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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1154–1156

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Deines, Roland

Titel/Untertitel:

Acts of God in History. Studies Towards Recov­ering a Theological Historiography. Ed. by Ch. Ochs and P. Watts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XXIII, 502 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 317. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-152181-2.

Rezensent:

Marius Reiser

Das indische Denken, sagen Indologen, hat einen starken Hang zum Abstrahieren und Theoretisieren und ist im Wesentlichen ahistorisch. Von Rudolf Bultmanns neutestamentlicher Theologie lässt sich Ähnliches behaupten. Liebhaber des narrative criticism blenden die historische Dimension der biblischen Texte einfach aus. Schon lange hat die liberale Exegese ihre liebe Not mit der Historie. Roland Deines charakterisiert die Situation ganz richtig: »It seems that a majority of New Testament scholars insist on the notion of ›historical‹ as strictly a-theological and therefore a-theis-tic, very much in line with the classical definition of the historical methodology within the theology of Ernst Troeltsch (1865–1923).« (389) Solange man Dogmatik betreibt, ist man Theologe, sobald es ans Historische geht, wird man Deist oder Atheist. Der in Nottingham lehrende Vf. hat ganz Recht, wenn er diese Situation als widersinnig betrachtet und für eine theologische Geschichtsdeutung plädiert, die Gott als handelndes Subjekt der Geschichte begreift, wie es auch die biblischen Texte tun. Dieses Plädoyer ist der rote Faden in den Beiträgen, die hier gesammelt sind.
Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag über die Rolle Gottes in der Geschichte als methodologisches Problem der Exegese (1–26). Er geht auf Troeltsch, Hengel und Ratzinger ein, die dann in den Beiträgen des letzten Teils wiederkehren. Es folgt eine Reihe von Studien aus dem judaistischen Gebiet, für das der Vf. längst als Kenner ausgewiesen ist. Er behandelt das soziale Profil der Pharisäer (29–52) und kommt zum Schluss, dass die Pharisäer keine Sekte mit strenger Abgrenzung nach außen waren, sondern eine offene Frömmigkeitsbewegung im Rahmen eines pluralistischen Frühjudentums. Im nächsten Beitrag geht er von der beliebten Rede vom »Galiläer« Jesus aus und zeigt gegen Geza Vermes und andere, dass das historische Galiläa nach Ausweis der literarischen und archäologischen Quellen in den religiösen Hauptfragen kein eigenes Profil gegenüber Judäa hatte. Der Vf. sieht die Gefahr, dass sich jeder Forscher sein eigenes Bild von Galiläa zurechtmacht, in das er dann seinen Jesus hineinprojizieren kann (92). Daran schließt sich ein Beitrag über Jesus und die jüdischen Traditionen seiner Zeit an (95–120). Man hat in der Forschung Jesus zu allen denkbaren Strömungen und Bewegungen in Beziehung gesetzt: zu Prophetie, Eschatologie, Weisheitstraditionen, Halacha, Merkavah-Mystik, Rollen von Qumran, Pharisäer, Essener, Zeloten, jüdischen Charismatikern. Man fand zahlreiche Berührungen, kam aber auch immer wieder zu dem Ergebnis: Irgendwie ist Jesus doch einzigartig. Die wichtigste jüdische Autorität blieb bei all diesen Untersuchungen unterbelichtet: die Heilige Schrift. Wie sah der Zugang Jesu zu ihr aus? Es folgt ein sehr gründlicher Beitrag über das Aposteldekret von Apg 15 (121–188). Der Vf. deutet es als Zugeständnis an die ethnischen Verbindlichkeiten der Judenchristen, die in einer Gemeinde mit Heidenchristen zusammenleben; ihnen sollte der Kontakt mit Mitgliedern der Synagogengemeinden ermöglicht werden (169–171). Es folgen Beiträge über die Hoffnungen auf eine Erneuerung, die mit dem Bar Kochba-Aufstand verbunden wurden (191–225), und Aspekte der Bekehrung und Umkehr zu Gott im Alten und Neuen Testament (227–261). Sehr aufschlussreich ist auch der Beitrag über den Begriff und das Konzept einer Heiligen Schrift, der die unterschiedlichen Lösungen (etwa im Umgang mit den Apokryphen) thematisiert und vor allem die englischsprachige Tradition berücksichtigt (263–308).
Die drei Beiträge des letzten Teils bilden das eigentliche Herzstück des Bandes. Der erste packt das heute unbeliebte Thema der Heilsgeschichte an und versucht, die theologische Notwendigkeit dieser Kategorie aufzuzeigen (311–350). Diese Auffassung könnte noch unterstützt werden durch einen Blick auf das Schicksal der Geschichtsphilosophie, der ihr Gegenstand entglitten ist. Ge­schichte ist immer Deutung und stellt einen Zusammenhang her, der in den Ereignissen selbst nur fragmentarisch liegt. Genaugenommen ist jede Geschichtsschreibung Theologie, ob bewusst oder unbewusst. Im letzten Beitrag behandelt der Vf. Präexistenz, Inkarnation und messianisches Selbstverständnis Jesu im Werk Martin Hengels, aufgrund einer genauen Kenntnis der Werke seines Lehrers (407–445).
Der ungewöhnlichste Beitrag steht zwischen den beiden ge­nannten und umfasst über 50 Seiten. Er behandelt die Frage, ob der ›wirkliche‹ Jesus tatsächlich mit dem ›historischen‹ identifiziert werden kann, wie Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) meint. Dieser Frage liegt eine grundsätzlichere voraus: »Kann Gott in dieser Welt wirken? Wird Gott in dieser Welt real gegenwärtig oder nicht?« (Benedikt XVI. in: Gespräch über Jesus, hrsg. von Peter Kuhn, 61). Der Vf. zitiert zustimmend aus dem zweiten Band von Ratzingers Jesusbuch: »Wenn die Geschichtlichkeit der wesentlichen Worte und Ereignisse wirklich wissenschaftlich als unmöglich erwiesen werden könnte, hätte der Glaube seinen Boden verloren« (372, dt. Ausgabe: 123). Er zeigt in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Reaktionen auf diese These eines Dogmatikers, welche Probleme sie aufwirft. Können wir die Inkarnation und die Auferstehung Jesu als historische Ereignisse begreifen? Er teilt die unzähligen Besprechungen des päpstlichen Jesusbuchs in vier Gruppen ein: Zustimmung und Ablehnung signalisierende Stimmen, beide in geringer Zahl. Dann enttäuschte Leser, die mit der Grundfrage des Papstes nichts anzufangen wissen und sich etwas ganz anderes gewünscht hätten. Und schließlich die größte Gruppe, die zwischen einem ›Ja, aber …‹ und einem ›Nein, vielmehr …‹ schwankt. Die meisten von ihnen verteidigen das bereits zitierte Verständnis eines »rein« historischen Arbeitens, das faktisch ein historisches Arbeiten unter atheologischen und deshalb atheistischen Voraussetzungen meint.
Hier tut sich der eigentliche Graben auf, der die Christenheit unabhängig von den Konfessionen mehr und mehr zerreißt. Ist das Christentum, zu dem sich solche Forscher bekennen, noch dasselbe wie jenes, das Joseph Ratzinger und der Vf. verteidigen? Führen wir nicht eine neue Gnosis ein, wenn wir im Credo außer dem crucifixus sub Pontio Pilato nichts mehr als historische Wirklichkeit anerkennen? Hat Gott jemals an der Welt gehandelt? Können wir als Christen eine Welt ohne »transempirische Realitäten«, wie der Vf. im Anschluss an seinen Kollegen Anthony C. Thiselton gern sagt, ohne Transzendenz, ohne Metaphysik konstruieren? Wenn Ereignisse überhaupt erst durch Interpretation zu historischen Ereignissen werden (vgl. B. Lonergan, Method in Theology), was ist dann ein »rein« historisches Arbeiten? Das sind gewichtige Fragen, die mit diesem Buch aufgeworfen werden. Zu allen behandelten Gegenständen gibt es zahlreiche interessante Hinweise und oft lange Anmerkungen. Nur in einem wesentlichen Punkt ist der Rezensent anderer Meinung: Martin Kähler hat keine Flucht vor der Historie ergriffen (112) und keine resignierte Trennung des geschichtlichen Jesus vom Christus des Glaubens vorgenommen (374, Anm. 50). Kähler sagt selbst, dass er diese beiden »nicht zu scheiden oder auch nur zu unterscheiden« vermag (Der sogenannte historische Jesus, hrsg. v. E. Wolf 1956, 100). Er war m. E. in der Hauptsache derselben Auffassung wie der emeritierte Papst und der Vf. Das ist ein schönes Zeichen ökumenischer Verbundenheit.