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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1165–1168

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kahleyß, Julia

Titel/Untertitel:

Die Bürger von Zwickau und ihre Kirche. Kirchliche Institutionen und städtische Frömmigkeit im späten Mittelalter.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013. 712 S. m. Abb. = Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 45. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-86583-552-9.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Nach der Untersuchung von Christian Speer über »Frömmigkeit und Politik. Städtische Eliten in Görlitz zwischen 1300 und 1550« (Berlin 2011) liegt nun eine ebenfalls an den Quellen orientierte Darstellung des reichlich halb so großen Zwickau vor, das aber für das ernestinische Kurfürstentum in diesem Zeitraum von entscheidender Bedeutung war. Durch die Quellenlage bedingt, richtete Speer sein Interesse vor allem auf die Frömmigkeitspraxis der städtischen Eliten. Für Zwickau stand Julia Kahleyß für ihre Dissertation bei Enno Bünz dagegen eine breite Quellenüberlieferung über eine relativ einfache Kirchenstruktur zur Verfügung. Wie im Untertitel angegeben, konzentriert sie sich auf die institutionellen Aspekte. Arnd Reitemeier, der auch das Zweitgutachten übernommen hat, hatte 2005 mit seiner Arbeit über die Kirchenfabrik die zentrale Stellung der Pfarrkirche für die mittelalterliche Stadt aufgewiesen und der Forschung damit einen Orientierungsschwerpunkt vorgegeben. Für Zwickau konnte K. kaum an hinreichende Vorarbeiten anknüpfen, da die stadtgeschichtlichen Darstellungen noch weitgehend von der Chronistik dominiert wurden.
Die Darstellung ist klar disponiert, gut lesbar geschrieben und konsequent an den Quellen orientiert; die Aufarbeitung der um­fangreichen Sekundärliteratur lässt wenige Wünsche offen. Als be­sonderer Zug fällt auf, dass K. bei neuen Themen oder Aspekten häufig mit einer Skizze der bisherigen Entwicklung einsetzt (z. B. 67 ff. Patronat). Das ist oft hilfreich, provoziert aber auch die Frage nach der Notwendigkeit, die sich bei der Lektüre des Einleitungskapitels (13–42: Forschungsüberblick und Zielstellung) ebenfalls (z. B. Angaben über Münz- und Währungsverhältnisse) einstellt. Der erste große Teil ist der »Entstehung der kirchlichen Einrichtungen in Zwickau und ihre[r] Entwicklung vom 12. bis zum 16. Jahrhundert«, d. h. von der Ersterwähnung des Gaues Zwickau und der Weihe der Marienkirche 1118 bis zum Ende der Visitation 1533/34, gewidmet (43–181). Auf einen Abriss über die Entwicklung der Stadt nach derzeitigen Erkenntnissen, einschließlich den Ergebnissen der Stadtarchäologie, folgt ein Überblick über die Stiftung der vier Zwickauer Kirchen St. Marien, St. Katharinen, St. Moritz und St. Nikolaus, wobei hervorgehoben wird, dass erst seit 1919 feststeht, die Altpfarrkirche St. Marien befand sich vor den Mauern im Bereich der späteren Moritzkirche. Die neue Marienkirche wurde mit der Stadtgründung nach 1170 der kirchliche Mittelpunkt der Stadt. Erwägungen zur weniger gesicherten kirchenrechtlichen Überlieferung zur zweiten Pfarrkirche St. Katharinen und den beiden weiteren Kirchen schließen sich an. Das Inkorporations- und Patronatsverhältnis der Zwickauer Pfarrkirchen zum Zisterzienserinnenkloster Eisenberg, das sich von 1212–1219 in Zwickau befand, war zwar bekannt, ist aber kaum in seiner Bedeutung bis zur Berufung von Nikolaus Hausmann angemessen be­achtet worden. Dafür schafft nun die ausführliche Darstellung auf der Grundlage der archivalischen Quellen die Voraussetzung. Eine Korrektur erfährt dabei die Auffassung, der Zwickauer Rat habe 1504 vom Kloster das Patronatsrecht erwerben können. Es handelte sich lediglich um den Kauf des Nominationsrechts, wie bei der Berufung Hausmanns erkennbar ist. Erhellend sind auch die anschließenden knappen Kapitel über den Einfluss der römischen Kurie, die Einbindung in die bischöfliche Kirchenorganisation, den Einfluss des Landesherrn und die Beziehungen zu Altenburg und dem Kollegiatsstift St. Georg. Bedingt durch die engen personellen und wirtschaftlichen Beziehungen wird das Verhältnis zum Zisterzienserkloster Grünhain ausführlicher dargestellt. Nach erneut knappen Ausführungen zur Tätigkeit weiterer Orden (u. a. Terminarier) in der Stadt erhält das Wirken der Franziskaner in der Stadt von der Klosterstiftung 1231 als Folge eines Konflikts wegen mangelhafter Seelsorge bis zur Auflösung 1525 eine ausführlichere Darstellung. Die gängige Vorstellung einer überwiegenden Konfliktgeschichte zwischen Stadt und Kloster ist zu relativieren (Beteiligung der Franziskaner an den Fronleichnamsprozessionen und den Ratskapellenmessen, Zulauf zu den Klostermessen). Allerdings ist den Quellen gegen Ende des 15. Jh.s »das Bild einer langsamen Entfremdung der Zwickauer Oberschicht von dem Franziskanerkloster« zu entnehmen, im Gegensatz zum lokalen Adel. Genauer wird die Endphase des Konfliktes der Mönche mit dem Rat und den reformatorischen Theologen dargestellt, wobei aber die präzise Druckdatierung der Flugschrift »Unterricht und Warnung« in der Bibliographie von H. Claus übersehen worden ist (158). Sicher galt der Druck nicht nur der Rechtfertigung vor der Stadtgemeinde (162), sondern auch gegenüber Reformationsgegnern wie Herzog Georg. Kurze Darstellungen zu den Beginen, den Hospitälern und Kapellen beschließen diesen Teil.
Der Hauptteil über die Marienkirche als geistliche Institution im städtischen Kontext (181–495) ist weitgehend nach der archivalischen Überlieferung gearbeitet und bietet mit seiner Orientierung an der neueren Stadtgeschichtsforschung erstmalig einen genaueren Überblick über die Organisation des kirchlichen Lebens der Stadt, konzentriert auf die Hauptpfarrkirche. Die bisher oft nur durch die Chroniken punktuell bekannten Informationen werden nach relevanten Schwerpunkten in 12 Kapiteln übersichtlich geordnet und in ihrer Entstehung, Entwicklung und Bedeutung im Blick auf den städtischen und landesherrlichen Kontext dargestellt: Pfarrdos und Kirchenfabrik (mit 13 Grafiken), Kirchenraum, Kirchenbibliothek, Bedienstete, Prozessionen und geistliche Spiele, Ablässe, Klerusprosopographie, gelehrte Prediger als Handlungsträger, Stiftungen, Bruderschaften, Kirchenpolitik des Rates, Verhältnis zur Schule. Es ist hier nicht möglich, die Fülle der neuen Erkenntnisse zu den Schwerpunktthemen, die noch vielfach genauer aufgegliedert sind, auch nur anzudeuten. Hervorzuheben sind vor allem im Blick auf die Reformation die Ausführungen zu den 15 Predigern, die in der Regel keine Zwickauer waren und einen höheren Bildungsgrad hatten. Zu Egranus und Müntzer hält sich K. an den Forschungsstand, ohne aus den städtischen Quellen neue Erkenntnisse beizubringen. Ergänzt werden die Personalinfor-mationen in einem Anhang durch 232 Biogramme von Zwickauer Klerikern von ca. 1450–1532 (511–570), die mit ihren Quellennachweisen eine Fundgrube zur Zwickauer Stadtgeschichte darstellen, an einigen Stellen aber auch ergänzungsbedürftig sind (z. B. Güttel, Dungersheim, Hausmann, Cyclopius, Meinhard). Nachzutragen wäre, dass der ehemalige Lesemeister der Franziskaner Hieronymus Werner mit Ratsunterstützung 1524 ein Studium in Wittenberg aufnahm (Zorn, 4). Zu korrigieren ist: Anstelle von Veit Sangner (Lesefehler Wappler, Anm. 104: »Veydt« statt »Voydt«) Vogt Sangner (477). Ein zweiter Anhang gibt erstmalig einen quellen- gegründeten vollständigen Überblick über die Benefizien der Zwickauer Kirchen und ihrer Geschichte (571–624). Warum zu den sieben archivalischen Quellenabdrucken im dritten Anhang noch das Gedicht über die Erstürmung des Grünhainer Hofes nach Fabians Druck in reduzierter Form wiedergegeben ist (633 f.), wird nicht ersichtlich. Die üblichen Verzeichnisse, Register und zwei Abbildungen runden die voluminöse Darstellung ab.
In einer knappen »Zusammenfassung der Ergebnisse« werden noch einmal Schwerpunkte der Untersuchung zur Hauptstadt-kirche St. Marien »als Symbol für die Situation des Gemeinwe-sens« (497) hervorgehoben, die reiche Stiftungstätigkeit und die Bildungsfreudigkeit, die besonders bei der Predigerberufung er­kennbar wird, der große Einfluss des Rates, die Prägung der Frömmigkeit durch Prozessionen und Ablässe, die häufig unterschätzte Vielgestaltigkeit der Geistlichkeit, gerade auch gegenüber der re­formatorischen Bewegung, die K. an Wolfgang Zeuner/Zeiner deutlich macht. Sie ist aber wohl noch größer gewesen, als K. an­nimmt (vgl. z. B. das Verhalten des als katholisch bezeichneten Pfarrers Groß oder gar seines Konventors Löhner zu Müntzer). Es fällt auf, wie schwer es bei aller Quellennähe ist, die Darstellung der reformatorischen Frühzeit aus den konfessionellen Deutungskategorien zu lösen. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen traditionellen Begriffen (z. B. »revolutionäre Bruderschaft der Tuchknappen«). Der Überblick zur differenzierten Stiftungstätigkeit vermittelt einen Eindruck von den Möglichkeiten, die individuellen Heilsbedürfnisse in der spätmittelalterlichen Stadt zu berücksichtigen. K. ist sich aber bewusst, dass sie mit ihrer institutionsorientierten und auf die religiösen Aktivitäten konzentrierten Darstellung vor allem »Einblicke in die Frömmigkeit […] der Zwickauer Oberschicht« gibt (504). Die Frage nach der » praxis pietatis breiter, minderbemittelter Schichten« (Enno Bünz in: Ders. u. Gerhard Fouquet: Die Pfarrei im späten Mittelalter. Ostfildern 2013, 424) ist nicht im Blick. Wenn auch eine Quellenerschließung hierzu bislang weithin fehlt, so ist doch an die Erfahrung zu erinnern, dass Recherchen selten völlig erfolglos bleiben, wenn erst einmal die Sensibilität für die Fragestellung vorhanden ist. Für die städtische Elite ist der institutionsorientierte Ansatz ebenfalls zu ergänzen durch eine Berücksichtigung der Äußerungen über Erlebtes und Erfahrungen, über Meinungen und Überzeugungen. Es ist sicher kein Zufall, dass Quellen hierzu kaum herangezogen werden, z. B. der Briefwechsel Stephan Roths, in dem es auch zu dem Kirch-ner und Chronisten Paul Greff mehrere Briefe gibt, wie den vom 5. März 1525, in dem er auf dem Höhepunkt des Franziskanerkonflikts nach Wittenberg schreibt: »Got ist bunderberglich in seinen creaturen vnd verpurgen mit seinen gerichten vns allen zu erschreckung da durch wyr vnser mishandelung sollen in pesserung schtelln« (X., 55).
Für diese notwendigen weiteren Forschungen, zu denen für die Reformationszeit vor allem die bislang fehlenden Arbeiten über Hausmann und die Gottesdienstreform gehören, hat K. mit ihrer profunden Darstellung eine solide Voraussetzung geschaffen, die nicht nur für die Beschäftigung mit der Geschichte Zwickaus unverzichtbar ist.