seit der Würzburger Zeit, die zerbrochene Einheit von Vernunft und Glauben zur Sprache zu bringen und Philosophie aus dem »Princip des Sündenfalls« zu derivieren, wodurch ein wesentlicher Schritt auf seinem Wege »zur Scheidung von negativer und positiver Philosophie vollzogen« ist (485). In diesem Sinne entfaltet Schelling im Unterschied zum bloß formellen Begriff der Freiheit seiner Vorgänger einen lebendigen Begriff derselben, die nämlich als ein »Vermögen des Guten und des Bösen« bestimmt wird.
Hegel wird mit Recht als der ergiebigste und konsequenteste Denker der postkantischen Philosophie gewürdigt (547–689). Seine rasche Distanzierung von Schellings »Potenzenlehre« und die Ausarbeitung der Geistesphilosophie in den Jenaer Systementwürfen sind die wichtigsten Schritte auf dem Wege der Ausarbeitung des eigenen Systems. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass sich Hegel zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie in einer ähnlichen Lage hinsichtlich der Desavouierung der Vernunfterkenntnis und der rationalen Argumentation befand, wie wir heute in der Zeit der Postmoderne unter dem Druck der Rationalitäts-Kritik stehen. Hegels durchaus berechtigte Kritik der Insularität des Individuums, es sei »die ärmste Gestalt des sich verwirklichenden Geistes«, hat ihm ein Stigma der Präponderanz des Allgemeinen und Notwendigen bzw. der Perhorreszenz vom Besonderen auferlegt. Hegels Intention war aufzuzeigen, dass sich die Philosophie mit den verfehlten Formen und der »Ueberzeugung des Zeitalters« kritisch auseinandersetzen muss, den Standpunkt des »natürlichen Bewusstseins« der Verzweiflung aufzugeben und einen anstrengenden Weg der Bildung zur Wissenschaft im Prozess des Bewusstseins zu vollziehen. Eine der wichtigsten Errungenschaften Hegels i st sein Gedanke der »konkreten Allgemeinheit«, die in den verschiedenen Urteilsformen hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit ge­prüft wird (614).
Wenn Gedanken des Sterblichen in das Absolute münden, befinden wir uns vor dem Änigma, wie ein bewusstes Leben aus der Perspektive des Absoluten zu deuten und zu führen ist. Hegels Definition des Absoluten aus der Enzyklopädie (§ 384) bringt einen Triumph des absoluten Selbstbewusstseins über das endliche Selbstbewusstsein: »Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie; auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen«.
Eine der wichtigsten Errungenschaften Hegels besteht offensichtlich in der Einsicht, dass der Mensch als Subjekt nicht im Kontext der abstrakt proklamierten Rechte, sondern im Rahmen der konkreten Institutionen existiert, innerhalb derer er seine Freiheit realisieren soll. Staat und Gesellschaft sind nach Hegels Urteil das System der Sittlichkeit, in welchem ein Subjekt »sein Selbstgefühl hat und darin als seinem von sich ununterschiedenen Element lebt« (WW 7,295).
Hegel hat die Aufgabe der Philosophie darin gesehen, das »Licht« des »Selbstbewusstseins« aufzubewahren, weil die Theorie der Subjektivität bzw. des Selbstbewusstseins die einzige Theorie ist, die dem Menschen eminente Würde verleiht und ihn nicht zum bloßen Objekt der Analyse reduziert. Im Gegenteil könnte man das Schicksal der nachkantischen Philosophie mit der »persönlichen Tragik des späten Schelling« (742) vergleichen, dass er nämlich im Vormärz in seiner »Philosophie der Offenbarung« der Vernunftphilosophie eine »positive Philosophie« entgegensetzt, die noch immer zum primären Gegenstand der Untersuchung die Freiheit Gottes und nicht die des Menschen genommen hat.
Dieses wertvolle Buch ist jedem, der an der deutschen Geistes- und Philosophiegeschichte interessiert ist, zu empfehlen.