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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1176–1179

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Frymire, John M.

Titel/Untertitel:

The Primacy of the Postils. Catholics, Protes­tants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2010. XIII, 641 S. = Studies in Medieval and Reformation Traditions, 147. Geb. EUR 140,00. ISBN 978-90-04-18036-9.

Rezensent:

Markus Wriedt

Dass die protestantischen Kirchen als Kirche des Wortes und die katholischen Schwesterkirchen als Kirche des Sakraments charakterisiert werden, gehört zu den verkürzenden, gleichwohl von allen Seiten immer wieder gern gewählten Etikettierungen der konfessionellen Differenz. So viel Richtiges sich hinter diesem Klischee verbirgt, so viele Möglichkeiten zur Fehldeutung sind vorhanden. Ebendies macht eine konfessionelle, gleichwohl angemessene Un­terscheidung notwendig, zugleich aber auch problematisch. Wenn das Buch von John M. Frymire also mit der ebenso vordergründigen wie häufig verwendeten Formel der Postillen als lutherischer oder weiter gefasst evangelischer Ausdrucksform kritisch umgeht, so ist dahinter ein kontroverstheologisches Motiv zu vermuten, was im weiteren Verlauf der Darlegung immer wieder aufscheint, allerdings an keiner Stelle offengelegt wird.
F. schreibt flott und zuweilen mitreißend u. a. zahlreiche Verkürzungen der Charakterisierung des bekannten Kontroverstheologen und Luthergegners Johann Eck aus Ingolstadt zusammen, die sich leicht widerlegen lassen bzw. auf Forschungsdesiderata abheben. Dennoch bleibt das ungute Gefühl bei der Lektüre zu­rück, dass damit doch ein Bild der Forschung umrissen wird, das auf verkürzten Aussagen, Fehlstellen und Ähnlichem aufbaut und nicht die insbesondere im Blick auf Eck doch erheblichen Fortschritte aufweisen kann. So taucht weder die Verbindung Ecks zum Bibelhumanismus seiner Zeit auf noch wird auf gemeinsame An­liegen Luthers und Ecks Bezug genommen, die Letzteren doch sehr intensiv um die Freundschaft des Wittenbergers haben buhlen lassen. Die brüske Ablehnung Luthers dieser Avancen gegenüber Eck haben sicherlich auch dessen Zorn und Ton der antilutherischen Pamphlete genährt.
Das Buch gibt vor, sich auf die katholische Postillenproduktion zu konzentrieren (3). Dieser Ansatz ist neu und innovativ, denn in der Tat liegen dazu bisher keine Untersuchungen vor. Dass damit das Bild der Vorherrschaft evangelischer Postillen korrigiert wird, ist freilich ein Nebeneffekt und kaum der gesamte Ertrag der gewichtigen und umfangreichen Studie. Vielmehr ist zu loben, dass hier erstmalig die reiche und vielfältige Produktion seit den frühen 20er Jahren des 16. Jh.s bis weit ins 17. Jh. hinein dokumentiert wird. Bemerkenswert ist allerdings, dass die meisten Kapitel dann doch mit den protestantischen, zumeist lutherischen Vorlagen beginnen, auf die römische Autoren reagieren.
Die Abhandlung ist in sechs Kapitel und dabei zunächst chronologisch gegliedert. F. untergliedert die Postillenrecherche der ersten drei Kapitel in die zeitlichen Abschnitte: 1520–1535; 1535–1555 und 1555–1620. Drei weitere Kapitel und ein Exkurs erläutern sodann das Phänomen calvinistischer Postillen, die Auswirkungen des Trienter Konzils und die Bedeutung der konfessionellen Zensur.
Die Zeiteinteilung ist zumindest fragwürdig: Während der terminus post quam der ersten Zäsur Bemühungen zu Beginn der 20er Jahre des 16. Jh.s ohne größere theoretische Anstrengungen gewählt wird und letztlich evident erscheint, sind die anderen Zeitabschnitte nicht so eindeutig zu bestimmen. F. thematisiert diese Problematik und sieht ab 1535 durch das Aufkommen von Predigtprodukten weiterer Anhänger der Reformation den Zwang zur methodischen und literarischen Konsolidierung auf katholischer Seite, die sich in einer neuen, anderen Qualität der Postillenproduktion bis ca. 1555 niederschlägt (75).
Als Beispiel dieser Entwicklungen wird Antonius Corvinus benannt und die Problematik, dass Luthers Postillen seinem eigenen Maßstab nicht gerecht werden. »Despite their continued success on the market, many of his sermons were simply too long to be read aloud. Their length required ordinary preachers to invest consider-able time and effort when using them to compose sermons. Length also contributed to expense, and many ministers could not afford complete sets of Luther’s Church Postils, perhaps the reason that Corvin’s title indicated that his postils were intended for ›impov-erished pastors and housefathers‹.« (76) Die Logik dieser Argumenta-tion ist bemerkenswert: Auf der einen Seite wird ein durchaus ökonomischer Erfolg den Postillen Luthers attestiert, andererseits er­weisen sie sich als unbrauchbar ihrer Länge und ihrer Kosten wegen. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Wohl nur durch eine sorgfältige Analyse von Drucken, ihren Auflagen- und Verkaufszahlen sowie einer sozial-historisch nachvollziehbaren Überprüfung des Corvin-Argumentes. Dass sich diese möglicherweise schlicht dem Vermarktungsinteresse des eigenen Produkts verdanken, wird nicht thematisiert. Es sind derartige Verkürzungen und Verknappungen, welche die Lektüre des Buches zuweilen unerquicklich machen.
Auch der dritte Abschnitt der phasenhaft aufgefassten Entwicklung der Postillen ist unklar bestimmt. Das Jahr 1555 als Zeitpunkt des Augsburgischen (vorläufigen) Religionsfriedens lässt vermuten, dass sich hier eine Änderung der konfessionellen Identitätsbemühungen abzeichnet. Die Hoffnung trügt allerdings, denn die homiletischen Entwicklungen und Veränderungen der Predigt »did not effectively alter preaching on a wide scale until well after 1600« (157). Was hat sich dann geändert? Nur die Generationenfolge und mit ihr die Produktion weiterer Postillen? Die Kapitelüberschrift macht deutlich, dass die Postillen im Kontext der Konfessionalisierungsbemühungen der territorialen Obrigkeiten erfolgten. Erneut wird der Fokus aber zunächst auf die lutherische Entwicklung gelegt, welche klar die Entwicklung einer konfessionellen Frühorthodoxie erkennen lässt. Diese erkennt ihre Gegner freilich sehr viel häufiger in den innerprotestantischen Dissidenten und heterodoxen Entwicklungen als im römischen Katholizismus, der sich mit den Entscheidungen des Konzils von Trient nunmehr eine den aktuellen Herausforderungen entgegenwirkende Lehrgrundlage gegeben hat. Darauf konzentrieren sich die abschließenden Kapitel 5 und 6, denen allerdings noch ein knapper Exkurs über calvinistische Postillen vorgeschoben wird. Darin kommt F. zu dem Ergebnis, dass die reformierte Postillenproduktion gemessen an der lutherischen deutlich zurücklag. Insbesondere Luthers Rückbesinnung auf die Perikopentradition machte es schwierig, hier eine an der lectio continua orientierte Alternative aufzuweisen.
Für die katholische Postillenliteratur stellt das Jahr 1563 mit dem Abschluss des Tridentinums kaum den entscheidenden Einschnitt dar. Die entscheidenden Passagen zur Reform der katholischen Predigt waren bereits 1546 vereinbart und festgeschrieben worden. Dennoch widmet sich F. der nachtridentinischen Predigtliteratur und stellt den Hauptdruck- und wohl auch Verbreitungsort katholischer Postillen in Bayern fest. Ausnahmen wie Schöpper in Dortmund, Buchinger im Elsass und Craendonch in Mainz ändern an dieser prinzipiellen Feststellung nichts. Die vor allem von Petrus Canisius nachhaltig beeinflusste Durchsetzung tridentinischer Reformen ist hierfür durchaus als wegweisend und einflussreich festzuhalten. Dass dennoch katholische Obrigkeiten, nicht selten in enger Verbundenheit mit dem Jesuitenorden, durch Zensurmaßnahmen entscheidend zur konfessionellen Konsolidierung beitrugen, behandelt das letzte, sechste Kapitel. Seit Mitte der 40er Jahre des 16. Jh.s im Reich vor allem im akademischen Raum tätig, entwickeln die Mitglieder der Gesellschaft Jesu eine höchst effektive Betriebsamkeit zur Durchsetzung der tridentinischen Beschlüsse. Während die Zensur mit mehr oder minder großem Erfolg konfessionelle Homogenität durchzusetzen versuchte, waren andere Maßnahmen sehr viel erfolgreicher.
F. diskutiert nicht die seit Mitte des letzten Jahrzehnts verstärkt diskutierten »Grenzen der Konfessionalisierung«, die ebenjene Effekte stärker in den Blick nehmen, welche zur Ausprägung konfessionell identischer Kulturen beitrug, die durch das pragmatische Miteinander mit konfessionell differenten Mitgliedern der Gesellschaft geprägt sind. Dass in diesen Kontexten aus akademischer Sicht die mehr oder minder geistlose Repetition von Postillentexten als »Postillenreiterei« diffamiert wird, schwingt zusammen mit wachsenden Entfremdungen von lehrhaften, orthodoxen Predigten, welche die Lebenswirklichkeit der Menschen zugunsten einer orthodoxen Rechtgläubigkeit vernachlässigten. Letztlich ist dieses Phänomen nicht einer Konfession exklusiv zuzurechnen, sondern mehr oder minder in beiden einander widerstreitenden G ruppen nachzuweisen. Die Denunziation der Postillentreue, wenn nicht gar -abhängigkeit, stellt zugleich ein wesentliches Indiz für den wachsenden Bedeutungswandel der sonntäglichen Predigt dar: Weniger die Ausbreitung orthodoxer Lehrinhalte als vielmehr eine an den Bedürfnissen der Alltagsbewältigung orientierte Handlungspragmatik ist gefordert. Die Postille als kontroverstheologisches Diskursmedium hat ausgedient und wird damit zunehmend in ihrer Bedeutung zurück gedrängt.
Damit wird allerdings auch sichtbar, dass die thematische Engführung, nämlich auf das Verständnis der Postillen als eines kontroverstheologischen Mediums, letztlich der intensiven und weitverbreiteten Produktion derartiger Predigthilfen nicht gerecht wird. Trotz des Bedeutungswandels sind sie auch im 17. Jh. eine wichtige Quelle zur zeitgemäßen Lebens- und Handlungsorientierung. Erst mit dem letzten Drittel des 17. Jh.s tritt neben die ethisch-moralische Funktion der Predigt die erbauliche Dimension, die hinter der orthodoxen Lehr- und der konfessionellen Moralpredigt völlig zu verschwinden drohte. Leider unterlässt es F., die in den Postillen der verschiedenen Zeitabschnitte enthal-tenen homiletischen, rhetorischen und weiteren Stilmittel zu thematisieren. So wird die Chance vertan, die konfessionelle Identität der Autoren gerade auch im Bereich der artes liberales oder anderer, vorzugsweise dann späthumanistischer Formgebungen zu rekonstruieren.
Weiterhin ist bemerkenswert, dass die Bedeutung der Postillen für das theoretische Konzept der Konfessionalisierung nicht weiter aufgegriffen wird. Im Index finden sich zwar einige Belege für die Verwendung des Begriffs, davon aber in der Hälfte in Anmerkungen und in der Zitation von Referenzwerken. F. zieht stattdessen die ältere Terminologie – und Methode – von katholischer Reform und Gegenreformation vor, thematisiert deren theoretischen Gehalt freilich nicht. Damit verfehlt die ambitionierte Zusammenstellung des reichen Materials eine gravierende Dimension der gerade im Abklingen befindlichen intensiven Theoriediskussion um das Konzept der Konfessionalisierung ebenso wie auf Weiterungen im Blick auf die Entstehung von Konfessionskulturen und konfessionell geprägten Landschaften.
Die eigentliche Untersuchung schließt auf S. 444. Dem Textcorpus folgen sodann knapp 200 Seiten mit Anhängen und Tabellen, zunächst eine Tabelle aller erfassten Postillen zwischen 1520 und 1624 in chronologischer Abfolge. Ein zweiter Appendix erfasst sodann diese Postillen in alphabetischer Reihenfolge der Autorenangaben. Diese werden in den Anmerkungen durch knappe Personenangaben und bibliographische Daten ergänzt. Ein addendum annotiert die lutherischen Postillen, die Hans-Christoph Rublack 1992 in einem Aufsatz anlässlich des ersten Kolloquiums des Vereins für Reformationsgeschichte zum Konzept der Konfessionalisierung zusammengestellt hatte. Ein dritter Anhang fasst die katholischen Postillen zusammen, die zwischen 1525 und 1620 erschienen sind. Die da zusammengeführten Referenzen der Epoche sowie ihre Verortung innerhalb oder außerhalb des Heiligen Römischen Reiches sind in ihrer Auswertungsfunktion nicht recht erklärt. Ein vierter Anhang stellt die verschiedenen Auflagen und Herausgaben der Luther-Postillen zusammen. Drei Tabellen zur Druckaktivität und zum Verbreitungsgrad schließen diese Anhänge ab. Das Literaturverzeichnis umfasst knapp 70 Seiten in kleiner Type und enthält im ersten Teil (bis 610) zahlreiche Originalquellen.
Die Studie stellt eine ungeheure Fleißleistung dar: Zum ersten Mal wurde eine große Anzahl konfessionell divergenter Postillen bibliographisch erfasst und in einem interpretierenden Zugriff bewertet. Dass dieser noch erweiterungsfähig ist und möglicherweise nicht den letzten Stand der Konfessionalisierungsforschung wiedergibt, ist angesichts der bibliographischen Recherche verzeihbar. Kaum jemand, der sich mit konfessioneller Theologie in der Predigt beschäftigt, wird an diesem Buch vorbeischauen dürfen. Darin liegt allerdings eine große Gefahr: Zweifellos hat das Werk die Potenz zum Standardwerk. Umso mehr ist vor den wertenden und zeitweilig recht verkürzten Deutungen und der hinter ihnen verborgenen »hidden agenda« eines repristinierten Konfes-sionsgegensatzes und seiner reformationshistoriographischen Re­konstruktion aus den 1960er und 1970er Jahren zu warnen. Dies pointierte Urteil mag jeder entschärfen, der sich durch die mehr als 600 Seiten dieses opus magnum gearbeitet hat. Das sei allen reformationshistorisch und theologiegeschichtlich interessierten Forscherinnen und Forschern gleichwohl wärmstens empfohlen.